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10. Kapitel

Rasch die Augen schließen, mit den Händen die Ohren zuhalten und in sich versinken. Wie war das? Damals in Teheran? Eine ungeheure, blaue, steinerne Halle mit dem edlen Namenszug des Schahs Nassreddin über dem Eingang. In der Mitte eine viereckige Bühne, und im ganzen Saal, sitzend, stehend, liegend, würdige Männer, aufgeregte Kinder, schwärmerische Jünglinge — andächtige Zuschauer beim Passionsspiel des heiligen Hussein. Der Saal ist spärlich beleuchtet. Auf der Bühne trösten bärtige Engel den Jüngling Hussein. Der grimmige Kalif Jesid schickt seine Reiter in die Wüste, um den Kopf des heiligen Jünglings zu holen. Klagelieder werden vom Geklirr der Degen unterbrochen. Ali, Fatima, Eva, die erste Frau, wandern über die Bühne und singen vielstrophige Rubajats. Auf einer schweren Goldplatte wird dem gottlosen Kalifen der Kopf des Jünglings überreicht. Die Zuschauer zittern und weinen. Ein Mullah geht durch die Reihen und sammelt mit Watte die Tränen der Zuschauer in eine kleine Flasche. Magische Kräfte aller Art sind in diesen Tränen enthalten. Je tiefer der Glaube der Zuschauer, desto gewaltiger die Wirkung des Spieles. Ein Brett wird zur Wüste, ein Kasten zum diamantbelegten Thron des Kalifen, ein paar Holzpfähle zum Garten Eden und ein bärtiger Mann zur Tochter des Propheten.

Nun die Augen öffnen, die Hände sinken lassen und sich umschauen:

Grelles Licht unzähliger elektrischer Birnen. Roter Samt in den Logen, die von vergoldeten Gipsgöttern getragen werden. Glatzen strahlen aus dem Zuschauerraum wie Sterne vom nächtlichen Firmament. Die Frauen haben weiße Rücken und nackte Arme. Ein dunkler Abgrund trennt die Zuschauer von der Bühne. In diesem Abgrund sitzen schüchtern aussehende Menschen mit Musikinstrumenten. Über dem Parkett liegt das ineinanderfließende Geräusch halblauter Unterhaltungen, raschelnder Programmhefte, klappernder Damenfächer und Lorgnons: die Bakuer städtische Oper wenige Minuten vor Beginn der Oper »Eugen Onegin«.

Nino saß neben mir. Ihr schmales Gesicht war mir zugewandt. Ihre Lippen waren feucht und die Augen trocken. Sie sprach wenig. Als es dunkel wurde, legte ich meinen Arm um ihre Schulter. Sie beugte den Kopf zur Seite und schien ganz in die Tschaikowskysche Musik vertieft. Eugen Onegin wanderte im Biedermeierrock über die Bühne, und Tatjana sang eine Arie.

Ich ziehe die Oper deshalb vor, weil mir die Handlung von vornherein bekannt ist und ich mich nicht, wie im Theater, anstrengen muß, um zu verstehen, was auf der Bühne vorgeht. Die Musik stört mich nur selten, höchstens, wenn sie sehr laut wird. Es ist dunkel im Saal, und wenn ich die Augen schließe, denken die Nachbarn, daß meine Seele im symphonischen Ozean versunken ist.

Diesmal hielt ich die Augen offen. Hinter Ninos zartem Profil, das etwas vorgeneigt war, sah ich die ersten Reihen des Parketts. In der Mitte der dritten Reihe saß ein dicker Mann mit Schafsaugen und philosophischer Stirn, mein alter Freund Melik Nachararjan, der vornehmste Armenier Schuschas. Sein Kopf bewegte sich zwischen Ninos linkem Auge und ihrer Nase im Takt der Arie.

»Schau, da ist Nachararjan«, flüsterte ich ihr zu.

»Sieh auf die Bühne, du Barbar«, flüsterte sie zurück, warf aber dennoch dem dicken Armenier einen Blick zu.

Dieser wandte sich um und nickte freundlich mit dem Kopf.

In der Pause traf ich ihn am Büfett, wo ich für Nino Pralinen besorgte. Er kam in unsere Loge und saß dick, klug und ein wenig kahlköpfig da.

»Wie alt sind Sie, Melik Nachararjan?« fragte ich ihn.

»Dreißig«, antwortete er.

Nino wurde aufmerksam.

»Dreißig?« sagte sie. »So, dann werden wir Sie wohl nicht mehr lange bei uns in der Stadt sehen.«

»Wieso, Prinzessin?«

»Ihr Jahrgang ist ja schon einberufen.«

Er lachte laut, seine Augen quollen hervor, und der dicke Bauch schüttelte sich.

»Leider, Prinzessin, darf ich nicht in den Krieg ziehen. Der Arzt hat bei mir ein unheilbares Nebenhöhlenempyem festgestellt. Ich mußte zurückbleiben.«

Der Name der Krankheit klang exotisch und erinnerte an Bauchschmerzen. Nino machte ganz große Augen.

»Ist das eine so gefährliche Krankheit?« fragte ich teilnahmsvoll.

»Wie man es nimmt. Mit Hilfe eines verantwortungsbewußten Arztes kann jede Krankheit gefährlich werden.«

Nino war erstaunt und empört zugleich.

Melik Nachararjan stammte aus der edelsten armenischen Familie von Karabagh. Sein Vater war General. Er selbst bärenstark, kerngesund und unverheiratet. Als er die Loge verließ, bat ich ihn, nach der Oper mit uns zu soupieren. Er dankte höflich und nahm an.

Der Vorhang hob sich, und Ninos Kopf lehnte sich an meine Schulter. Bei den Klängen des berühmten Tschaikowskyschen Walzers schlug sie sogar die Augen zu mir auf und flüsterte:

»Im Vergleich zu ihm bist du beinahe ein Held. Du hast wenigstens keine Nebenhöhlen.«

»Die Armenier haben mehr Phantasie als die Mohammedaner«, versuchte ich Nachararjan zu entschuldigen.

Ninos Kopf blieb auch dann an meiner Schulter ruhen, als der heldische Tenor Lensky vor die Mündung der Pistole Onegins trat und programmgemäß erschossen wurde.

Es war ein leichter, eleganter und vollkommener Sieg, der gefeiert werden mußte.

Nachararjan erwartete uns am Eingang der Oper. Er hatte ein Auto, das im Vergleich zu dem Pferdegespann des Schirwanschirschen Hauses ungemein vornehm und europäisch war. Wir fuhren durch die nächtlichen Gassen unserer Stadt, am Gymnasium und Lyzeum vorbei. Nachts hatten die beiden Häuser ein beinahe freundliches Aussehen. Wir hielten vor der Marmortreppe des Stadtklubs. Es war nicht ganz unbedenklich. Nino besuchte noch das Lyzeum. Wenn aber der eine Herr den Namen Schirwanschir führt und der andere Nachararjan heißt, kann eine Prinzessin Kipiani ruhig gegen die Regel des Lyzeums der hl. Tamar verstoßen.

Wir gingen zu der hellerleuchteten weiten Terrasse des Klubs, die auf den nächtlich-dunklen Gouverneursgarten hinausführte. Ich sah die Sterne, das sanft glitzernde Meer und die Leuchttürme der Insel Nargin.

Die Gläser klirrten. Nino und Nachararjan tranken Sekt. Da mich nichts in der Welt, nicht einmal Ninos Augen, zwingen könnten, öffentlich in meiner Heimatstadt Alkohol zu trinken, schlürfte ich, wie gewöhnlich, eine Orangeade. Als die sechzigköpfige Tanzkapelle uns endlich eine Pause gönnte, sagte Nachararjan ernst und nachdenklich.

»Da sitzen wir nun, die Vertreter der drei größten Völker Kaukasiens: eine Georgierin, ein Mohammedaner, ein Armenier. Unter demselben Himmel geboren, von der gleichen Erde getragen, verschieden und dennoch eins — wie die drei Wesen Gottes. Europäisch und asiatisch zugleich, vom Westen und vom Osten empfangend und beiden gebend.«

»Ich glaubte immer«, sagte Nino, »das Element des Kaukasiers sei der Kampf. Und nun sitze ich zwischen zwei Kaukasiern, von denen keiner kämpfen will.«

Nachararjan blickte sie nachsichtig an.

»Beide wollen kämpfen, Prinzessin, beide, aber nicht gegeneinander. Eine steile Wand trennt uns von den Russen. Diese Wand ist das kaukasische Gebirge. Siegen die Russen, dann wird unser Land vollends russisch. Wir verlieren unsere Kirchen, unsere Sprache, unsere Eigenart. Wir werden Bastarde von Europa und Asien, anstatt die Brücke zwischen den beiden Welten zu bilden. Nein, wer für den Zaren kämpft, kämpft gegen den Kaukasus.«

Die Schulweisheit des Lyzeums der heiligen Tamar sprach aus Nino:

»Perser und Türken zerrissen unser Land. Der Schah verwüstete den Osten, der Sultan den Westen. Wie viele georgische Sklavinnen kamen in den Harem! Die Russen sind ja nicht von selbst einmarschiert. Wir haben sie gerufen. Georg XII. hat freiwillig seine Krone dem Zaren abgetreten: ›Nicht zur Mehrung der ohnehin unendlichen Gebiete unseres Kaiserreiches übernehmen wir den Schutz über das Königreich Georgien.‹ Kennt ihr denn nicht diese Worte?«

Natürlich kannten wir sie. Acht Jahre lang hatte man uns in der Schule den Wortlaut des Manifestes eingehämmert, das Alexander I. vor hundert Jahren an uns erlassen hatte. An der Hauptstraße von Tiflis standen diese Worte auf bronzener Tafel: »Nicht zur Mehrung der ohnehin unendlichen…«

Nino hatte nicht unrecht. Die Harems des Orients waren damals voll von gefangenen kaukasischen Frauen, die Straßen der kaukasischen Städte voll von christlichen Leichen. Ich hätte ja Nino antworten können: »Ich bin Mohammedaner, ihr seid Christen. Gott hat uns euch zur Beute geschenkt.« Ich schwieg aber und wartete auf die Antwort Nachararjans.

»Sehen Sie, Prinzessin«, sagte er, »ein politisch denkender Mensch muß den Mut zur Ungerechtigkeit, zur Unobjektivität aufbringen. Ich gebe zu: mit den Russen kam Friede ins Land. Diesen Frieden können aber wir, die Völker Kaukasiens, jetzt auch ohne die Russen aufrechterhalten. Die Russen geben an, daß sie uns voreinander schützen müssen. Deshalb die russischen Regimenter, die russischen Beamten und Gouverneure. Aber Prinzessin, urteilen Sie selbst, müssen Sie vor mir geschützt werden? Muß ich vor Ali Khan geschützt werden? Saßen wir nicht alle friedlich im Kreise auf dem bunten Teppich in Pechachpur bei Schuscha? Persien ist doch heute kein Feind mehr, vor dem sich die kaukasischen Völker fürchten müßten. Der Feind sitzt im Norden, und dieser Feind redet uns ein, wir seien Kinder, die voreinander geschützt werden sollten. Wir sind aber schon lange keine Kinder mehr.«

»Und darum gehen Sie nicht in den Krieg?« fragte Nino.

Nachararjan hatte zuviel Sekt getrunken.

»Nicht nur darum«, sagte er, »ich bin faul und bequem. Ich verüble den Russen die Beschlagnahme der armenischen Kirchengüter, und auf der Terrasse dieses Klubs ist es schöner als in den Schützengräben. Meine Familie hat genug Ruhm gesammelt. Ich bin ein Genießer.«

»Ich bin anderer Meinung«, sagte ich, »ich bin kein Genießer, und ich liebe den Krieg. Aber nicht diesen Krieg.«

»Sie sind jung, mein Freund«, sagte Nachararjan und trank.

Er sprach lange und sicherlich sehr klug. Als wir aufbrachen, war Nino beinahe von der Richtigkeit seiner Gedanken überzeugt. Wir fuhren im Auto Nachararjans nach Hause. »Diese herrliche Stadt«, sagte er unterwegs, »die Pforte Europas. Wenn Rußland nicht so zurückgeblieben wäre, wären wir bereits ein europäisches Land.«

Ich dachte an die seligen Zeiten meines Geographieunterrichts und lachte vergnügt.

Es war ein guter Abend. Zum Abschied küßte ich Ninos Augen und Hände, während Nachararjan zum Meer blickte. Später brachte er mich bis zur Pforte Zizianaschwilis… Weiter kam das Auto nicht. Hinter der Mauer begann Asien.

»Werden Sie Nino heiraten?« fragte er noch.

»Inschallah, so Gott will.«

»Sie werden einige Schwierigkeiten zu überwinden haben, mein Freund. Falls Sie Hilfe brauchen, stehe ich Ihnen zur Verfügung. Ich bin dafür, daß sich die ersten Familien unserer Völker verschwägern. Wir müssen einig sein.«

Ich drückte ihm warm die Hand. Es gab also wirklich anständige Armenier. Die Entdeckung war verwirrend.

Ermüdet betrat ich das Haus. Der Diener hockte am Boden und las. Ich blickte in das Buch. Die arabische Zierschrift des Korans schlängelte sich über die Seiten. Der Diener stand auf und grüßte. Ich nahm das göttliche Buch und las:

»Oh, ihr, die ihr glaubt, sehet: der Wein, das Spiel, die Bilder sind ein Greuel und Satanswerk. Meidet sie, vielleicht ergeht es euch dann wohl. Der Satan will euch abwenden von den Gedanken an Allah und vom Gebet.«

Die Seiten des Korans dufteten süßlich. Das dünne, gelbliche Papier knisterte. Das Wort Gottes, eingeklemmt zwischen zwei Lederdeckel, war streng und mahnend. Ich gab das Buch zurück und ging auf mein Zimmer. Der breite niedrige Diwan war weich. Ich schloß die Augen, wie immer, wenn ich besonders gut sehen wollte. Ich sah Sekt, Eugen Onegin auf dem Ball, die hellen Schafsaugen Nachararjans, Ninos sanfte Lippen und die Schar der Feinde, die über die Bergmauer flutet, um unsere Stadt zu bezwingen.

Von der Straße herauf kam eintöniger Gesang. Es war Haschim, der Verliebte. Er war sehr alt, und niemand wußte, welcher Liebe er nachtrauerte. Man nannte ihn mit dem arabischen Ehrennamen Madjnun, der Liebeskranke.

Zur Nachtzeit schlich er durch die leeren Gassen, setzte sich irgendwo an einer Straßenecke nieder und weinte und sang bis zum Morgengrauen von seiner Liebe und seinem Schmerz.

Der monotone Klang seiner Lieder wirkte einschläfernd. Ich drehte mich zur Wand und versank in Dunkel und Traum.

Das Leben war immer noch sehr schön.