37289.fb2 Ali und Nino - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 19

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19. Kapitel

Frauen und Kinder zogen im Gänsemarsch durch das Dorf. Ihre Gesichter waren müde und abgespannt. Sie kamen von weit her. In der Hand hielten sie kleine Säcke. Die Säcke waren mit Erde und Dünger gefüllt. Wie einen kostbaren Schatz drückten sie die Erde an die Brust. Sie hatten sie in fernen Tälern gesammelt und Schafe, Silbermünzen und Stoffe dafür hergegeben. Sie wollten die harten Felsen ihrer Heimat mit der kostbaren Erde bestreuen, damit das karge Land Korn gebäre dem Volke zur Nahrung.

Schräg über dem Abgrund hingen die Felder. An einer Kette angebunden, ließen sich die Menschen auf die kleine Fläche hinabgleiten. Vorsichtige Hände streuten behutsam die Erde auf den felsigen Boden. Eine rohe Mauer wurde über den künftigen Feldern errichtet, um das dünne Erdreich vor Wind und Lawinen zu schützen. So entstanden Äcker inmitten der verwitterten zackigen Felsen Daghestans. Drei Schritt breit, vier Schritt lang. Kostbarstes Gut dieses Volkes der Berge. Frühmorgens zogen die Männer auf die Felder. Lange betete der Bauer, bevor er sich über die gute Erde beugte. Bei großem Wind holten die Frauen ihre Decken und breiteten sie über das teure Land. Sie liebkosten die Saat mit ihren schmalen, braunen Händen und schnitten mit kleinen Sensen die spärlichen Halme ab. Sie zerrieben die Körner und buken flache, längliche Brote. In das erste Brot wurde eine Münze gelegt, als Dank des Volkes an das Wunder der Saat.

Ich ging an der Mauer des kleinen Ackers entlang. Oben auf den Feldern stolperten die Schafe herum. Ein Bauer mit breitem, weißem Filzhut kam auf zweirädrigem Karren daher gefahren. Die Räder des Karrens quietschten wie schreiende Säuglinge. Weithin hörte man das durchdringende Geräusch.

»Brüderchen«, sagte ich, »ich werde nach Baku schreiben, damit man dir Öl schickt. Du solltest die Achsen deines Karrens schmieren.«

Der Bauer grinste.

»Ich bin ein einfacher Mensch, ich verberge mich nicht. Jeder kann hören, daß mein Karren naht. Deshalb schmiere ich nie die Achsen. Das tun nur die Abreken.«

»Die Abreken?«

»Ja, die Abreken, die Ausgestoßenen.«

»Gibt es noch viele Abreken?«

»Es gibt ihrer genug. Sie sind Räuber und Mörder. Manche morden zum Wohl des Volkes. Manche zum eigenen Nutzen. Aber jeder muß einen schrecklichen Schwur leisten.«

»Was für einen Schwur?«

Der Bauer hielt den Karren an und stieg aus. Er lehnte sich an die Mauer seines Feldes. Er holte salzigen Schafkäse hervor und zerbrach ihn mit seinen langen Fingern. Ich bekam ein Stück. Dunkle Schafhaare steckten in der zähen Käsemasse. Ich aß.

»Der Schwur des Abreken. Du kennst ihn nicht? Um Mitternacht schleicht der Abreke in die Moschee und schwört:

›Ich schwöre bei dem heiligen Ort, den ich verehre, von heute ab ein Ausgestoßener zu sein. Ich will Menschenblut vergießen und mit niemandem Erbarmen haben. Ich werde die Menschen verfolgen. Ich schwöre, ihnen alles zu rauben, was ihrem Herzen, ihrem Gewissen, ihrer Ehre teuer ist. Ich werde den Säugling an der Mutterbrust erdolchen, die letzte Hütte des Bettlers in Flammen setzen und überallhin, wo bis jetzt Freude herrschte, den Kummer bringen. Wenn ich diesen Schwur nicht erfülle, wenn Liebe oder Mitleid mein Herz beschleichen, so möge ich nie das Grab meines Vaters erblicken, möge das Wasser nie meinen Durst und das Brot nie meinen Hunger stillen, möge meine Leiche auf dem Wege liegenbleiben, und ein schmutziger Hund seine Notdurft an ihr verrichten.‹«

Die Stimme des Bauern klang ernst und feierlich. Sein Gesicht war der Sonne zugewandt. Er hatte grüne, tiefe Augen.

»Ja«, sagte er, »das ist der Schwur des Abreken.«

»Wer legt denn solchen Schwur ab?«

»Menschen, die viel Unrecht erlitten haben.«

Er schwieg. Ich ging heim. Die viereckigen Hütten des Auls glichen Würfeln. Die Sonne brannte. War ich selber ein Abrek, ausgestoßen, vertrieben in die wilden Berge?

Sollte auch ich den blutigen Schwur ablegen, wie die Räuber der daghestanischen Berge? Ich betrat das Dorf. Die Worte des finstern Schwures klangen lockend in meinen Ohren. Vor meiner Hütte sah ich drei gesattelte fremde Pferde. Eins davon mit silbernem Zaumzeug. Auf der Terrasse des Hauses saß ein sechzehnjähriger dicker Knabe mit einem goldenen Dolch im Gurt. Er winkte mir zu und lachte. Es war Arslan Aga, ein Junge aus unserer Schule. Sein Vater hatte viel Öl und der Knabe eine schwache Gesundheit. Deshalb fuhr er oft in die Bäder nach Kislowodsk. Ich kannte ihn kaum, denn er war viel jünger als ich. Hier in der Einsamkeit des Bergdorfes umarmte ich ihn wie einen Bruder. Er wurde rot vor Stolz und sagte:

»Ich ritt gerade mit meinen Dienern am Dorf vorbei und beschloß, Sie zu besuchen.«

Ich schlug ihm auf die Schulter.

»Seien Sie mein Gast, Arslan Aga. Heute feiern wir zu Ehren der Heimat.«

Dann rief ich in die Hütte:

»Kasi Mullah, bereite alles zu einem Fest. Ich habe einen Gast aus Baku.«

Eine halbe Stunde später saß Arslan Aga vor mir, aß Hammelbraten und Kuchen und schmolz vor Wonne.

»Ich bin so froh, Sie zu sehen, Ali Khan. Sie leben wie ein Held, im fernen Dorf, und verbergen sich vor Blutfeinden. Sie können ruhig sein. Ich verrate niemandem Ihr Versteck.«

Ich konnte ruhig sein. Offenbar wußte ganz Baku, wo ich mich aufhalte.

»Wie erfuhren Sie, daß ich hier bin?«

»Seyd Mustafa hat es mir gesagt. Ich stellte fest, daß Ihr Dorf an meiner Strecke liegt, und er bat, Sie zu grüßen.«

»Wo fahren Sie denn hin, Arslan Aga?«

»Nach Kislowodsk, zu den Bädern. Die beiden Diener begleiten mich.«

»Ach so.« Ich lächelte. Er blickte harmlos drein.

»Sagen Sie, Arslan Aga, warum sind Sie denn nicht direkt mit der Bahn gefahren?«

»Gott, ich wollte etwas Bergluft atmen. Ich stieg in Machatsch-Kale aus und schlug den direkten Weg nach Kislowodsk ein.«

Er stopfte sich den Mund voll Kuchen und kaute vergnügt.

»Aber der direkte Weg ist doch drei Tagereisen von hier entfernt.«

Arslan Aga tat sehr verwundert.

»So? Da hat man mich also falsch informiert. Aber ich freue mich dennoch, denn nun habe ich Sie wenigstens besucht.«

Der Lümmel hatte offenbar den Umweg nur gemacht, um zu Hause erzählen zu können, daß er mich gesehen habe. Ich mußte in Baku ziemlich berühmt geworden sein.

Ich goß ihm Wein ein, und er trank in großen Schlucken. Dann wurde er zutraulicher.

»Haben Sie inzwischen noch jemanden umgebracht, Ali Khan? Bitte, bitte, sagen Sie es mir, ich erzähle es bestimmt nicht weiter.«

»Ja, noch ein paar Dutzend Menschen.«

»Nein, was Sie sagen!«

Er war entzückt und trank Wein. Ich schenkte nach.

»Werden Sie Nino heiraten? In der Stadt schließt man Wetten darüber ab. Die Leute sagen, Sie lieben sie noch immer.«

Er lachte vergnügt und trank weiter.

»Wissen Sie, wir waren alle so überrascht. Tagelang sprachen wir von nichts anderm.«

»Soso. Was gibt es denn Neues in Baku, Arslan Aga?«

»Oh, in Baku. Nichts. Eine neue Zeitung ist gegründet worden. Die Arbeiter streikten. In der Schule sagen die Lehrer, Sie wären schon immer so jähzornig gewesen. Sagen Sie, wie haben Sie es bloß herausgekriegt?«

»Lieber Arslan, teurer Freund, genug gefragt. Jetzt ist die Reihe an mir. Haben Sie Nino gesehen? Oder jemanden von den Nachararjans? Was machen die Kipianis?«

Der Kuchen blieb dem Armen im Halse stecken.

»Oh, ich weiß nichts, gar nichts. Ich habe niemanden gesehen. Ich ging so selten aus.«

»Warum denn, mein Freund? Waren Sie krank?«

»Ja, ja. Ich war krank. Sogar sehr krank. Ich hatte die Diphtherie. Stellen Sie sich vor — ich mußte täglich fünf Klistiere bekommen.«

»Gegen die Diphtherie?«

»Ja.«

»Trinken Sie, Arslan Aga. Es ist sehr gesund.«

Er trank. Dann beugte ich mich zu ihm und fragte:

»Teurer Freund, wann haben Sie zuletzt die Wahrheit gesprochen?«

Er blickte mich mit Unschuldsaugen an und sagte offen:

»In der Schule, als ich noch wußte, wieviel drei mal drei ist.«

Er war schon sehr betrunken, der gute Junge. Ich nahm ihn ins Verhör. Der Wein war sehr süß, und Arslan Aga noch sehr jung. Er gestand, daß er aus reiner Neugierde hergekommen war, er gestand, daß er keinerlei Diphtherie gehabt hatte und den gesamten Klatsch von Baku in- und auswendig kannte.

»Die Nachararjans werden dich ermorden«, plapperte er, »wollen aber auf eine günstige Gelegenheit warten. Sie haben es nicht eilig. Ich besuchte manchmal die Kipianis. Nino war lange krank. Dann brachte man sie nach Tiflis.

Jetzt ist sie wieder zurück. Ich habe sie beim Ball des Städteverbandes gesehen. Weißt du — sie trank Wein, als ob es Wasser wäre, und lachte den ganzen Abend. Sie tanzte nur mit Russen. Die Eltern wollen sie nach Moskau schicken, aber sie will nicht. Sie geht täglich aus, und alle Russen sind verliebt in sie. Iljas Beg hat einen Orden und Mehmed Haidar eine Verwundung bekommen. Nachararjans Villa ist abgebrannt, und ich hörte, daß seine Freunde sie angezündet haben. Ja, noch was. Nino hat sich einen Hund angeschafft und prügelt ihn täglich unbarmherzig. Niemand weiß, wie sie den Hund nennt — einige sagen Ali Khan, andere sagen Nachararjan. Ich glaube, sie nennt ihn Seyd Mustafa. Deinen Vater habe ich auch gesehen. Er sagte, er wird mich verprügeln, wenn ich noch lange so viel klatsche. Kipianis haben sich in Tiflis angekauft. Vielleicht übersiedeln sie ganz dorthin.«

Ich sah ihn gerührt an.

»Arslan Aga, was soll bloß aus dir werden?«

Er schaute trunken zu mir herüber und antwortete:

»König.«

»Was?«

»Ich will König werden in einem schönen Land mit viel Kavallerie.«

»Und sonst?«

»Sterben.«

»Wieso?«

»Bei der Eroberung meines Königreichs.«

Ich lachte, und er war sehr gekränkt.

»In den Karzer haben sie mich gesteckt, die Schurken, für drei Tage.«

»In der Schule?«

»Ja, und rate, warum. Weil ich wieder einmal für die Zeitung geschrieben habe. Über die Mißhandlung der Kinder in den Mittelschulen. Gott, war das ein Spektakel.«

»Aber, Arslan, ein anständiger Mensch schreibt doch nicht für Zeitungen.«

»Doch, und wenn ich zurückkomme, werde ich auch über dich schreiben. Ohne deinen Namen zu nennen. Ich bin diskret und dein Freund. Etwa so: ›Die Furcht vor den Blutfeinden oder ein bedauernswerter Brauch unseres Volkes‹.«

Er leerte den Rest der Flasche, ließ sich auf die Matte fallen und schlief sofort ein. Sein Diener kam und sah mich mißbilligend an, als wollte er sagen: Sie sollten sich schämen, Ali Khan, das gute Kind so betrunken zu machen.

Ich ging hinaus. So eine kleine, entartete Ratte, dieser Arslan Aga. Wahrscheinlich war die Hälfte gelogen. Warum sollte Nino einen Hund prügeln? Weiß der Himmel, wie sie den Köter nennt!

Ich ging die Dorfstraße hinunter und setzte mich irgendwo am Rande nieder. Die Felsen waren aufgetürmt wie die Mondschatten und starrten grimmig. Erinnerten sie sich des Gewesenen oder des Geträumten? Die Sterne am dunklen Himmel waren wie die Lichter Bakus. Tausende von Lichtstrahlen kamen aus der Unendlichkeit und trafen sich in meinen Pupillen. So saß ich eine Stunde und mehr und blinzelte zum Himmel empor.

Sie tanzt also mit den Russen, dachte ich, und hatte plötzlich den Wunsch, in die Stadt zurückzukehren, um den Spuk der nächtlichen Irrfahrt zu vollenden. Eine Eidechse kroch raschelnd an mir vorbei. Ich ergriff sie. Ihr zu Tode erschrockenes Herz pochte in meiner Hand. Ich streichelte ihre kalte Haut. Ihre kleinen Augen waren starr vor Furcht oder Weisheit. Ich hob sie zu meinem Gesicht. Sie war wie ein lebendig gewordener Stein, uralt, verwittert, mit welker Haut.

»Nino«, sagte ich zu ihr und dachte an den Hund, »Nino, soll ich dich auch prügeln? Aber wie prügelt man eine Eidechse?«

Plötzlich öffnete das Geschöpf den Mund. Eine kleine spitze Zunge kam zum Vorschein und verschwand sofort wieder. Ich lachte. Die Zunge war rührend und behend. Ich öffnete die Hand, und die Eidechse verschwand im dunklen Gestein.

Ich erhob mich und ging zurück. Arslan lag noch immer auf dem Boden und schlief. Sein Kopf ruhte auf den Knien des besorgten Dieners.

Ich ging auf das Dach und rauchte Haschisch bis zur Stunde des Gebets.