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Lufttemperatur - sie ist hier in der Wüste enormen Schwankungen unterworfen. Deshalb wirkt dieses Quellwasser morgens, wenn es hier glühend heiß ist, eiskalt, gegen Abend, wenn die Luft abkühlt, etwas wärmer und um Mitternacht sogar lauwarm. Es ist eben alles relativ, wie mein Onkel Aristoteles sagen würde.«
»Ja, in der Tat«, Alexander nickte. »Haben seine Nachforschungen übrigens etwas Neues ergeben?«
»Nein, seit wir das letzte Mal darüber gesprochen haben, gibt es keine Neuigkeiten - aber wir bekommen sicher welche, wenn die Schiffe mit den neu angeworbenen Soldaten aus Makedonien einlaufen. Für den Augenblick scheint Aristoteles eine Fährte entdeckt zu haben, die nach Persien führt, aber ich weiß schon, was er sagen würde, wenn er jetzt hier wäre.«
»Ich auch«, erwiderte Alexander. »Daß die Perser zweifellos ein Interesse daran hatten, meinen Vater umzubringen, und deshalb sicher nicht verheimlicht hätten, wenn sie es gewesen wären - quasi als Warnung und Abschreckung an alle zukünftigen Könige von Makedonien . . .«
»Genau«, pflichtete Kallisthenes ihm bei und schöpfte erneut Wasser aus dem Brunnen.
In diesem Moment trat Philipp, der Arzt, zu ihnen. »Schau, was die Männer gefunden haben«, sagte er und schwang eine große Schlange mit runzligem, dreieckigem Kopf. »Ein Biß von diesem Tier, und du bist in wenigen Augenblicken mausetot.«
Alexander betrachtete das Reptil. »Sag den Soldaten, sie sollen auf der Hut sein. Die Schlange läßt du einbalsamieren und Aristoteles für seine Naturaliensammlung schicken. Das gleiche gilt für interessante oder unbekannte Gräser und Kräuter, die du findest. Ich fertige dir dann ein Begleitschreiben dazu an.«
Philipp nickte und entfernte sich mit seiner Schlange, während Alexander sich auf dem Brunnenrand niederließ und den Abend erwartete. Plötzlich sah er Aristandros' Spiegelbild im Wasser. Er war leise neben ihn getreten und beugte sich über seine Schulter.
»Hast du immer noch diesen Alptraum?« fragte der König. »Den mit dem nackten Mann, der bei lebendigem Leibe verbrannt wird?«
»Und du?« fragte Aristandros zurück. »Welche Alpträume plagen dich?«
»Viele ... zu viele«, erwiderte der König. »Der Tod meines Vaters, das Massaker an Batis, den ich in Gaza zu Tode geschleift habe, der Geist Memnons, der immer zwischen mich und Bar-sine tritt, wenn wir uns umarmen, der Knoten von Gordion, den ich zerschlagen habe, anstatt ihn zu lösen, und das ist noch nicht alles . .. «
Alexander zögerte, als scheue er sich weiterzusprechen.
»Was noch?« Aristandros sah ihn eindringlich an.
»Ein Auszählreim«, erwiderte Alexander mit niedergeschlagenen Augen.
»Ein Auszählreim? Wie geht der?«
»Der alte Soldat zieht in den Krieg, fällt in den Dreck, und du bist weg!« sang der König leise vor sich hin und starrte dabei erneut in den Brunnenschacht.
»Hat dieser Reim denn eine besondere Bedeutung für dich?«
»Nein, er erinnert mich nur an meine Kindheit. Die Amme meiner Mutter, die alte Artemisia, hat ihn mir beigebracht.«
»Dann mach dir nichts draus«, sagte Aristandros. »Und was deine Alpträume betrifft, so gibt es nur einen Ausweg . . .«
»Welchen?«
»Ein Gott werden«, erwiderte der Seher. Und kaum daß er zu Ende gesprochen hatte, zersprang sein Spiegelbild im Wasser, denn ein Insekt war in den Brunnen gefallen und versuchte verzweifelt, dem Tod zu entrinnen.
Mit Einbruch der Nacht überschritt Alexander die Schwelle des mächtigen Tempels; der hohe Innenraum wurde von Ampeln erhellt, die in zwei Reihen von der Decke hingen, und von einer großen Öllampe, die auf dem Boden stand und die kolossale Zeus Ammon-Statue in ihr Flackerlicht hüllte.
Alexander hob den Blick zum tierischen Antlitz des Giganten hinauf, zu seinen riesigen, mehrfach gewundenen Widderhörnern, der breiten Brust und den kräftigen Armen, die mit geschlossenen Fäusten seitlich herabhingen. Und er dachte wieder an die Worte, die seine Mutter ihm beim Abschied in Pella gesagt hatte: Das Orakel von Dodona hat deine Geburt angekündigt, ein anderes Orakel mitten in der glühenden Wüste wird dir eine zweite Geburt ankündigen, die Geburt zu einem Leben, das nicht vergeht.
Plötzlich ertönte inmitten des Säulenwaldes, auf dem das Tempeldach ruhte, eine tiefe Stimme: »Was möchtest du den Gott fragen?« Alexander sah sich um, aber er konnte niemanden entdecken. Sein Blick wanderte erneut zu dem mächtigen Widderkopf hinauf, zu seinen gelben Augen mit dem schmalen schwarzen Schlitz in der Mitte: So also sah ein Gott aus ?
»Gibt es noch einen . . .« begann er, und sein Echo antwortete ihm »einen . . .«
»Gibt es noch einen unter den Mördern meines Vaters, den ich nicht bestraft habe?«
Nachdem seine Worte in dem großen Raum verhallt waren, trat ein Moment Stille ein. Dann ertönte erneut diese tiefe, vibrierende Stimme - diesmal eindeutig aus der Brust der Götterstatue: »Gib acht, wie du sprichst! Dein Vater ist kein gewöhnlicher Sterblicher. Dein Vater ist Zeus Ammon!«
Der König verließ den Tempel tief in der Nacht, nachdem er Antwort auf alle seine Fragen bekommen hatte, aber er wollte nicht unter die Soldaten ins Lager zurück, und so durchquerte er die großen Palmengärten, bis er ganz alleine am Rand der Wüste stand. Über ihm blinkten Millionen Sterne am klaren Nachthimmel. Irgendwann hörte er Schritte hinter sich und drehte sich um - es war Eumenes.
»Ich habe in diesem Moment keine Lust zu reden«, sagte er zu ihm. »Aber wenn du mir irgend etwas Wichtiges mitzuteilen hast, so sprich.«
»Ja«, erwiderte Eumenes, »das habe ich. Leider handelt es sich um eine schlechte Nachricht. Ich trage sie schon lange mit mir herum und habe nur auf einen geeigneten Augenblick gewartet . . .«
»Und der ist jetzt gekommen?«
»Vielleicht. Jedenfalls kann ich diese Sache nicht länger für mich behalten. König Alexander von Epeiros ist in einen Hinterhalt der Barbaren geraten und in heldenhaftem Kampf gefallen.«
Alexander nickte traurig, und während Eumenes sich entfernte, wandte er sich wieder der immensen Wüste und dem sternenfunkelnden Himmelszelt zu und begann still zu weinen.
Nachwort
Wie der Leser sicher bemerkt hat, behandle ich im zweiten Band dieser Romantrilogie den im eigentlichen Sinne historischen Teil des Lebens von Alexander dem Großen. Dabei haben mich erzähltechnische Erwägungen gezwungen, gewisse Dinge etwas anders darzustellen, als wir es aus der traditionellen Geschichtsschreibung gewohnt sind - beispielsweise die Schlacht am Granikos, die ich, von der verherrlichenden Version des Kallisthenes Abstand nehmend, so realistisch wie möglich gestalten wollte.
Des weiteren habe ich zwei historische Personen - Alexander aus Lynkestis und Amyntas - zu einer einzigen, nämlich Amyntas, verschmolzen. Der Leser, der ja bereits zwei »Alexander« kennt, sollte nicht unnötig verwirrt werden. Die problematischen Situationen (dynastischer, politischer und psychologischer Natur) um die beiden historischen Figuren herum sind jedoch alle in der Gestalt des Amyntas zusammengeflossen. Bei der topographischen, taktischen und strategischen Rekonstruktion der Belagerungen von Milet, Halikarnassos und Tyros habe ich große Sorgfalt walten lassen; dasselbe gilt für die Beschreibung der Schlacht von Issos, für die ich mich auch auf persönliche Vor-Ort-Untersuchungen gestützt habe. Für die literarischen Quellen verweise ich im großen und ganzen auf das Nachwort im ersten Band unter Hinzufügung von Herodot (fliegende Schlangen), einiger Zitate aus Homer und Hesiodos sowie gewisser technischer Beschreibungen in Vergils »Aeneis« und in Frontinus' »Strata-gemata«. Natürlich habe ich auch in diesem Band neben den literarischen die »materiellen« Zeugnisse berücksichtigt, die uns zur Verfügung stehen, und der aufmerksame Leser wird bei vielen Szenen an berühmte Kunstwerke, Münzen und Mosaiken erinnert worden sein. Auch die Porträtkunst und vor allem die neuesten Grabungsberichte von den behandelten Orten, die ich selbstverständlich alle persönlich kenne und mehrfach topographisch erforscht habe, sind in meine Schilderungen eingeflossen.
Valerio Massimo Manfredi