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Eumenes stellte unterdessen seine Abordnung einschließlich eines Herolds und eines Übersetzers zusammen, näherte sich dem Festungstor am Ende der schmalen Treppe und bat um eine Unterredung mit dem Kommandanten der Garnison.
Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten; schon öffnete sich mit leisem Quietschen das Tor, und heraus trat der Garnisonsvorsteher mit einem kleinen Trupp Geleitschutz. Eu-menes sah sofort, daß er kein Perser, sondern ein Phrygier war, vermutlich sogar aus Kelainai; der persische Satrap mußte beizeiten das Weite gesucht haben.
Eumenes begrüßte den Mann und ließ ihm von dem Dolmetscher Alexanders Botschaft übersetzen: »König Alexander läßt dir folgendes ausrichten: Wenn du dich ergibst, soll weder dir noch deinen Männern etwas geschehen, und auch die Stadt würden wir verschonen. Wenn du uns dagegen Widerstand leistest, belagern wir die Festung und lassen keinen von euch lebend heraus. Was soll ich also meinem König als Antwort überbringen?«
Der Kommandant mußte seine Entscheidung längst gefällt haben, denn er zögerte keinen Moment: »Sag deinem König, daß wir im Augenblick nicht vorhaben, uns zu ergeben. Wir warten zwei Tage ab, und erst wenn wir bis dahin keine Verstärkung von unserem Gouverneur erhalten haben, ergeben wir uns.«
Soviel Offenheit und Naivität hatte Eumenes wahrhaftig nicht erwartet; er starrte den Mann verwundert an, verabschiedete sich herzlich von ihm und kehrte zurück.
»Das ist ja absurd!« schrie Lysimachos. »Wenn mir das ein anderer erzählt hätte, hätte ich es nicht geglaubt.«
»Warum?« entgegnete Eumenes. »Mir scheint das eine sehr vernünftige Entscheidung. Der Mann hat sich folgendes ausgerechnet: Wenn der persische Gouverneur uns angreift und besiegt, muß er Rechenschaft dafür ablegen, daß er sich kampflos ergeben hat - vermutlich würde er dafür gepfählt werden. Läßt sich der Gouverneur aber innerhalb von zwei Tagen nicht blicken, dann kommt er überhaupt nicht mehr, und in diesem Fall wäre es tatsächlich das Klügste, sich zu ergeben.«
»Besser so«, meinte Alexander. »Unsere Truppenanführer sollen sich in der Stadt einquartieren und die nötigen Unterkünfte dafür beschlagnahmen. Die Offiziere niedrigeren Ranges bleiben bei den Soldaten im Lager. Stellt rings um die Zitadelle ein Bataillon Pezetairoi auf und ebenso am Fuß der Klippe - es darf keiner lebend raus oder rein. Außerdem will ich auf sämtlichen Zugangsstraßen zur Stadt eine leichte Kavallerieschwadron aus Thrakern und Thessalern, um keine bösen Überraschungen zu erleben. Und dann wollen wir mal sehen, ob diese Geschichte mit den zwei Tagen ernst gemeint oder ein Scherz war. Ich erwarte euch alle zum Abendessen - ihr wißt ja, daß ich im Palast des Gouverneurs Quartier bezogen habe, ein schönes, prächtig ausgestattetes Haus. Ich denke, daß wir dort einen sehr angenehmen Abend verbringen werden.«
Zur festgelegten Stunde fand sich auch Kallisthenes ein, der gerade von seinem Rundgang durch die Stadt zurückkehrte. Ein Diener brachte ihm alles Nötige für die üblichen Waschungen und begleitete ihn dann zu einer der Liegen, die im Halbkreis um Alexanders Kline aufgestellt waren. Der König hatte für diesen Abend auch den von ihm so geschätzten Schauspieler Thessalos eingeladen sowie den Seher Aristandros und seinen Leibarzt Philipp.
»Also, was hast du Interessantes gesehen?« fragte er Kallis-thenes, während die Köche das Abendessen aufzutragen begannen.
»Es ist genau so, wie ich es mir vorgestellt habe«, erwiderte der Geschichtsschreiber. »In der Quellgrotte des Marsyas wird eine Haut gezeigt, von der man behauptet, sie gehöre dem von A-pollon enthäuteten Satyrn. Ich hab euch die Geschichte ja vorher schon in Erinnerung gerufen: Der Satyr Marsyas fordert den Gott Apollon zu einem musikalischen Wettstreit heraus. Apollon geht darauf ein unter der Bedingung, daß Marsyas sich bei lebendigem Leibe von ihm die Haut abziehen läßt, wenn er verliert. Und genau so kommt es, auch weil es sich bei den Schiedsrichterinnen um die neun Musen handelt, die ja schlecht zu Ungunsten ihres Gottes entscheiden können.«
»Also, wenn ihr mich fragt: Ich glaube nicht, daß in dieser Grotte tatsächlich die Haut eines Satyrn hängt«, meinte Ptole-maios mit einem mitleidigen Grinsen.
»Es scheint aber so«, entgegnete Kallisthenes. »Der obere Teil sieht aus wie mumifizierte menschliche Haut, und der untere Teil muß von einem Ziegenbock stammen.«
»So etwas ist ganz leicht herzustellen«, erklärte der Arzt Phil-ipp. »Ein guter Chirurg kann ausschneiden und zusammennähen, was er will. Es gibt Einbalsamierer, die bringen die unglaublichsten Phantasiewesen zustande. Aristoteles hat mir erzählt, daß er in einem Tempel auf dem Berg Pelion in Thessalien einmal einen einbalsamierten Zentauren gesehen hat, aber er versicherte mir, daß es sich dabei eindeutig um den Torso einen Mannes gehandelt hatte, der an das Hinterteil eines Fohlens genäht worden war.«
»Und du, Aristandros, was sagst du zu dieser Geschichte?« fragte Alexander den Seher. »Hat Kallisthenes tatsächlich die Haut eines Satyrn gesehen oder eher eine Erfindung schlauer Priester, die Pilger anziehen und Spenden für ihren Tempel eintreiben wollen?«
Viele der Versammelten begannen zu lachen, aber der Seher brauchte nur einen einzigen brennenden Blick in die Runde zu werfen, und schon war selbst der stärkste und selbstsicherste Mann unter ihnen verstummt.
»Jetzt habt ihr leicht lachen«, sagte er, »aber ich denke, daß euch das Lachen verginge, wenn ihr den tieferen Sinn dieser Art von Reliquien verstehen würdet. Gibt es einen unter euch tapferen Kriegern, der es je gewagt hat, die Regionen jenseits unserer Wahrnehmung zu erforschen? Gibt es einen unter euch, der den Mut hätte, mich auf einer Reise ins Reich der Schatten zu begleiten? Auf dem Schlachtfeld seht ihr wohl dem Tod ins Auge, aber würdet ihr auch dem gänzlich Unbekannten ins Auge sehen wollen? Wärt ihr in der Lage, die gleichermaßen ungreifbaren und unverwundbaren Monster zu bekämpfen, die unsere innerste Natur vor uns selbst verbirgt und unserem Bewußtsein entzieht?
Habt ihr je den Wunsch verspürt, euren Vater zu töten und eurer Mutter oder Schwester beizuschlafen? Was erblickt ihr, wenn ihr im Rausch in euch hineinschaut oder während ihr eine unschuldige Frau vergewaltigt und euch an ihrer Qual ergötzt? Das ist die Natur des Satyrn oder des Kentauren, der uralten Bestie mit dem gespaltenen Huf und dem Schwanz - sie lebt in uns allen und kann jeden Moment hervorbrechen und uns zum Tier machen! Lacht über sie, wenn ihr könnt!«
»Keiner wollte sich über die Religion oder die Götter lustig machen, Aristandros«, beschwichtigte Alexander den Seher. »Wir haben nur über die Unverschämtheit gewisser Betrüger gelacht, die sich die Leichtgläubigkeit des einfachen Volks zunutze machen. Kommt, laßt uns jetzt trinken und fröhlich sein! Wir werden noch einiges durchmachen müssen, bis wir unser Schicksal erkennen.«
Alles wandte sich erneut dem Essen und Trinken zu, und schon bald waren wieder angeregte Unterhaltungen im Gange, aber der Blick und die Worte Aristandros' gruben sich einem jeden tief ins Gedächtnis ein.
Der König dachte daran zurück, wie er ihm zum erstenmal begegnet war, und der Seher ihm von dem Alptraum erzählt hatte, der ihn jede Nacht plagte: der Traum von einem nackten Mann, der bei lebendigem Leibe verbrannt wird. Und inmitten des allgemeinen Stimmengewirrs suchte er einen Moment lang Aristandros' Augen, um darin den wahren Grund dafür zu lesen, weshalb er ihm ins Herz Asiens folgte. Aber die Augen waren trüb und abwesend, und der Seher war weit, weit weg.
41 der Kommandant der Burg von Kelainai ließ die angekündigte Frist von zwei Tagen verstreichen, dann ergab er sich, und gleichzeitig wanderte der Schatz des persischen Gouverneurs zu einem guten Teil in makedonische Kassen. Alexander ließ den Mann auf seinem Posten und stellte ihm ein paar Offiziere und ein kleines Kontingent Soldaten zur Seite, um die Festung besetzt zu halten. Dann nahm er den Marsch in Richtung Norden wieder auf.
Die Überquerung der schneebedeckten anatolischen Hochebene nahm vier Tage in Anspruch, am fünften erreichte Alexander Gordion, wo Parmenion ihn bereits erwartete. Der General hatte auf den Hügeln rings um die alte phrygische Stadt Wächter aufgestellt und war benachrichtigt worden, kaum daß auf der blendend weißen Ebene die rote Fahne mit dem goldenen Argeadenstern erschienen war.
Er zog Alexander mit einer von seinem Sohn Philotas angeführten Ehrengarde entgegen. Als er nicht mehr weit vom König entfernt war, ließ er das Geleit stillstehen und schritt alleine weiter, sein Pferd am Zügel mit sich führend.
Auch der König stieg ab und ging zu Fuß auf ihn zu, während das Heer die glückliche Wiedervereinigung mit lautem Salut-und Freudengeschrei feierte.
Parmenion umarmte Alexander und küßte ihn auf beide Wangen. »Du kannst dir nicht vorstellen, Herr, wie froh ich bin, dich endlich wiederzusehen. Ich war sehr besorgt, denn wir können uns das Verhalten der Perser nicht erklären.«
»Auch ich freue mich sehr, dich wiederzusehen, General. Wie geht es deinem Sohn Philotas? Und deinen Männern?«
»Es geht allen bestens, Herr, und natürlich haben sie zu deinem Empfang ein großes Fest bereitet. Ich denke, ihr werdet euch sehr gut vergnügen.« Die beiden unterhielten sich im Gehen, und Bukephalos stieß seinen Herrn immer wieder mit dem Kiefer an, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Das gesamte Heer zog hinter ihnen her, wobei die Reiterei aufgrund der enormen Ausdehnung der Hochebene in einer breiten, nur drei Reihen tiefen Front vorrückte. Die Szene war unglaublich beeindruckend: zwei Männer, die inmitten einer riesigen öden Fläche gemütlich dahinspazierten, gefolgt von einem gewaltigen Aufgebot an Soldaten und dem Dröhnen Zehntausender von Pferdehufen.
»Ist unsere Verstärkung eingetroffen?« fragte der König.
»Leider nein.«
»Weißt du wenigstens, ob sie im Kommen sind?«
»Nein, sind sie nicht.«
Alexander ging eine Weile schweigend weiter, denn das Thema, das er nun anschneiden wollte, war ihm sehr unangenehm und Parmenion schwieg ebenfalls, um ihn nicht in Verlegenheit zu bringen.
»Wo ist eigentlich er?« Die Frage war scheinbar in völlig beiläufigem Ton gestellt.
»Als Sisines mit deiner mündlichen Botschaft zurückkam, habe ich deinen Befehl sofort ausgeführt. Amyntas steht unter Arrest, und ich habe einstweilen Philotas mit der Führung der thessalischen Reiterei betraut.«
»Wie hat er es aufgenommen?«
»Schlecht, aber das war ja zu erwarten.«
»Offen gestanden, ich glaube nicht recht an diese Geschichte.
Mein Vetter war mir immer treu ergeben, und er hat mehr als einmal sein Leben für mich riskiert.«
Parmenion schüttelte den Kopf. »Die Macht verdirbt.. . viele Menschen«, sagte er und dachte insgeheim: alle. »Obwohl wir natürlich keinen Beweis dafür haben, daß er das persische Angebot tatsächlich angenommen hätte.«
»Was ist mit dem persischen Boten, bei dem man den Brief gefunden hat?«
»Ich habe ihn gefangengenommen. Später zeige ich dir den Brief. . .«
»Ist er auf griechisch oder auf persisch verfaßt?«
»Griechisch, aber das darf uns nicht wundern. Der Großkönig hat viele Griechen, ja sogar Athener an seinem Hof - da dürfte es kein Problem sein, sich einen Brief auf griechisch aufsetzen zu lassen.«
»Und die versprochene Geldsumme?«
»Von der haben wir bislang keine Spur.«
Mittlerweile war das makedonische Lager in Sicht gekommen, das Parmenion hatte errichten lassen. Es bestand vorwiegend aus Zelten, aber auch aus kleinen Holzhütten - ein Zeichen, daß das Heer schon seit längerer Zeit hier verweilte.
In diesem Moment erschallten mehrere Trompetenstöße, und da rückte auch schon das versammelte Kontingent in Schlachtaufstellung heran, um seinem König die Ehre zu erweisen.
Alexander und Parmenion stiegen wieder auf ihre Pferde und ritten die Truppen ab; die Soldaten schlugen mit ihren Schwertern dröhnend gegen die Schilde und schrien im Chor:
»Alexandre! Alexandre! Alexandre!«