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»Stimmt«, gab Aristoteles zu und dachte dabei an den mächtigen Körperbau seines Fuhrmanns. »Aber wie erklärst du dir dann seine Tat? Wenn er tatsächlich der anständige junge Mann war, als den du ihn hinstellst, wie kommt er dann dazu, seinen König zu ermorden?« »Das weiß ich nicht, aber wenn er es wirklich gewollt hätte, glaubst du nicht, es hätte bessere Gelegenheiten gegeben? Pau-sanias war Philipps Leibwächter, er hätte ihn im Schlaf, in seinem eigenen Bett umbringen können!«
»Ja, das habe ich mir auch immer gedacht. Aber ich fürchte, so kommen wir nicht weiter. Kennst du niemand anderen, der noch etwas wissen könnte? Es heißt, Pausanias habe Mittäter gehabt, oder mindestens Helfer - bei dem Eichenwäldchen, in dem wir uns vorher getroffen haben, warteten bekanntlich Männer mit einem Pferd auf ihn .. .«
»Es heißt auch, einer von ihnen sei erkannt worden«, sagte das Mädchen, wobei sie Aristoteles plötzlich eindringlich ansah.
»Und wo finde ich diesen Mann?«
»In einem Gasthof in Beroea, an den Ufern des Haliakmon; er läßt sich Nikandros nennen, aber das ist ein falscher Name.«
»Und wie lautet der richtige?« fragte Aristoteles.
»Ich weiß es nicht. Wenn ich es wüßte, wüßte ich vielleicht auch, warum Pausanias diese schreckliche Tat begangen hat und mir so jäh entrissen wurde.«
Aristoteles griff nach dem Krug auf dem Feuer und schickte sich an, der jungen Frau noch einmal Tee nachzuschenken, aber sie wehrte ab und stand auf.
»Ich muß gehen, sonst kommt mich noch jemand suchen.« »Wie kann ich dir danken für alles, was du . . .« »Finde den wahren Schuldigen«, unterbrach ihn das Mädchen, »und laß mich wissen, wer es war.«
Mit diesen Worten ging sie zur Tür hinaus und verschwand in den menschenleeren Gassen der schlafenden Stadt.
»Warte!« rief Aristoteles ihr nach. »Du hast mir deinen Namen ja gar nicht gesagt!« Aber das dichte Schneegestöber hatte die junge Frau bereits seinen Blicken entzogen.
40 der Regent Antipatros empfing ihn im alten Thronsaal von Aigai. Er war mit einer thrakischen Filzhose bekleidet und eingemummt in einen Umhang aus grober Wolle. In der Mitte des Raumes brannte ein großes Feuer, dessen Rauch durch ein Abzugsloch in der Decke entschwand - mit ihm leider auch ein Gutteil der Wärme.
»Wie geht es dir, General?« fragte Aristoteles.
»Gut, solange ich nicht in Pella bin. Ich kriege Magenschmerzen schon allein, wenn ich an die Königin denke. Und dir, Meister, wie geht es dir?«
»Auch gut, obwohl sich das Alter langsam bemerkbar macht. Und die Winterkälte habe ich noch nie gut ertragen.«
»Was hat dich nach Aigai geführt?«
»Ich wollte auf dem Grab des Königs ein Opfer bringen, bevor ich nach Athen zurückkehre.«
»Das macht dir Ehre, ist aber sehr gefährlich. Und wenn du wie neulich noch die Leibwächter wegschickst, die ich dir zur Seite stelle, weiß ich wirklich nicht, wie ich dich beschützen soll. Paß auf, Aristoteles: Die Königin ist eine Viper.«
»Mein Verhältnis zu Olympias war immer gut.«
»Das reicht nicht«, erwiderte Antipatros, in dem er aufstand und die kalten Hände übers Feuer hielt. »Ich schwöre dir, das reicht nicht.« Er griff nach einem Silberkrug, der auf dem Absatz der Feuerstelle stand, und füllte damit zwei wertvolle attische Keramikbecher. »Etwas heißen Wein?«
Aristoteles nickte.
»Was für Neuigkeiten gibt es von Alexander?« fragte er.
»Parmenions letztem Schreiben nach müßte er derzeit durch Lykien ziehen.«
»Dann läuft also alles wie geschmiert.«
»Nein, leider nicht.«
»Warum? Wie meinst du das?«
»Alexander wartet auf Verstärkung«, sagte Antipatros. »Die jungen Männer, die auf Heimaturlaub waren, befinden sich zusammen mit einigen neu ausgehobenen Truppenkontingenten auf der Rückreise zu ihm, aber sie können die Meerengen nicht überqueren - Memnon hat sie blockiert. Wenn meine Berechnungen stimmen, müßte Alexander irgendwo bei Sagalassos oder Kelainai sein; er macht sich bestimmt große Sorgen, was aus seinen Leuten geworden ist.«
»Und es gibt keinen Weg, sie doch noch irgendwie durch die Meerengen zu schleusen?«
»Nein, Memnons Überlegenheit auf See ist erdrückend; meine Flotte brauchte nur auszulaufen - er würde sie versenken, noch bevor sie auf dem offenen Meer ist. Wir sind in der Klemme, Aristoteles. Meine einzige Hoffnung ist, daß Memnon einen Einfall nach Makedonien versucht: In diesem Falle könnte ich ihn vielleicht festnageln. Aber ich fürchte, dieser Mensch ist viel zu schlau, um sich auf ein so aussichtsloses Wagnis einzulassen.«
»Was willst du dann gegen ihn unternehmen?«
»Im Moment gar nichts. Ich warte, daß er den ersten Schritt tut - ewig kann er ja nicht vor Anker liegenbleiben. Und du, Meister? Bist du wirklich nur hierhergekommen, um auf König Philipps Altar zu opfern? Wenn du mir deine Pläne nicht verrätst, ist es schwierig für mich, dich zu beschützen.«
»Ich wollte eine bestimmte Person treffen.« »Hat das etwas mit dem Tod des Königs zu tun?«
»Ja.«
Antipatros nickte, als hätte er diese Antwort schon erwartet.
»Bleibst du länger?«
»Nein. Ich breche morgen wieder auf. Ich will nach Athen zurück - mit dem Schiff, wenn ich in Methone noch eins finde, und ansonsten auf dem Landweg.«
»Wie ist die Stimmung in Athen?«
»Gut, solange Alexander siegt.«
»Tja . . .«, seufzte Antipatros.
»Tja . . .«, erwiderte Aristoteles.
Alexander quartierte sich und sein Heer in Kelainai ein, das nicht weit von der Quelle des Mäander entfernt lag und Residenzstadt des Satrapen von Phrygien war. Er stieß auf keinerlei Widerstand, denn die persischen Soldaten hatten sich in einer Festung auf dem höchsten Punkt der Stadt verschanzt, einer Felsklippe nämlich, die schroff über einem kleinen See mit kristallklarem Wasser aufragte; der See wurde von einem Nebenfluß des Mäander, dem Marsyas, gespeist. Wie viele persische Krieger dort oben waren, wußte niemand zu sagen, aber viele konnten es nicht sein, denn sonst hätten sie ihre Stadtmauer verteidigt, so brüchig diese an einigen Stellen auch war.
Lysimachos machte einen Rundgang um den Festungsfelsen, um sich ein genaues Bild von der Lage zu verschaffen, und kehrte schlechtgelaunt zurück. »Die Festung ist uneinnehmbar«, berichtete er. »Den einzigen Zugang bildet im Osten ein kleines Tor auf halber Höhe, aber die Treppe dort hinauf ist so schmal, daß keine zwei Männer nebeneinander passen; außerdem wird das Tor von zwei Wachtürmen flankiert. Wir können nur belagern und hoffen, daß die dort oben nicht allzu viele Lebensmit-tel angehäuft haben. Wasser gibt es leider im Überfluß; sie haben bestimmt einen Brunnen, der mit dem See verbunden ist.«
»Und wenn wir sie einfach fragen, was sie vorhaben?« schlug Leonnatos vor.
»Spar dir deine Witze für einen besseren Augenblick«, gab
Lysimachos ärgerlich zurück. »Wir haben keine Ahnung, wo Parmenion steckt und in welcher Verfassung seine Truppe ist -wenn wir hier viel Zeit mit einer Belagerung verschwenden, treffen wir sie vielleicht nie.«
Alexander blickte zur Mauer der mächtigen Festung hinauf. Die persischen Soldaten machten keinen sehr kriegerischen Eindruck, sie schienen eher neugierig als erschrocken. Einer neben dem andern standen sie an der Mauer, die Ellbogen auf die Brüstung gestützt, und schauten herunter.
»Vielleicht ist Leonnatos' Idee gar nicht so übel«, meinte er und wandte sich dann an Eumenes: »Stell eine kleine Gesandtschaft mit Dolmetscher zusammen und nähere dich so weit wie möglich dem Tor dort oben. Die Perser wissen bestimmt, daß wir uns bisher von nichts haben aufhalten lassen, auch wenn sie unsere genauen Absichten im Moment nicht kennen. Wer weiß, vielleicht sind sie ja gar nicht so erpicht darauf, uns die Stirn zu bieten.«
»Eben«, sagte Leonnatos, stolz, weil der König seinen Vorschlag aufgegriffen hatte. »Wären sie darauf erpicht, dann hätten sie uns auf dem Weg von Termessos hierher schon hundertmal angreifen können.«
»Verlieren wir uns jetzt nicht in Mutmaßungen«, erwiderte der König trocken. »Laßt uns abwarten, was Eumenes uns berichtet. Dann sehen wir klarer.«
»Ich würde mir inzwischen gern ein bißchen die Stadt ansehen, wenn mich jemand begleitet«, warf Kallisthenes ein. »Es heißt, auf der andern Seite des Sees befände sich die Grotte, in der Apollon dem Satyrn Marsyas bei lebendigem Leibe die Haut abgezogen hat. Ihr wißt ja, daß Marsyas den Gott zu einem musikalischen Wettstreit herausgefordert und natürlich verloren hatte.«