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»Was ist los?« fragte Alexander. »Was haben sie geantwortet?«
»Komm raus und sieh es dir selbst an«, erwiderte Ptolemaios, indem er ihn vors Zelt zog und auf die Türme von Tyros deutete, die so hoch waren, daß sie die Stadtmauer überragten: An fünf
Kreuzen hingen dort die nackten, blutüberströmten Körper seiner Gesandten. Leonidas war an seiner Glatze und an seiner knochigen Gestalt sofort zu erkennen.
»Gefoltert und ans Kreuz geschlagen«, sagte Ptolemaios leise.
Alexander war wie gelähmt von dem Anblick. Und während sich am Himmel schwarze Gewitterwolken zusammenzogen, verfinsterte sich sein Blick immer mehr; sein linkes Auge war bald schwarz wie die Nacht.
Dann stieß er plötzlich einen Schrei aus, einen unmenschlichen, tierischen Schrei, der aus dem tiefsten Grund seiner Seele kam. Es war, als explodierten in seinem Innern zugleich Philipps Jähzorn und Olympias' barbarische Grausamkeit; er fühlte, wie blinde Zerstörungswut von ihm Besitz ergriff, doch er hatte sich sofort wieder unter Kontrolle und zwang sich zur Ruhe - aber es war die unheimliche Ruhe vor dem Sturm.
»Hephaistion, Ptolemaios!« rief er und dann: »Meine Waffen!« Mehrere Feldadjutanten waren augenblicklich zur Stelle und halfen ihm, seine prächtigste Rüstung anzulegen, während ein anderer das königliche Banner mit dem Argeadenstern brachte.
»Trompeten!« befahl Alexander. »Gebt allen Türmen das Signal zum Angriff!«
Kurz darauf ertönte lautes Trompetengeschmetter, und schon hallte die ganze Bucht vom Dröhnen der Rammböcke wider und vom Pfeifen der Geschosse, die Katapulte und Geschütze durch die Luft schleuderten.
»Nearchos!« schrie der König.
»Zu Befehl!« antwortete sein Admiral.
Alexander deutete auf einen der Belagerungstürme, und zwar den, der am nächsten an der Mauer stand. »Bring mich auf die Plattform dort rüber, laß unsere gesamte Flotte auslaufen, dringe in die Häfen der Insel ein und versenke jedes Schiff, das dir in die Quere kommt.«
Nearchos warf einen Blick zum Himmel, der immer schwärzer wurde, aber er gehorchte und ließ sich zusammen mit dem König und dessen Gefährten auf den Admiralsfünfdecker schaffen. Von dort gab er augenblicklich Kommando, die Segel zu streichen und alle Schiffe zu entmasten, dann hißte er das makedonische Banner und ließ die Anker lichten. Von allen hundert Schiffen der Flotte ertönte gleichzeitig das Dröhnen der Trommeln, die den Rudertakt angaben, und sogleich peitschten Tausende von Ruder das Meer auf, so daß es förmlich brodelte.
Das Admiralsschiff erreichte die Plattform unter einem Hagel von Geschossen. Alexander und seine Gefährten sprangen über die Brüstung, schlüpften in den Turm und rannten durch dichte Staubwolken hindurch die Treppen hinauf, begleitet vom ohrenbetäubenden Lärm der arbeitenden Rammböcke und vom rhythmischen Geschrei der Männer, die sie bedienten.
Just als er auf der Spitze des Turms erschien, zuckte ein greller Blitz über den pechschwarzen Himmel und beleuchtete die gespenstische Blässe der Gekreuzigten, Alexanders goldene Rüstung und sein zinnoberrotes Banner.
Eine Zugbrücke wurde auf die Mauer herabgelassen, und der König raste regelrecht in den Kampf, umringt von seinen Gefährten: Leonnatos mit kreisender Streitaxt, Hephaistion mit gezücktem Schwert, Perdikkas mit erhobener Lanze sowie Pto-lemaios und Krateros in ihren glänzenden Eisenrüstungen. Alexander, der mit seinem goldstrahlenden Panzer, den weißen Federn auf dem Helm und der rotgoldenen Fahne natürlich von weitem zu erkennen war, wurde augenblicklich zur Hauptzielscheibe der tyrischen Bogenschützen und aller anderen Vertei-diger der Stadt. Einer der Angreifer, ein Mann aus Lynkestis namens Admetos, stürzte allen voraus, um dem König seine Tapferkeit zu beweisen, aber er wurde sofort umgemäht. Alexander stürmte nach vorn, indem er sein Schwert kreisen ließ wie die Flügel einer Windmühle und die Feinde mit seinem Schild beiseite drückte; Leonnatos schlug mit seiner Streitaxt um sich und deckte ihm die rechte Flanke.
Auf dem Mauerabsatz angelangt, warf Alexander einen Angreifer über die Brustwehr, spaltete einem anderen den Schädel und schleuderte einen dritten über die Mauerbrüstung auf die Dächer der darunterliegenden Häuser, während Perdikkas gleich mehrere mit seiner Lanze durchbohrte, wie harpunierte Fische in die Höhe hob und auf seine Gegner warf. Die nachrückenden makedonischen Soldaten überschwemmten die Mauer wie ein Strom bei Hochwasser, der König brüllte laut und immer lauter, und sein Zorn steigerte sich noch mit jedem Blitz und jedem Donnerschlag, die Himmel und Erde in ein einziges Inferno verwandelten. Unaufhaltsam drang er vor und begann jetzt gar zu rennen, mitten durch den dichten Pfeilhagel der Katapulte hindurch auf das Kreuz zu, an dem Leonidas hing. Die Verteidiger der Mauer drängten sich zusammen, um ihn nicht durchzulassen, aber er hieb sie alle wie Strohpuppen um, während Leonnatos mit seiner Streitaxt blind in den Haufen schlug, Funkenregen auf Schilden und Helmen auslöste, Schwerter und Lanzen zertrümmerte.
Endlich war der König bei dem Kreuz, neben dem auch ein Katapult stand. »Bringt das Katapult an euch und richtet es auf die anderen!« schrie er. »Und holt diesen Mann vom Kreuz! Holt ihn runter!« Und während seine Gefährten den Platz um ihn herum freikämpften, entdeckte er selbst eine Werkzeugkiste neben der Schleudermaschine, warf seinen Schild weg und angelte sich eine Zange.
Genau in diesem Moment zielte aus zwanzig Fuß Entfernung ein feindlicher Bogenschütze auf ihn, schon hatte er den Bogen gespannt, als im Ohr des Königs plötzlich eine Stimme ertönte -die angstvolle Stimme seiner Mutter Olympias, die schrie:
»Alexandre!«
Und wie durch ein Wunder erkannte der König die drohende Gefahr; blitzschnell zog er sein Messer aus dem Gürtel, schleuderte es auf den Bogenschützen und traf ihn knapp oberhalb des Schlüsselbeins.
Nun bildeten die Gefährten eine Schutzmauer aus Schilden um ihn herum, und er ging daran, den gemarterten Körper seines alten Lehrers vom Kreuz zu holen - einen nach dem anderen zog er die langen Nägel aus seinem Fleisch, nahm die hagere, nackte Gestalt ab und legte sie sacht auf den Boden.
Und wie er sie dann betrachtete, kam ihm der nackte Körper eines anderen Greises in den Sinn, eines Philosophen mit heiterem Blick, den er an einem sonnigen Spätnachmittag in Ko-rinth gesehen hatte: Diogenes. Unendliches Mitleid erfüllte seine Brust, während er leise »>Didaskale ...« murmelte.
Bei diesem Wort kehrte noch einmal ein Funke von Leben in den armen Leonidas zurück, er öffnete sogar die Augen und hauchte: »Ich hab es nicht geschafft, mein Junge.. .« Dann fiel er in sich zusammen und starb.
Im nächsten Augenblick war es, als öffne der Himmel seine Schleusen über der blutenden Inselstadt; bleierne Regentropfen und Hagelkörner prasselten hernieder, wilde Sturmböen peitschten das Meer auf, aber sie löschten nicht den Furor der Krieger. Draußen vor dem Hafen lieferten sich Nearchos' mäch-tiger Fünfdecker und die tyrische Flotte eine erbitterte Schlacht, im Innern der Stadt verschanzten sich die Verteidiger in Häusern und Gassen und kämpften oft bis zum letzten Atemzug vor der eigenen Haustür.
Erst gegen Abend, als zum erstenmal wieder die Sonne durch die Wolken brach und das düstere Meer beschien, die zerstörte Mauer, die auf den Wellen treibenden Wrackteile der Schiffe und die Körper der Ertrunkenen, erst gegen Abend wurde der letzte Widerstand von Tyros gebrochen.
Viele der Überlebenden flüchteten sich in die Tempel der Stadt und klammerten sich an die Statuen ihrer Götter - sie wurden auf Befehl des Königs verschont, doch wer auf der Straße gefaßt wurde, konnte dem Rachedurst des makedonischen Heers nicht entgehen.
Zweitausend Gefangene wurden entlang des Damms gekreuzigt. Leonidas' Leiche hingegen wurde in einer feierlichen Zeremonie verbrannt und seine Aschenurne nach Pella zurückgesandt mit dem Auftrag, sie unter der Platane zu vergraben, in deren Schatten der alte Lehrer im Sommer seinen Unterricht abgehalten hatte.
56
Alexander befahl der Flotte, nach Süden weiterzuziehen und die zerlegten Belagerungsmaschinen nach Gaza zu transportieren, der letzten Festung vor der Wüste zwischen Palästina und Ägypten.
Zehn Schiffe wurden allerdings nach Makedonien geschickt, um neu ausgehobene Truppen abzuholen, mit denen die Gefallenen ersetzt werden konnten. Genau in dieser Zeit erhielt Alexander einen zweiten Brief von König Dareios.
»Dareios, König der Perser, König der Könige, Stern der Arier und Herrscher über alle vier Ecken der Welt, an Alexander, König von Makedonien. Heil! Du sollst wissen, daß ich deine Tapferkeit anerkenne und auch das Glück, das die Götter dir reichlich beschert haben. Ich schlage dir noch einmal vor, mein Verbündeter zu werden, ja mehr noch, in verwandtschaftliche Beziehung zu mir zu treten.
Zu diesem Zweck biete ich dir meine Tochter Stateira zur Frau an. Des weiteren würde ich dir die Herrschaft über das gesamte Gebiet zwischen den Yauna-Städten Milet und Ephesos und dem Fluß Halys überlassen sowie ein Geschenk von zweitausend Silbertalenten. Abgesehen davon rate ich dir, das Schicksal nicht herauszufordern, denn es könnte sich jeden Moment von dir abwenden. Halte dir vor Augen, daß du - im Falle einer Fortsetzung deines Kriegszuges - ein alter Mann wärst, bis du mein ganzes Reich unterworfen hast, selbst wenn du keine einzige Schlacht mehr austragen müßtest. Bedenke auch, daß mein Reich von gewaltigen Strömen geschützt wird, wie Euphrat und Tigris, Araxes und Hydaspes, die unüberwindlich sind.
Überdenke alles reiflich und treffe dann eine weise Entscheidung.«
Alexander ließ den Brief vor versammeltem Kriegsrat vorlesen und fragte dann: »Was haltet ihr davon? Was soll ich darauf antworten?«
Keiner wagte es, dem König Ratschläge zu geben, und deshalb schwiegen alle - alle bis auf einen: Parmenion, der glaubte, aufgrund seines Alters und Ansehens ein Urteil abgeben zu dürfen. »Ich würde annehmen, wenn ich Alexander wäre«, sagte er.
Der König senkte den Kopf, als denke er über diese Bemerkung nach, dann erwiderte er kalt: »Ich auch, wenn ich Par-menion wäre.«
Der alte General machte ein überraschtes, kummervolles Gesicht, und man sah ihm an, daß er sich in seiner Ehre verletzt fühlte. Einen Moment später stand er auf und ging schweigend hinaus. Auch Alexanders Gefährten sahen sich betreten an, doch der König fuhr in völlig ruhigem Ton fort:
»General Parmenions Standpunkt ist begreiflich, aber ich denke, euch anderen ist klar, daß Dareios mir - von seiner Tochter einmal abgesehen - nichts anbietet, was ich nicht schon erobert hätte. Mehr noch: Indirekt verlangt er, daß ich ihm alle Provinzen und Städte östlich des Halys zurückgebe, die uns so viele Opfer gekostet haben. Er möchte uns angst machen, aber in Wirklichkeit hat er Angst - panische Angst. Nein, Freunde, wir werden weiterziehen. Wir werden Gaza einnehmen und danach Ägypten, das älteste und reichste Land der ganzen Erde.«
Noch am selben Tag verfaßte er einen kaltschnäuzigen Brief an König Dareios, in dem er ihm eine gehörige Abfuhr erteilte, und am nächsten machte er sich mit dem Heer entlang der Küste auf den Weg, während die Flotte unter Nearchos und Hephaistion ihnen auf dem Meer im Verband folgte.
Gaza lag ungefähr fünfzehn Stadien entfernt auf einem Hügel und war stark bewehrt, aber seine Mauer bestand aus Backstein. Der Kommandant der Festungsstadt - ein schwarzer Eunuch namens Batis, der für seinen Mut und seine Treue König Dareios gegenüber bekannt war - weigerte sich, Gaza auszuliefern.
So beschloß Alexander anzugreifen. Als erstes machte er einen Erkundungsgang rund um die Mauer, um festzustellen, wo man sie unterhöhlen konnte und wo sich die Belagerungsmaschinen dicht genug heranführen ließen; gerade letzteres erwies sich als ziemlich schwierig, denn das umliegende Gelände war sandig, so daß die Maschinen darin versinken würden.
Während er das Problem noch überdachte, flog eine Krähe über ihn hinweg, ließ ein Büschel Gras, das sie im Schnabel trug, genau auf seinen Kopf fallen und setzte sich dann auf die Stadtmauer, wo sie allerdings mit den Füßen hängenblieb, denn die Bitumenschicht auf dem oberen Mauerabsatz hatte sich an der Sonne aufgeweicht und war klebrig geworden.
Alexander war zutiefst beeindruckt von dem merkwürdigen Vorkommnis und befragte sogleich Aristandros, der ihm wie ein Schatten überallhin folgte: »Was hat das zu bedeuten, Seher? Was wollen die Götter mir durch dieses Vorzeichen ankündigen?«
Aristandros sah in die glühenden Sonne hinauf, bis seine Pupillen nur noch winzige schwarze Punkte waren, dann richtete er den Blick auf die Krähe, die sich mit verzweifelten Flügelschlägen zu befreien suchte und es endlich auch schaffte, dabei aber die ein oder andere Feder lassen mußte.
»Du wirst Gaza einnehmen, aber wenn du es heute versuchst, wirst du verwundet werden.«
Alexander beschloß es trotzdem zu wagen; seine Soldaten sollten nicht glauben, er lasse sich von einer ungünstigen Prophezeiung beeinflussen. Und während Hunderte von schaufelbewehrten Männern die Mauer untergruben, um sie zum Einsturz zu bringen, unternahm er einen Frontalangriff auf die breite Rampe, die nach Gaza hinaufführte.
Batis, der natürlich wußte, daß er die günstigere Ausgangsposition hatte, versammelte sein Heer und schlug ganz entschieden zurück, wobei er den persischen Kriegern auch zehntausend arabische und äthiopische Söldner zur Seite stellte -Soldaten mit pechschwarzer Haut, wie die Makedonen sie noch nie gesehen hatten.
Alexander focht inmitten seiner Fußsoldaten in vorderster Linie, und das, obwohl ihn die Wunde von Issos noch immer schmerzte. Er suchte den Zweikampf mit Batis, einem schweißglänzenden, schwarzen Riesen, der an der Spitze seiner Äthiopier wütete.
»Bei den Göttern, das ist ein Mann!« schrie Perdikkas. »Und wenn sie ihn dreimal kastriert haben ...«