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Ich weiß selber nicht, wie es kam. Eines Tages wachte ich auf und sah Nino vor mir. »Du bist ein Langschläfer geworden, Ali Khan«, sagte sie und setzte sich an den Rand meiner Matte, »außerdem schnarchst du, und das gehört sich nicht.«
Ich erhob mich und war gar nicht verwundert.
»Das Schnarchen kommt vom Haschisch«, sagte ich finster.
Nino nickte.
»Dann hörst du eben auf, Haschisch zu rauchen.«
»Warum schlägst du den Hund, du Elende?«
»Den Hund? Ach so! Ich fasse ihn mit der linken Hand am Schweif und haue ihn mit der Rechten auf den Rücken, bis er jault.«
»Und wie nennst du ihn dabei?«
»Ich nenne ihn Kilimandscharo«, sagte Nino sanft.
Ich rieb mir die Augen, und plötzlich sah ich wieder alles klar vor mir: Nachararjan, das Pferd aus Karabagh, den mondübergossenen Landweg und Nino im Sattel des Seyds.
»Nino«, schrie ich und sprang auf, »wie kommst du hierher?«
»Arslan Aga hat in der Stadt erzählt, daß du mich ermorden willst. Da bin ich gleich hergekommen.«
Ihr Gesicht neigte sich zu mir. Ihre Augen waren voll Tränen.
»Ich habe mich so gesehnt nach dir, Ali Khan.«
Meine Hand vergrub sich in Ninos Haaren. Ich küßte sie, ihre Lippen öffneten sich. Die feuchte Wärme ihres Mundes berauschte mich. Ich legte sie auf die Matte und riß mit einem Griff die bunte Hülle ab, die Nino verdeckte. Ihre Haut war weich und duftend. Zärtlich streichelte ich sie. Sie atmete heftig. Sie blickte mir in die Augen, und ihr kleiner Busen bebte in meiner Hand. Ich ergriff sie, und sie stöhnte auf in meiner festen Umarmung. Ihre Rippen zeichneten sich unter ihrer Haut und waren schmal und zart. Ich legte mein Gesicht auf ihre Brust.
»Nino«, sagte ich, und als wäre in diesem Wort eine geheime, unfaßbare Kraft, verschwand plötzlich alles Sichtbare und Gegenwärtige. Es waren nur zwei große, feuchte georgische Augen da, die alles widerspiegelten: Angst, Freude, Neugierde und den jähen, schneidenden Schmerz.
Sie weinte nicht. Aber plötzlich ergriff sie die Decke und verkroch sich unter die warmen Daunen. Sie barg ihr Gesicht an meiner Brust, und jede Bewegung ihres schmalen Körpers war wie ein Ruf der Erde, die nach gnadenspendendem Regen durstet. Behutsam zog ich die Decke herab. Die Zeit stand still.
Wir schwiegen, ermattet und glücklich. Plötzlich sagte Nino:
»So, jetzt fahre ich heim, denn ich sehe, du mordest mich gar nicht.«
»Bist du allein gekommen?«
»Nein, Seyd Mustafa hat mich hergebracht. Er sagte, er bringt mich her und erschlägt mich, wenn ich dich enttäusche. Er sitzt draußen mit einem Revolver. Wenn ich dich enttäuscht habe, rufe ihn.«
Ich rief ihn nicht. Ich küßte sie.
»Nur dazu bist du hergekommen?«
»Nein«, sagte sie offen.
»Erzähle, Nino.«
»Was?«
»Warum schwiegst du damals, im Sattel des Seyds?«
»Aus Stolz.«
»Und warum bist du jetzt hier?«
»Auch aus Stolz.«
Ich nahm ihre Hand und spielte mit ihren rosigen Fingern.
»Und Nachararjan?«
Nino rieb ihre Nase an meiner Brust.
»Nachararjan«, sagte sie gedehnt, »du sollst nicht denken, daß er mich gegen meinen Willen entführt hat. Ich wußte, was ich tat, und hielt es für richtig. Es war aber falsch. Ich war die Schuldige und mir gebührte der Tod. Deshalb schwieg ich auch, und deshalb kam ich auch hierher. So, jetzt weißt du alles.«
Ich küßte ihre warme Handfläche. Sie sprach die Wahrheit, obwohl der andere tot war und die Wahrheit Gefahr für sie enthielt.
Sie erhob sich, blickte sich im Zimmer um und sagte düster:
»Jetzt fahre ich heim. Du brauchst mich nicht zu heiraten. Ich fahre nach Moskau.«
Ich ging zur Tür und öffnete einen Spalt. Der Pockennarbige saß draußen, mit gekreuzten Beinen und einem Revolver in der Hand. Sein grüner Gurt war eng um den Bauch geschnallt.
»Seyd«, sagte ich, »rufe einen Mullah und noch einen Zeugen. In einer Stunde heirate ich.«
»Ich rufe keinen Mullah«, sagte Seyd, »ich hole nur zwei Zeugen. Ich nehme selbst die Trauung vor. Ich bin dazu berechtigt.«
Ich schloß die Tür. Nino saß im Bett, und ihr schwarzes Haar fiel auf ihre Schultern. Sie lachte.
»Ali Khan, bedenke, was du tust. Du heiratest ein gefallenes Mädchen.«
Ich legte mich zu ihr, und unsere Körper schmiegten sich fest aneinander.
»Willst du mich wirklich heiraten?« fragte Nino.
»Wenn du mich nimmst, ich bin ja ein Kanly. Feinde suchen mich.«
»Ich weiß. Aber bis hierher kommen sie nicht. Wir bleiben einfach hier.«
»Nino, du willst hierbleiben? In diesem Bergnest, ohne Haus, ohne Diener?«
»Ja«, sagte sie, »ich will hierbleiben, denn du mußt hierbleiben. Ich werde das Haus führen, Brot backen und eine gute Frau sein.«
»Wirst du dich nicht langweilen?«
»Nein«, sagte sie einfach, »wir werden ja unter einer Decke liegen.«
Es klopfte an der Tür. Ich zog mich an. Nino schlüpfte in meinen Schlafrock. Seyd Mustafa, mit frisch gebundenem, grünem Turban, trat ein. Hinter ihm zwei Zeugen. Er setzte sich auf den Boden. Aus dem Gurt zog er einen Messingbehälter mit Tinte und Federn. »Nur zum Ruhme Gottes« stand auf dem Behälter geschrieben. Er entfaltete einen Papierbogen und legte ihn auf die linke Handfläche.
Er tauchte eine Feder aus Bambus in die Tinte. Mit zierlicher Schrift schrieb er: »Im Namen Gottes, des Allerbarmers, des Allbarmherzigen.«
Dann wandte er sich zu mir:
»Wie heißen Sie, mein Herr?«
»Ali Khan, Sohn des Safar Khan aus dem Hause Schirwanschir.«
»Glaube?«
»Mohammedaner, schiitischer Richtung, in der Auslegung des Imam Dschafar.«
»Was wünschen Sie?«
»Meinen Willen kundzugeben, diese Frau zu mir zu nehmen.«
»Wie heißen Sie, meine Dame?«
»Prinzessin Nino Kipiani.«
»Glaube?«
»Griechisch-orthodox.«
»Was wünschen Sie?«
»Die Frau dieses Mannes zu sein.«
»Gedenken Sie, Ihren Glauben beizubehalten oder die Religion Ihres Mannes anzunehmen?«
Nino zögerte eine Weile, dann hob sie den Kopf und sagte stolz und entschlossen:
»Ich gedenke, meinen Glauben beizubehalten.«
Seyd schrieb. Der Bogen glitt über seine Handfläche und bedeckte sich mit schöngeschwungenen arabischen Lettern. Der Ehekontrakt war fertig.
»Unterschreibt«, sagte Seyd.
Ich setzte meinen Namen darunter.
»Welchen Namen muß ich nun schreiben?« fragte Nino.
»Ihren neuen.«
Sie schrieb mit fester Hand: »Nino Hanum Schirwanschir.«
Dann folgten die Zeugen, Seyd Mustafa zog sein Namenssiegel hervor und drückte es auf das Papier. In schönster Kufi-Schrift stand da geschrieben: »Hafis Seyd Mustafa Meschedi, Sklave des Herrn der Welt.« Er überreichte mir das Dokument.
Dann umarmte er mich und sagte auf Persisch:
»Ich bin kein guter Mensch, Ali Khan. Aber Arslan Aga hat mir erzählt, daß du ohne Nino in den Bergen verkommst und dich dem Trunke ergibst. Das ist eine Sünde. Nino bat, sie hierherzubringen. Wenn es wahr ist, was sie sagte, dann liebe sie. Wenn es nicht wahr ist, töten wir sie morgen.«
»Es ist nicht mehr wahr, Seyd Mustafa, aber wir töten sie dennoch nicht.«
Er blickte verblüfft drein, sah sich im Zimmer um und lachte.
Eine Stunde später wurde die Haschischpfeife feierlich in den Abgrund versenkt.
Das war die ganze Hochzeit.
Unerwarteterweise begann das Leben wieder schön zu werden. Sogar sehr schön. Das Dorf lächelte, wenn ich über die Straße ging, und ich lächelte zurück, denn ich war glücklich. Frühmorgens sah ich, wie Nino barfuß und mit leerem Tonkrug in der Hand zum Bach eilte. Sie kehrte zurück, die nackten Fersen vorsichtig auf das kantige Gestein setzend. Den Wasserkrug trug sie auf der rechten Schulter. Ihre schmale Hand umklammerte fest das Gefäß. Nur einmal, ganz zu Anfang, stolperte sie und ließ den Krug fallen. Sie weinte bitterlich über die Schande. Nachbarfrauen trösteten sie. Täglich holte Nino das Wasser. Zusammen mit allen Frauen des Dorfes. Im Gänsemarsch gingen die Frauen den Berg hinauf, und ich sah von weitem Ninos nackte Beine und ernst nach vorne gerichtete Blicke. Mich sah sie nicht an, und auch ich blickte an ihr vorbei. Sie erfaßte sofort das Gesetz der Berge. Nie, unter keinen Umständen, vor andern Leuten seine Liebe zeigen. Sie kam in die dunkle Hütte, schloß die Tür und setzte den Krug auf den Boden. Sie reichte mir das Wasser. Aus der Ecke holte sie Brot, Käse und Honig. Wir aßen mit den Händen, wie alle Leute im Aul, wir saßen auf dem Boden, und Nino erlernte bald die schwere Kunst des Sitzens mit gekreuzten Beinen. Nach dem Essen leckte Nino ihre Finger ab und zeigte dabei ihre weißen, glänzenden Zähne.
»Nach hiesiger Sitte«, sagte sie, »muß ich dir jetzt die Füße waschen. Da wir aber allein sind und ich zum Bach gelaufen bin, wirst du mir die Füße waschen.«
Ich setzte die kleinen, lustigen Spielzeuge, die sie Füße nannte, ins Wasser, und sie plätscherte darin herum, daß mir die Tropfen ins Gesicht spritzten. Dann gingen wir auf den Dachhof. Ich saß auf den Kissen, und Nino zu meinen Füßen. Manchmal summte sie ein Lied, manchmal schwieg sie, ihr Madonnengesicht mir zugewandt. Ich fühlte mich sehr wohl. So wohl wie noch nie. Am liebsten hätte ich mein ganzes Leben hier auf dem Dachhof verbracht. Allein mit Nino, die so kleine Füße hatte und knallrote, daghestanische Pumphosen trug. Nichts verriet an ihr, daß sie gewohnt war, anders zu leben, zu denken und zu handeln als alle andern Frauen im Aul.
Kein Mensch im Dorf hatte Diener, und sie weigerte sich auch, Dienerschaft aufzunehmen. Sie bereitete das Essen, plauderte mit den Nachbarsfrauen und erzählte mir die kleinen Klatschgeschichten des Dorfes. Ich ritt, ging auf die Jagd, brachte ihr das erlegte Wild und aß die seltsamen Speisen, die ihre Phantasie schuf und ihr Geschmack sofort verwarf.
Einmal fuhr ich nach Chunsach. Ich kehrte zurück, mit Erzeugnissen der Kultur beladen: einer Petroleumlampe, einer Laute, einem Grammophon und einem Seidenschal… Ihre Augen verklärten sich, als sie das Grammophon sah. Leider waren in ganz Chunsach nur zwei Platten aufzutreiben. Ein Bergtanz und eine Arie aus »Ai’da«. Wir spielten sie abwechselnd, bis sie voneinander nicht mehr zu unterscheiden waren. Nachts kauerte sie unter der Decke wie ein kleines Tierchen.
»Bist du glücklich, Ali Khan?«
»Sehr. Und du? Willst du nicht nach Baku?«
»Nein«, sagte sie ernst, »ich will zeigen, daß ich dasselbe kann, was alle Frauen Asiens können: ihrem Mann dienen.«
Aus Baku kamen spärliche Nachrichten. Ninos Eltern flehten uns an, in ein besseres Land zu ziehen, oder drohten, uns zu verfluchen. Ninos Vater kam einmal heraus. Er wurde rasend, als er die Hütte seiner Tochter sah.
»Um Gottes Willen, reist sofort ab, Nino wird krank in dieser Wildnis.«
»Ich war nie so gesund wie jetzt, Vater«, sagte Nino, »wir können nicht weg. Ich will noch nicht Witwe werden.«
»Aber es gibt ja noch neutrales Ausland, wo kein Nachararjan hinkommt. Spanien zum Beispiel.«
»Aber Vater, wie kommt man jetzt nach Spanien?«
»Über Schweden.«
»Ich fahre nicht über Schweden«, sagte Nino wütend. Der Fürst fuhr ab und sandte allmonatlich Wäsche, Kuchen und Bücher. Nino behielt die Bücher und verschenkte den Rest. Auch mein Vater kam heraus. Nino empfing ihn mit einem schüchternen Lächeln. So hatte sie in der Schule vor einem Gleichnis mit vielen Unbekannten gelächelt. Das Gleichnis war bald gelöst.
»Du kochst?«
»Ja.«
»Du holst das Wasser?«
»Ja.«
»Ich bin müde vom Weg, kannst du mir die Füße waschen?«
Sie holte den Topf und wusch ihm die Füße.
»Danke«, sagte er und griff zur Tasche. Er holte eine lange Kette rosiger Perlen hervor und legte sie Nino um den Hals. Dann speiste er und stellte fest:
»Du hast eine gute Frau, Ali Khan, aber eine schlechte Köchin. Ich schicke dir einen Koch aus Baku.«
»Bitte nicht«, rief Nino, »ich will meinem Mann dienen.«
Er lachte und schickte ihr aus der Stadt zwei Ohrringe mit großen Brillanten.
Es war friedlich in unserem Dorf. Nur einmal kam Kasi Mullah mit der großen Nachricht gelaufen: am Rande des Dorfes hatte man einen Fremden ergriffen. Offensichtlich einen Armenier. Bewaffnet. Das ganze Dorf lief zusammen. Ich war Gast des Auls. Mein Tod wäre ewige Schande auf der Ehre jedes einzelnen Bauern gewesen. Ich ging hinaus, um mir den Mann anzuschauen. Es war ein Armenier. Doch niemand wußte, ob er ein Nachararjan war. Die Dorfweisen kamen, berieten und fällten den Beschluß: den Mann zu verprügeln und aus dem Dorfe zu treiben. Sollte er ein Nachararjan sein, so würde er die andern warnen. Sollte er keiner sein, so würde Gott die gute Absicht der Bauern erkennen und ihnen vergeben.
Abends, wenn die Petroleumlampe erlosch, lag Nino neben mir und starrte in die Dunkelheit. Sie stellte lange Betrachtungen an: Ob es wirklich notwendig sei, in den Hammelbraten soviel Knoblauch zu geben, ob der Dichter Rustaveli mit der Königin Tamar ein Verhältnis gehabt habe? Was sie tun solle, wenn sie plötzlich im Dorf Zahnschmerzen bekäme? Und warum wohl die Nachbarin gestern ihren Mann mit dem Besen so schrecklich verprügelt habe?
»Das Leben birgt so viele Geheimnisse«, sagte sie bekümmert und schlief ein. Nachts wachte sie auf, stieß sich an meinem Ellbogen und brummte sehr stolz und überheblich: »Ich bin Nino«, dann schlief sie weiter, und ich bedeckte ihre schmalen Schultern mit der Decke.
Nino, dachte ich, eigentlich hast du Besseres verdient, als in einem Dorf in Daghestan zu leben.
Irgendwo auf einem andern Planeten tobte der Krieg. Wir wußten nichts davon. Die Berge waren erfüllt von Märchen aus den Zeiten Schamiis. Kriegsberichte erreichten uns nicht. Manchmal schickten uns Freunde Zeitungen. Ich las nie eine Zeile.
»Weißt du noch, daß Krieg ist?« fragte Nino einmal.
Ich lachte:
»Wirklich, Nino, ich habe es beinahe vergessen.«
Nein, es konnte kein besseres Leben geben, auch wenn es nur ein Spiel war zwischen Vergangenheit und Zukunft. Zufälliges Geschenk Gottes an Ali Khan Schirwanschir.
Da kam der Brief. Vom Reiter auf schaumbedecktem Pferd ins Haus gebracht. Nicht vom Vater und nicht vom Seyd. »Arslan Aga an Ali Khan« stand auf dem Brief.
»Was will er«, fragte Nino verwundert.
Der Reiter sagte:
»Es ist viel Post für Sie unterwegs. Arslan Aga gab mir viel Geld, damit Sie zuerst von ihm die Nachricht erfahren.«
Es ist aus mit dem Leben im Aul, dachte ich und öffnete den Brief. Ich las:
»Im Namen Gottes. Ich grüße Dich, Ali Khan. Wie geht es Dir, Deinen Pferden, Deinem Wein, Deinen Schafen und den Menschen, mit denen Du lebst? Auch mir geht es gut, auch meinen Pferden, meinem Wein und meinen Leuten. Wisse: Großes hat sich in unserer Stadt ereignet. Die Zuchthäusler gingen aus dem Gefängnis weg und spazieren jetzt in den Straßen. ›Wo bleibt denn die Polizei?‹ hör ich Dich fragen. Doch siehe — die Polizei sitzt jetzt dort, wo früher die Zuchthäusler saßen. Im Gefängnis am Meer. Und die Soldaten? Es gibt keine Soldaten. Ich sehe, mein Freund, Du schüttelst den Kopf und denkst Dir, wieso unser Gouverneur solches zuläßt. Erfahre also: unser weiser Gouverneur ist gestern weggelaufen. Er wurde müde, so schlechte Leute zu regieren. Er hinterließ einige Paar Hosen und eine alte Kokarde. Jetzt lachst Du, Ali Khan, und denkst, daß ich lüge. Staune, mein Freund, ich lüge nicht. Ich sehe, wie Du fragst: ›Ja, warum schickt denn der Zar keine neue Polizei und keinen neuen Gouverneur?‹ Erfahre also: es gibt keinen Zaren mehr. Es gibt überhaupt nichts mehr. Ich weiß noch nicht, wie das Ganze heißt, aber wir haben gestern den Schuldirektor verprügelt und niemand hinderte uns daran. Ich bin Dein Freund, Ali Khan, deshalb will ich, daß Du es zuerst durch mich erfährst, obwohl viele in dieser Stadt Dir heute schreiben. Erfahre also: alle Nachararjans sind nach Hause gefahren, und Polizei gibt es nicht mehr. Friede sei mit Dir, Ali Khan. Ich bin Dein Freund und Diener Arslan Aga.«
Ich blickte auf. Nino war plötzlich sehr blaß geworden.
»Ali Khan«, sagte sie, und ihre Stimme zitterte, »der Weg ist frei, wir fahren, wir fahren, wir fahren!«
Von einer seltsamen Ekstase ergriffen, wiederholte sie nur dieses eine Wort. Sie fiel mir um den Hals und schluchzte. Ihre nackten Füße strampelten ungeduldig im Sande des Hofes.
»Ja, Nino, natürlich fahren wir.«
Ich war froh und traurig zugleich. Die Berge glänzten in der gelben Pracht ihrer kahlen Felsen. Die Hütten glichen Bienenkörben, und der kleine Gebetturm lockte in stummer Mahnung.
Es war aus mit dem Leben im Aul.