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Seltsam! Als am öldurchtränkten Ufer von Bibi-Eibat die letzten Schüsse verklangen, glaubte ich, nie wieder glücklich sein zu können. Vier Wochen in den duftenden Gärten von Schimran, und Ruhe erfüllte mich. Ich war wie einer, der die Heimat wiedergefunden hat. Ich lebte wie eine Pflanze, die kühle Luft von Schimran einatmend.
Nur selten fuhr ich in die Stadt. Ich besuchte Verwandte und Freunde und schlenderte, von Dienern begleitet, durch das dunkle Labyrinth des Basars von Teheran.
Enge Pfade, Buden wie Zelte, das ganze von einem ungeheuren lehmigen Schirm überdeckt. Ich wühle in Rosen, Nüssen, Teppichen, Schals, Seidenzeug und Juwelen. Ich entdecke Krüge mit Goldmuster, uralte Filigranarbeit, Saffiankissen und seltene Parfüms. Schwere Silbertomane gleiten in die Taschen des persischen Händlers. Meine Diener sind mit allen Herrlichkeiten des Orients beladen. Alles für Nino. Ihr kleines Gesichtchen soll nicht so erschrocken in den Rosengarten blicken.
Die Diener beugen sich unter der Last. Ich gehe weiter. In einer Ecke gibt es Korane in Saffianleder und gemalte Miniaturen: ein Mädchen unter einer Zypresse und daneben ein Prinz mit mandelförmigen Augen; ein König auf der Jagd, eine Lanze und ein fliehendes Reh. Wieder klirren die Silbertomane. Etwas weiter hocken am niederen Tisch zwei Kaufherren. Aus einer breiten Tasche holt der eine Silbertomane hervor und reicht sie dem andern. Dieser prüft sie mit aufmerksamen Blicken, beißt sie an, wiegt sie auf einer kleinen Waage und steckt sie in einen großen Sack. Hundert-, tausend-, vielleicht zehntausendmal greift der Kaufmann in seine Tasche, ehe er die Schuld getilgt hat. Seine Gebärden sind voll Würde. Tidscharet! Handel! Der Prophet selbst war ein Kaufherr.
Verschlungen wie die Wege eines Irrgartens windet sich der Basar. Neben den beiden Kaufleuten hockt in der Bude ein weiser Mann und blättert in einem Buch. Das Gesicht des Greises gleicht einer moosüberwachsenen Felseninschrift, die feinen, langen Finger verraten Nachsicht und Schonung. Aus den vergilbten und verschimmelten Blättern des Folianten steigt der Duft der Schirasrose auf, der Laut der iranischen Nachtigall, jauchzender Gesang, die Vision mandelförmiger Augen und langer Wimpern. Vorsichtig blättert die gepflegte Hand in dem alten Buch.
Flüstern, Lärmen, Schreien. Ich feilsche um die zarten Farben eines uralten Teppichs aus Kerman. Nino liebt die sanften Linien des gewirkten Gartens. Jemand verkauft Rosenwasser und Rosenöl. Tausende von Rosen sind in einem Tropfen Rosenöl vereint, wie Tausende von Menschen in dem engen Labyrinth des Teheraner Basars. Ich sehe Nino über ein Schälchen Rosenöl gebeugt.
Erschöpft stehen die Diener da.
»Bringt das alles sofort nach Schimran. Ich komme später nach.«
Die Diener verschwinden in dem Gewirr der Menschen. Noch einige Schritte, und ich trete gebückt durch die niedrige Tür einer persischen Teestube. Die Stube ist voll Menschen. In der. Mitte ein Mann mit rotem Bart. Mit halbgeschlossenen Lidern rezitiert er ein Liebesgedicht von Hafis. Die Zuhörer seufzen in süßer Wonne. Dann liest der Mann aus der Zeitung:
»In Amerika wurde eine Maschine erfunden, die das gesprochene Wort der ganzen Welt hörbar macht. — Seine Kaiserliche Majestät der König der Könige, dessen Glanz die Sonne überstrahlt, dessen Hand zum Mars reicht, dessen Thron die Welt überragt, Sultan Achmed Schah, empfing in seinem Palais Bagheschah den Residenten des gegenwärtig in England regierenden Monarchen. — In Spanien ist ein Kind mit drei Köpfen und vier Füßen zur Welt gekommen. Die Bevölkerung deutet das als ein böses Omen.«
Die Zuhörer schnalzen verwundert mit den Zungen. Der Rotbärtige faltet die Zeitung zusammen. Wieder erklingt ein Lied. Dieses Mal vom Ritter Rustern und seinem Sohne Sorab. Ich höre kaum zu. Ich blicke in den goldenen, dampfenden Tee. Ich denke nach: es ist nicht alles ganz so, wie es sein sollte.
Ich bin in Persien, ich bewohne ein Palais und ich bin zufrieden. Nino bewohnt dasselbe Palais und ist ganz unzufrieden. In Daghestan nahm sie willig alle Entbehrungen des wilden Lebens auf sich. Hier versagt sie vor den würdigen Regeln der feierlichen persischen Etikette. Sie will mit mir durch die Straßen gehen, obwohl das polizeilich verboten ist. Mann und Frau dürfen weder gemeinsam Besuche empfangen, noch gemeinsam ausgehen. Sie bittet mich, ich möge ihr die Stadt zeigen, und ist gereizt, wenn ich es ihr ausreden will.
»Ich würde dir gern die Stadt zeigen, Nino. Aber ich darf der Stadt nicht dich zeigen.«
Ihre großen, dunklen Augen blicken vorwurfsvoll und verwirrt. Wie soll ich sie überzeugen, daß es für die Frau eines Khans wirklich nicht angeht, unverschleiert durch die Stadt zu wandeln. Ich kaufe die teuersten Schleier.
»Schau, Nino, wie schön sie sind. Wie sie das Gesicht vor Sonne und Staub schützen. Ich würde selbst gern einen Schleier tragen.«
Sie lächelt traurig und legt die Schleier weg.
»Es ist einer Frau unwürdig, ihr Gesicht zu verdecken, Ali Khan. Ich würde mich selbst verachten, wenn ich diese Tracht anlegte.«
Ich zeige ihr die Polizeiverordnung. Sie zerreißt sie, und ich bestelle eine geschlossene Kutsche mit geschliffenen Glasscheiben.
So fuhr ich mit ihr durch die Stadt. Am Kanonenplatz sah sie meinen Vater und wollte ihn begrüßen. Es war entsetzlich, und ich habe die Hälfte des Basars aufgekauft, um sie zu versöhnen…
Ich sitze allein und blicke in die Teetasse.
Nino vergeht vor Langeweile, an der ich nichts zu ändern vermag. Sie will mit den Frauen der europäischen Kolonie zusammenkommen. Doch geht es nicht an. Die Frau eines Khans soll nicht mit Frauen des Unglaubens zusammenkommen. Sie werden sie so lange bemitleiden, daß sie das Leben im Harem ertragen muß, bis sie es tatsächlich nicht mehr erträgt.
Kürzlich besuchte sie meine Kusinen und Tanten und kehrte ganz verstört nach Hause.
»Ali Khan«, rief sie verzweifelt, »sie wollten wissen, wie oft am Tage du mich mit deiner Liebe beehrst. Sie sagen, daß du immer bei mir bist. Das wissen sie von ihren Männern. Und sie können sich nicht vorstellen, daß wir auch etwas anderes tun. Sie gaben mir ein Mittel gegen Dämonen und empfahlen mir ein Amulett. Es soll mit Sicherheit vor einer Nebenbuhlerin schützen. Deine Tante Sultan Hanum fragte mich, ob es nicht ermüdend sei, die einzige Frau eines so jungen Mannes zu sein, und alle wollten wissen, wie ich es anstelle, daß du nie zu den Tanzknaben gehst. Deine Kusine Suata war neugierig zu erfahren, ob du noch nie eine schmutzige Krankheit gehabt hast. Sie behaupteten, daß ich zu beneiden sei. Ali Khan, ich fühle mich wie mit Kot beworfen.«
Ich tröstete sie, so gut ich konnte. Sie kauerte in der Ecke wie ein verstörtes Kind, blickte ängstlich um sich und konnte sich lange nicht beruhigen.
Der Tee wird ganz kalt. Ich sitze in der Teestube, damit die Leute sehen, daß ich nicht mein ganzes Leben im Harem verbringe. Es schickt sich nicht, immer bei seiner Frau zu sitzen. Meine Vettern spotten bereits. Nur bestimmte Stunden des Tages gehören der Frau. Die übrigen dem Manne. Aber ich bin Ninos einzige Zerstreuung, bin ihr Zeitung, Theater, Kaffeehaus, Bekanntenkreis und Ehemann zugleich. Deshalb kann ich sie nicht allein lassen, deshalb kaufe ich den ganzen Basar auf, denn heute abend ist großer Empfang beim Onkel zu Ehren meines Vaters, ein kaiserlicher Prinz wird anwesend sein, und Nino muß allein zu Hause bleiben, in Gesellschaft des Eunuchen, der sie erziehen will.
Ich verlasse den Basar und fahre nach Schimran. Im großen, teppichbelegten Saal sitzt Nino nachdenklich vor dem Berg von Ohrringen, Armbändern, Seidenschals und Parfümflaschen. Sie küßt mich still und zart, und Verzweiflung steigt plötzlich in mir auf. Der Eunuch bringt Scherbet und blickt mißbilligend auf die Geschenke. Man soll seine Frau nicht so verwöhnen.
Das Leben eines Persers beginnt in der Nacht. Nachts werden die Menschen lebendiger, die Gedanken leichter, die Worte gelöster. Hitze, Staub und Schmutz belasten den Tag. Nachts erwacht der Teschachüt, die seltsame persische Vornehmheit, die ich liebe und bewundere und die so ganz anders ist als die Welt Bakus, Daghestans oder Georgiens. Es war acht Uhr, als die Galakutschen des Onkels vor unserm Hause hielten, eine für meinen Vater, eine für mich. So verlangt es die Etikette. Vor jeder Kutsche drei Peschhedmeten, Herolde und Läufer, mit langen Laternen in der Hand, deren grelles Licht auf ihre inbrünstigen Gesichter fiel. In der Jugend war ihnen die Milz herausgeschnitten worden, und die Aufgabe ihres Lebens war lediglich, vor den Kutschen herzulaufen und mit tiefem Pathos »Achtung« zu rufen.
Der Weg war menschenleer. Trotzdem riefen die Läufer gleichmäßig ihr »Achtung«, denn auch das gehörte zur Etikette. Wir fuhren durch enge Gassen, an endlosen, grauen Lehmmauern vorbei, hinter denen sich Kasernen oder Hütten, Paläste oder Ämter verbergen. Auf die Straße blicken nur die grauen Lehmmauern, die das persische Leben vor unbefugten Blicken abschließen.
Die gewölbten Kuppeln der Basarläden glichen im Mondschein unzähligen Luftballons, von einer unsichtbaren Hand zusammengehalten. Wir hielten vor einer breiten Mauer, in die eine schöngeschwungene Messingpforte eingelassen war. Die Pforte öffnete sich, und wir fuhren in den Hof des Palais ein.
Wenn ich allein dieses Haus aufsuchte, stand an der Pforte ein alter Diener mit zerlumptem Rock. Heute hingen an der Front des Palastes Girlanden und Lampions, und acht Mann verbeugten sich, als die Wagen vor der Schwelle hielten.
Der ungeheure Hof war durch eine niedrige Mauer in zwei Hälften geteilt. Drüben war der Harem. Dort plätscherte die Fontäne und sang die Nachtigall. Im Männerhof befand sich ein einfaches, rechteckiges Bassin mit Goldfischen.
Wir stiegen aus. Der Onkel trat an die Schwelle. Seine kleine Hand verdeckte das Gesicht. Er verbeugte sich tief und begleitete uns ins Haus. Der große Saal mit den vergoldeten Säulen und geschnitzten Holzwänden war voller Menschen. Ich sah schwarze Lammfellmützen, Turbane und weite, dünne Gewänder aus dunkelbraunem Stoff. In der Mitte saß ein älterer Mann mit mächtig gebogener Nase, grauen Haaren und breitgeschwungenen Augenbrauen — Seine Kaiserliche Hoheit der Prinz. Alle erhoben sich, als wir eintraten. Wir grüßten zuerst den Prinzen, dann die andern. Wir ließen uns auf weiche Kissen nieder. Die Anwesenden folgten unserem Beispiel. So saßen wir eine Minute oder zwei. Dann sprangen wir alle auf und verbeugten uns erneut gegeneinander. Endlich setzten wir uns endgültig hin und versanken in würdiges Schweigen. Die Diener brachten bläuliche Tassen mit duftendem Tee. Körbe mit Obst wanderten von Hand zu Hand, und die Kaiserliche Hoheit brach das Schweigen mit den Worten:
»Ich bin weit gereist und kenne viele Länder. Es gibt nirgends Gurken oder Pfirsiche, die so wohlschmeckend wären wie die in Persien.«
Er schälte eine Gurke, bestreute sie mit Salz und aß langsam und mit traurigen Augen.
»Hoheit haben recht«, sagte mein Onkel, »ich war in Europa und staunte immer, wie klein und häßlich das Obst der Ungläubigen ist.«
»Ich atme jedesmal auf, wenn ich nach Persien zurückkehre«, sagte ein Herr, der das persische Kaiserreich an einem europäischen Hofe vertrat, »es gibt nichts, um das wir Perser die Welt zu beneiden brauchten. Eigentlich gibt es nur Perser und Barbaren.«
»Höchstens könnte man noch einige Inder dazurechnen«, meinte der Prinz, »als ich vor Jahren in Indien war, sah ich Menschen, die achtungswert waren und beinahe unsere Kulturstufe erreichten. Allerdings irrt man sich leicht. Ein vornehmer Inder, den ich kannte und den ich eine Zeitlang für voll nahm, erwies sich dann doch als Barbar. Ich war bei ihm zu Tisch, und, stellt euch nur vor, er aß die Außenblätter des Salats.«
Die Anwesenden waren entsetzt. Ein Mullah mit schwerem Turban und eingefallenen Wangen sagte mit leiser, müder Stimme:
»Der Unterschied zwischen den Persern und Nichtpersern ist, daß wir allein die Schönheit zu schätzen verstehen.«
»Es ist währ«, sagte mein Onkel, »mir ist ein schönes Gedicht lieber als eine lärmende Fabrik. Ich verzeihe Abu Seyd seine Ketzerei, weil er als erster die Rubayats, unsere schönste Versform, in die Literatur eingeführt hat.«
Er räusperte sich und rezitierte halb singend:
»Solange Moschee und Medresse
nicht verwüstet sind,
Wird das Werk der Wahrheitssucher nicht erfüllt sein.
Solange Glaube und Unglaube nicht eins sind,
Wird Mensch in Wahrheit nicht Muslim sein.«
»Schrecklich«, sagte der Mullah. »Schrecklich. Aber dieser Klang. Er erhob sich, nahm eine zierliche, silberne Wasserkanne, mit langen, schmalem Hals und ging torkelnden Schrittes aus dem Zimmer. Nach einer Weile kam er zurück und stellte die Kanne auf den Boden. Wir erhoben uns und beglückwünschten ihn laut, denn sein Körper hatte sich inzwischen des Überflüssigen entleert.
Indessen fragte mein Vater: »Ist es wahr, Hoheit, daß Wossugh ed Dawleh, unser Premierminister, mit England einen neuen Vertrag abschließen will?«
Der Prinz lächelte.
»Das müssen Sie Assad es Saltaneh fragen. Obwohl es eigentlich gar kein Geheimnis ist.«
»Ja«, sagte der Onkel, »es ist ein sehr guter Vertrag. Denn von nun ab werden die Barbaren unsere Sklaven sein.«
»Wieso?«
»Nun, die Engländer lieben die Arbeit und wir die Schönheit. Sie lieben Kampf, und wir lieben Ruhe. Also haben wir uns geeinigt. Wir brauchen uns nicht mehr um die Sicherheit unserer Grenzen zu sorgen. England übernimmt den Schutz Irans, baut Straßen, errichtet Gebäude und zahlt uns noch Geld dazu. Denn England weiß, was die Kultur der Welt uns verdankt.«
Der junge Mann neben dem Onkel war mein Vetter Bahram Khan Schirwanschir. Er hob den Kopf und sagte:
»Glauben Sie, daß England uns wegen unserer Kultur schützt oder wegen unseres Öls?«
»Beides leuchtet in der Welt und bedarf des Schutzes«, sagte der Onkel gleichgültig, »aber wir können doch nicht selbst Soldaten sein!?«
»Warum nicht?« Dieses Mal war ich es, der die Frage stellte, »ich zum Beispiel kämpfte für mein Volk und kann mir sehr gut vorstellen, daß ich auch weiterhin kämpfen würde.«
Assad es Saltaneh blickte mich mißbilligend an, und der Prinz setzte die Teetasse nieder.
»Ich wußte nicht«, sagte er überheblich, »daß es unter den Schirwanschirs Soldaten gibt.«
»Aber Hoheit! Er war ja eigentlich Offizier.«
»Es ist dasselbe, Assad es Saltaneh. Offizier«, wiederholte er spöttisch und spitzte die Lippen.
Ich schwieg. Ich hatte ganz vergessen, daß in den Augen eines vornehmen Persers Soldat sein nicht standesgemäß ist.
Nur der Vetter Bahram Khan schien anderer Meinung zu sein. Er war noch jung. Muschir ed Dawleh, ein vornehmer Würdenträger, der neben dem Prinzen saß, belehrte ihn umständlich, das gottbehütete Iran brauche kein Schwert mehr, um in der Welt zu leuchten. Es habe in der Vergangenheit den Mut seiner Söhne bewiesen.
»In der Schatzkammer des Königs der Könige«, schloß er, »gibt es einen Globus aus Gold. Darauf sind alle Länder mit verschiedenen Edelsteinen dargestellt. Aber nur die Fläche Irans ist mit reinsten Diamanten bedeckt. Das ist mehr als ein Symbol. Das ist Wahrheit.«
Ich dachte an die ausländischen Soldaten, die das Land besetzt hielten, und an die zerlumpten Polizisten im Hafen von Anseli. Hier war Asien, das vor Europa die Waffen streckte, aus Angst, selbst europäisch zu werden. Der Prinz verachtete das Handwerk des Soldaten und war dennoch der Nachfolger jenes Schahs, unter dem mein Ahne siegreich in Tiflis einzog. Damals verstand Iran, Waffen zu führen, ohne sein Gesicht zu verlieren. Die Zeiten hatten sich geändert. Iran verfiel wie in den Tagen der kunstbeflissenen Sefewiden. Dem Prinzen war ein Gedicht lieber als ein Maschinengewehr, vielleicht, weil er sich in Gedichten besser auskannte. Der Prinz war alt, der Onkel auch. Iran starb, aber es starb mit Grazie.
Mir fiel ein Gedicht Omars, des Zeltmachers, ein:
»Ein großes Schachbrett ward aus Nacht und Tag,
Wo das Geschick mit Menschen spielen mag.
Es stellt sie auf und bietet Schach und Matt
Und legt dann jeden wieder, wo er lag.«
Ich hatte gar nicht bemerkt, daß ich in Gedanken das Gedicht laut vor mich hingesprochen hatte. Das Gesicht des Prinzen erhellte sich.
»Sie waren wohl nur zufällig Soldat?« sagte er gnädig. »Sie sind doch ein Mensch mit Bildung. Wenn Sie die Wahl Ihres Schicksals hätten, würden Sie denn ernstlich den Beruf des Soldaten wählen?«
Ich verbeugte mich. »Was ich wählen würde, Hoheit? Nur vier Dinge: Rubinrote Lippen, Gitarrenklänge, weise Lehren und roten Wein.«
Dakikis berühmter Vers gewann mir die Gunst aller Anwesenden. Selbst der Mullah mit den eingefallenen Wangen lächelte huldvoll.
Es war um Mitternacht, als sich die Tür zum Speisezimmer öffnete. Wir traten ein. Über die Teppiche war ein endloses Tuch ausgebreitet. Diener mit Laternen standen regungslos in den Ecken. Große, weiße Brotfladen lagen auf dem Tuch. In der Mitte erhob sich die riesige Messingschüssel mit Pilaw. Unzählige kleine, große und mittlere Schüsseln bedeckten das Tuch. Wir nahmen Platz und aßen verschiedene Speisen aus verschiedenen Schüsseln. Jeder in der Reihenfolge, die ihm behagte. Wir aßen schnell, wie es die Sitte gebietet, denn das Essen ist das einzige, was der Perser schnell tut. Ein Berg von Reis dampfte in der Mitte des Saales. Der Mullah sprach ein kurzes Gebet.
Neben mir saß mein Vetter Bahram Khan. Er aß wenig und blickte neugierig zu mir herüber.
»Gefällt es dir in Persien?«
»Ja, sehr.«
»Wie lange willst du hier bleiben?«
»Bis die Türken Baku erobert haben.«
»Ich beneide dich, Ali Khan.«
Seine Stimme klang voll Bewunderung. Er rollte einen Brotfladen zusammen und füllte ihn mit heißem Reis.
»Du saßest hinter einem Maschinengewehr und sahst die Tränen in den Augen deiner Feinde. Irans Schwert ist verrostet. Wir schwärmen für Gedichte, die Firdausi vor tausend Jahren geschrieben, und wir können unfehlbar einen Vers Dakikis von einem Vers Rudakis unterscheiden. Aber keiner von uns weiß, wie man eine Autostraße baut oder wie man ein Regiment befehligt.«
»Autostraße«, wiederholte ich und dachte an das mondübergossene Melonenfeld bei Mardakjany. Es war gut, daß niemand in Asien wußte, wie man Autostraßen baut. Sonst könnte ein Pferd aus Karabagh nie und nimmer ein europäisches Auto einholen.
»Wozu brauchst du Autostraßen, Bahram Khan?«
»Um Soldaten auf Lastautos zu transportieren. Obwohl die Minister behaupten, daß wir gar keine Soldaten brauchen. Aber wir brauchen Soldaten! Wir brauchen Maschinengewehre, Schulen, Krankenhäuser, ein geordnetes Steuersystem, neue Gesetze und Leute wie dich. Was wir am wenigsten brauchen, sind alte Verse, bei deren wehmütigem Klang Iran zerfällt. Aber es gibt auch andere Lieder. Kennst du das Gedicht des Dichters Aschraf, der in Giljan wohnt?« Er beugte sich vor und rezitierte leise: ›»Leid und Kummer überfallen das Vaterland. Steh auf, geh hinter dem Sarge Irans. Die Jugend wurde im Leichenzuge Persiens erschlagen. Von ihrem Blute sind Mond, Felder, Hügel und Täler rot gefärbt‹.«
»Greuliche Reime, würde der Prinz sagen, denn sein Kunstsinn wäre tief verletzt.«
»Es gibt ein noch schöneres Gedicht«, sagte Bahram Khan hartnäckig, »der Verfasser heißt Mirza Aga Khan. Hör zu: ›Möge Iran das Schicksal erspart bleiben, vom ungläubigen Feind beherrscht zu werden. Die Braut Iran darf nicht das Lager des russischen Bräutigams teilen. Ihre überirdische Schönheit soll nicht der Freude des englischen Lords dienen‹.«
»Nicht schlecht«, sagte ich — und lächelte, denn das junge Persien unterschied sich vom alten in erster Linie durch schlechte Gedichte. »Aber sag, Bahram Khan, was willst du eigentlich erreichen?«
Er saß steif auf dem blaßroten Teppich und sprach:
»Warst du am Maidani-Sipeh-Platz? Dort sind einhundert alte, verrostete Kanonen aufgestellt, und ihre Mündungen blicken in alle vier Himmelsrichtungen. Weißt du, daß es in ganz Persien keine einzige Kanone gibt außer diesen verstaubten, sinnlosen Erbstücken eines sterbenden Geschlechtes? Und keine einzige Festung, kein einziges Kriegsschiff und so gut wie keinen einzigen Soldaten außer den russischen Kosaken, den englischen Schützen und den vierhundert dicken Bahaduran der Palastwache?
Sieh dir den Onkel an oder den Prinzen oder all die Würdenträger mit prunkvollen Titeln. Trübe Augen und kraftlose Hände, veraltet und verrostet wie die Kanonen am Maidani-Sipeh-Platz. Sie werden nicht mehr lange leben. Und es ist höchste Zeit, daß sie abtreten. Zu lange lag unser Geschick in den müden Händen von Prinzen und Dichtern. Persien ist wie die ausgestreckte Handfläche eines greisen Bettlers. Ich will, daß die ausgedörrte Handfläche zur geballten Faust eines Jünglings wird. Bleibe hier, Ali Khan. Ich habe einiges von dir in Erfahrung gebracht. Wie du bis zuletzt hinter einem Maschinengewehr saßest und die alte Mauer von Baku verteidigt hast, wie du nachts beim Mondschein einem Feind die Kehle durchgebissen hast. Hier gibt es mehr zu verteidigen als eine alte Mauer, und du wirst mehr als ein Maschinengewehr haben. Das ist besser, als im Harem zu sitzen oder die Herrlichkeiten des Basars zu durchwühlen.«
Ich schwieg, in Gedanken versunken. Teheran! Die älteste Stadt der Welt. Roga-Rey nannten sie die Menschen Babylons. Roga-Rey, die königliche Stadt. Staub der alten Legenden, verblichenes Gold zerfallender Paläste. Gewundene Säulen des Diamantentores, blasse Linien der alten Teppiche und stille Rhythmen der weisen Rubayats — da standen sie vor mir, in Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft!
»Bahram Khan«, sagte ich, »wenn du dein Ziel erreicht hast, wenn du Asphaltstraßen und Festungen gebaut und die schlechtesten Dichter in den modernsten Schulen eingeführt hast — wo bleibt dann die Seele Asiens?«
»Die Seele Asiens?« Er lächelte. »Am Ende des Kanonenplatzes werden wir ein großes Gebäude errichten. Dort bringen wir die Seele Asiens unter: Moscheenfahnen, Dichtermanuskripte, Miniaturzeichnungen und Lustknaben, denn auch die gehören zur Seele Asiens. An die Fassade schreiben wir in schönster Kufi-Schrift das Wort ›Museum‹. Onkel Assad es Saltaneh kann Museumswärter werden und Seine Kaiserliche Hoheit Museumsdirektor. Willst du uns helfen, das schöne Gebäude zu errichten?«
»Ich will es mir überlegen, Bahram Khan.«
Das Essen war beendet. Die Gäste saßen in losen Gruppen im Saal. Ich erhob mich und ging hinaus auf die offene Veranda. Die Luft war frisch. Aus dem Garten drang der Duft der iranischen Rosen. Ich setzte mich nieder, ein Rosenkranz glitt durch meine Finger, und ich blickte in die Nacht. Drüben hinter der Lehmkuppel des Basars war Schimran. Dort lag, in Kissen und Teppichen eingewickelt, meine Nino. Wahrscheinlich schlief sie, mit leicht geöffneten Lippen, die Augenlider von Tränen geschwollen. Tiefe Trauer erfüllte mich. Alle Herrlichkeiten des Basars reichten nicht aus, um ihre Augen wieder lächeln zu machen.
Persien! Sollte ich hierbleiben? Zwischen Eunuchen und Prinzen, Derwischen und Narren? Asphaltstraßen bauen, Armeen aufstellen, Europa ein Stück weiter ins Innere Asiens hineintragen helfen?
Und plötzlich fühlte ich, daß nichts, nichts auf der Welt mir so teuer war wie das Lächeln in Ninos Augen. Wann lachten diese Augen zuletzt? Irgendwann in Baku an der morschen Mauer. Wildes Heimweh ergriff mich. Ich sah die staubbedeckte Mauer vor mir und die Sonne, die hinter der Insel Nargin unterging. Ich hörte die Schakale, die draußen an der Pforte des grauen Wolfes dem Monde entgegenheulten. Der Sand der Wüste bedeckte die Steppe bei Baku. Fettes, öldurchtränktes Land zog sich an den Küsten entlang, am Mädchenturm feilschten die Händler, und durch die Nikolaistraße kam man zum Lyzeum der heiligen Königin Tamar. Unter den Bäumen des Lyzeumshofes stand Nino, das Schulheft in der Hand, mit großen erstaunten Augen. Der Duft der persischen Rosen war plötzlich geschwunden. Ich rief nach der Heimat wie ein Kind nach der Mutter und ahnte dumpf, daß es diese Heimat nicht mehr gab. Ich witterte die klare Wüstenluft Bakus und den leichten Duft von Meer, Sand und Öl. Nie hätte ich diese Stadt verlassen dürfen, in der mich Gott zur Welt kommen ließ. Ich war angekettet an die alte Mauer, wie ein Hund an seine Hütte. Ich blickte zum Himmel. Die persischen Sterne waren groß und fern wie die Edelsteine in der Krone des Schahs. Nie war mir das Gefühl meines Andersseins so deutlich bewußt geworden wie jetzt. Ich gehörte nach Baku. Zu der alten Mauer, in deren Schatten Ninos Augen lächelnd aufblitzten.
Bahram Khan berührte meine Schulter.
»Ali Khan, du scheinst zu träumen? Hast du dir meine Worte überlegt, willst du das Haus des neuen Iran bauen?«
»Vetter Bahram Khan«, sagte ich, »ich beneide dich: denn nur ein Vertriebener weiß, was Heimat ist. Ich kann das Land Iran nicht aufbauen. Mein Dolch ist an den Mauersteinen Bakus geschliffen.«
Er sah mich traurig an.
»Madjnun«, sagte er auf arabisch, und das bedeutete Verliebter und Wahnsinniger zugleich.
Er war meines Blutes und hatte mein Geheimnis erraten. Ich erhob mich. Im großen Saal verbeugten sich die Würdenträger vor dem aufbrechenden Prinzen. Ich sah seine magere Hand mit langen, dürren Fingern und rot gefärbten Nägeln. Nein, nicht dazu war ich da, um die Verse Firdausis, die Liebesseufzer des Haris und die Weisheitssprüche Saadis in einem prunkvollen Museumsgebäude aufzubahren.
Ich ging in den Saal und neigte mich über die Hand des Prinzen. Seine Augen waren traurig und abwesend, von der Ahnung eines drohenden Verhängnisses erfüllt. Dann fuhr ich nach Schimran und dachte im Wagen an den Platz mit den verrosteten Kanonen, an die müden Augen des Prinzen, an Ninos demütige Stille und an das Rätsel des Unterganges, aus dem es kein Entrinnen gab.