37286.fb2
Vor Alexanders Augen breitete sich Phrygien mit seinen tannenbedeckten Hügeln und seinen unzähligen kleinen Tälern aus, deren kristallklare Bäche von silbern flimmernden Pappeln und Trauerweiden gesäumt wurden. Viehhirten und Schäfer mit Hunden führten ihre Herden auf die Weiden, und alles wirkte ruhig und friedlich, obwohl das Blöken der Lämmer und das Muhen der Kälber natürlich völlig im Tosen der vorüberziehenden Armee unterging.
In den Tälern, die auf beiden Seiten parallel zur Marschroute verliefen, ritten kleine Spähtrupps, die weder mit Rüstungen noch mit sonstigen Insignien ausgestattet waren und die Aufgabe hatten, persische Beobachter fernzuhalten. Aber im Grunde war diese Vorsichtsmaßnahme kropfunnötig, denn jeder Hirte oder Bauer hätte ein feindlicher Spitzel sein können.
Den Abschluß der langen Kolonne bildete ein halbes Dutzend thessalischer Reiter, die Kallisthenes, Philotas sowie einen Maulesel mit zwei Quersäcken voller Papyrusrollen eskortierten. Wenn gerastet wurde, holte sich der Geschichtsschreiber aus dem Gepäck des Maultiers ein Holztäfelchen und eine Rolle Papyrus, setzte sich auf einen Hocker und begann unter den neugierigen Blicken der Soldaten zu schreiben.
Es hatte sich schnell herumgesprochen, daß der hagere, etwas altklug wirkende junge Mann die Geschichte dieser Expedition aufschrieb, und insgeheim hoffte jeder, früher oder später von ihm verewigt zu werden. Nicht das mindeste Interesse erweck-ten hingegen die trockenen Berichte von Eumenes und anderen Offizieren, die im Auftrag Alexanders Tagebuch führten und die genaue Abfolge der Etappen festhielten.
Gegen Mittag wurde eine längere Rast eingelegt, und dann marschierte man ohne Unterbrechung bis in unmittelbare Nähe des Granikos weiter. Dort ließ Alexander im Schutz einer niederen Hügelkette das Nachtlager aufschlagen. Kurz vor Sonnenuntergang berief er in seinem Zelt den Kriegsrat ein, um den Versammelten seinen Schlachtplan auseinanderzulegen. Anwesend waren Krateros, der eine Abteilung der schweren Kavallerie befehligte, Kleitos der »Schwarze«, Parmenion als Anführer der Pezetairoi und selbstverständlich Alexanders persönliche Leibwache, zu der alle seine Kameraden gehörten: Ptole-maios, Lysimachos, Seleukos, Hephaistion, Leonnatos, Perdik-kas, ja selbst Eumenes, der offensichtlich Gefallen an seiner Rüstung gefunden hatte, denn er erschien zu den Versammlungen nur noch in voller Montur, sprich mit Harnisch, Beinschienen und Wehrgehänge.
»Sobald es dunkel ist«, begann der König, »wird eine kleine Sturmtruppe den Fluß überqueren und sich dem persischen Lager so weit wie möglich nähern, um es auszuspähen; diese Truppe soll sich aus leichten Fußsoldaten und Männern der Hilfstruppen zusammensetzen. Einer von ihnen kehrt sofort um und meldet uns, wie weit das Lager vom Fluß entfernt ist. Die andern bleiben auf ihrem Posten. Sollte sich im Laufe der Nacht bei den Persern etwas rühren, teilen sie uns das natürlich umgehend mit.« Die Versammelten nickten mit dem Kopf. »Wir selbst zünden heute nacht keine Feuer an, und morgen früh wird ohne Trompeten geweckt, und zwar kurz vor der vierten Wachablösung. Wenn wir freie Bahn haben, überquert die Ka-vallerie als erste den Fluß und stellt sich am andern Ufer auf; sobald das Fußvolk auch drüben ist, setzt sich alles in Bewegung. Dann kommt der entscheidende Moment des Tages«, sagte Alexander mit einem Blick in die Runde. »Wenn ich richtig vermute, befinden sich die Perser um diese Tageszeit noch in ihren Zelten - zumindest sind sie nicht in Schlachtordnung aufgestellt. Unsere Reiterei fällt in einem Blitzangriff über sie her und sät Verwirrung. Dann rückt das Fußvolk nach und versetzt ihnen den eigentlichen Hammerschlag. Die Sturmabteilungen und Hilfstruppen erledigen den Rest.«
»Wer führt die Kavallerie an?« fragte Parmenion, der bis zu diesem Augenblick schweigend zugehört hatte.
»Ich«, erwiderte Alexander.
»Davon rate ich ab, Herr. Das ist zu gefährlich. Überlaß das doch Krateros - er hat Erfahrung mit den Persern, er war ja schon bei unserer letzten Asienexpedition dabei.«
»General Parmenion hat recht«, meinte Seleukos. »Das ist unsere erste Begegnung mit den Persern; besser, wir riskieren nicht zuviel.«
Der König unterbrach die Diskussion mit einer knappen Geste. »Ihr habt mich in Chaironeia gegen die Heilige Schar der The-baner und am Ister gegen Thraker und Triballer kämpfen sehen: Wie könnt ihr glauben, daß ich es diesmal anders machen würde? Nein, ich werde die Königsschwadron persönlich anführen und als erster Makedone mit dem Feind in Tuchfühlung gehen. Meine Männer sollen wissen, daß ich mich denselben Gefahren aussetze wie sie und daß wir in dieser Schlacht alles aufs Spiel setzen - auch unser Leben. Mehr habe ich euch für den Moment nicht zu sagen. Ich erwarte euch zum Abendessen.«
Keiner hatte den Mut, ihm zu widersprechen, aber Eumenes beugte sich zu Parmenion hinüber, der neben ihm saß, und flüsterte: »Ich würde ihm jemanden mit viel Erfahrung zur Seite stellen, einen, der nicht zum erstenmal gegen die Perser kämpft und ihre Technik kennt.«
Der General nickte. »Daran habe ich bereits gedacht. Kleitos wird morgen neben ihm kämpfen und ihn beschützen«, sagte er. »Keine Angst, Eumenes, es geht schon alles gut.«
Nachdem die Versammlung aufgelöst war, verließen alle das Zelt und begaben sich zu ihren Truppeneinheiten, um die letzten Anweisungen zu geben. Nur Eumenes blieb zurück und näherte sich Alexander: »Dein Plan ist ausgezeichnet«, sagte er. »Aber es gibt da eine unbekannte Größe, die mir ernste Sorgen macht. . .«
»Memnons Söldner.«
»Genau. Wenn die zu einem geschlossenen Block zusammenrücken, wird es selbst für unsere Reiter schwer, gegen sie anzukommen.«
»Ich weiß, und unsere Phalanx hätte es nicht viel leichter -unter Umständen müßte sie sich sogar auf einen Kampf mit kurzen Waffen, also Schwert und Streitaxt, einlassen. Das wäre sehr gefährlich, aber ich habe da noch was im Hinterkopf .. .«
Eumenes setzte sich auf einen Hocker und zog sich den Umhang über die Knie, genau wie Philipp es nach seinen berüchtigten Wutanfällen immer getan hatte. Bei Eumenes war der Grund allerdings ein anderer: Er hatte sich noch nicht an den kurzen Militärchiton gewöhnt, und in frischen Nächten wie dieser fror er an den Beinen.
Der König holte eine Papyrusrolle aus der berühmten Schatulle, in der sich auch die Homerausgabe befand, die Aristoteles ihm geschenkt hatte, und breitete sie auf dem Tisch aus. »Du kennst doch den >Zug der Zehntausend<, nicht?«
»Klar - der wird inzwischen ja an allen Schulen gelesen, weil er so leicht verständlich geschrieben ist.«
»Gut, dann hör zu. Wir befinden uns auf dem Schlachtfeld von Kunaxa; der jüngere Kyros unterhält sich mit dem Heerführer Klearchos:
Er rief Klearchos zu, er solle sein Regiment gegen das Zentrum der Feinde führen, weil sich dort der Großkönig befinde. >Und wenn wir dort siegen<, sagte er, >haben wir alles erreicht<.
»Mit anderen Worten: Du willst den Anführer unserer Feinde mit eigenen Händen umbringen«, stellte Eumenes mißbilligend fest.
»Ja, und deshalb führe ich die Königsschwadron an. Danach kümmern wir uns um Memnons Söldner.«
»Verstanden, und jetzt gehe ich lieber, denn auf meine Ratschläge würdest du ja sowieso nicht hören.«
»Nein, Herr Generalsekretär«, Alexander lachte. »Aber gern habe ich dich trotzdem.«
»Ich dich auch, verdammter Dickschädel. Die Götter mögen dich beschützen.«
»Das wünsche ich dir auch, mein Freund.«
Eumenes ging in sein Zelt, legte die Rüstung ab, zog sich etwas Wärmeres an und vertiefte sich bis zum Abendessen in ein Handbuch über Kriegstaktik.
5
Der Fluss, der aufgrund der Schneeschmelze im Pontischen Gebirge sehr viel Wasser mitführte, floß schnell dahin; ein sanfter Westwind bewegte die Blätter der Pappeln entlang seiner Ufer; es waren steile Ufer aus Tonerde, die sich während der starken Regenfälle der letzten Wochen mit Wasser vollgesogen hatten.
Alexander, Hephaistion, Seleukos und Perdikkas standen auf einer kleinen Anhöhe, von der aus man sowohl den Lauf des Granikos überblicken konnte als auch ein gutes Stück des Gebiets am jenseitigen Ostufer.
»Was meint ihr?« fragte der König.
»Die Böschungen sind aufgeweicht und schlüpfrig«, sagte Seleukos. »Wenn sich die Barbaren dort drüben aufstellen, können sie nach Belieben Pfeile und Speere auf uns abschießen.«
»Sprich: unsere Truppen dezimieren, bevor sie überhaupt am andern Ufer sind«, setzte Hephaistion nach.
»Ja, und selbst für den Fall, daß wir heil dort ankommen, würden unsere Pferde bis zu den Knien im Schlamm versinken, und ihr wißt selbst, was das bedeutet: Viele würden lahmen, und wir wären den Persern auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.«
»Tja, verzwickte Situation«, bemerkte Perdikkas lakonisch.
»Sorgen wir uns nicht zu früh«, sagte Alexander, »und warten wir ab, was die Späher berichten.«
Sie schwiegen und lauschten eine Weile nur dem Zirpen der Grillen in der scheinbar friedlichen Nacht und dem eintönigen
Quaken der Frösche, das sogar noch das Rauschen des Granikos übertönte. Irgendwann hörten sie den Lockruf eines Käuzchens.
»Das sind die Späher«, sagte Hephaistion.
Tatsächlich waren kurz darauf zwei dunkle Gestalten zu erkennen, die an der Furt durch den Fluß wateten.
»Nun, was für Neuigkeiten bringt ihr uns?« fragte Alexander gespannt.
Die beiden Späher - Soldaten der »schildtragenden Garde« — waren vom Scheitel bis zur Sohle mit rötlichem Schlamm bedeckt und sahen fürchterlich aus.
»König«, hob einer von ihnen an, »die Barbaren lagern drei oder vier Stadien vom Granikos entfernt auf einem kleinen Hügel; von dort beherrschen sie die ganze umliegende Gegend. Vier Abteilungen Bogenschützen patrouillieren ständig zwischen dem Lager und dem Fluß hin und her; außerdem wird das Lager durch einen doppelten Ring von Wächtern geschützt. Alle Wachmannschaften haben Feuer angezündet, deren Licht sie mit ihren Schilden in die Dunkelheit werfen -es ist also sehr schwierig, sich ihnen unbemerkt zu nähern.«
»Gut«, sagte Alexander. »Kehrt zurück und postiert euch am andern Ufer. Wenn sich im feindlichen Lager auch nur das Geringste tut, kommt ihr schnurstracks zurück und schlagt Alarm -hinter den Pappeln dort steht ein kleiner Reitertrupp, der mich binnen weniger Augenblicke unterrichten kann. Je nach Lage werde ich dann entscheiden, was zu tun ist. Geht jetzt und paßt auf, daß euch keiner erwischt.«
Die beiden Kundschafter kletterten wieder zum Fluß hinunter und durchquerten ihn, bis zur Gürtellinie im Wasser. Alexander und seine Kameraden gingen zu ihren Pferden, um ins Lager zurückzureiten.
»Und was machen wir, wenn sie morgen früh am andern Ufer stehen?« fragte Perdikkas, während er sich in den Sattel seines Rappen schwang.
Alexander fuhr sich mit der Hand durchs Haar, wie er es immer tat, wenn ihm viel durch den Kopf ging: »In diesem Fall müßten sie die Infanterie in vorderster Linie aufgestellt haben -denn es wäre ja unsinnig, mit Reitern eine feste Stellung behaupten zu wollen.«