37289.fb2 Ali und Nino - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 6

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6. Kapitel

An der Quelle von Pechachpur blickten die Bäume gen Himmel wie müde Heilige. Die Quelle rauschte in ihrem engen, steinernen Bett. Kleine Hügel verdeckten den Blick auf Schuscha. Im Osten verloren sich die Felder Karabaghs in den staubigen Steppen von Aserbaidschan. Von dorther wehte der glühende Atem der großen Wüste, das Feuer Zarathustras. Wie das Hirtenland der Bibel dehnten sich verheißungsvoll die Wiesen Armeniens im Süden. Der Hain um uns stand still und reglos, als seien eben erst die letzten Götter der Antike ausgezogen. Ihnen noch hätte das Feuer geweiht sein können, das vor uns qualmte. Auf grellbunten Teppichen waren wir im Kreise um die Flammen gelagert, eine Gesellschaft von zechenden Georgiern und ich. Weinkelche, Früchte, Berge von Gemüsen und Käse umgaben die Feuerstelle. Braten am Spieß rösteten über dem rauchenden Mangal. An der Quelle saßen die Sasandari, die wandernden Spielleute. In ihren Händen lagen Instrumente, deren Namen allein schon Musik waren: Dairah, Tschianuri, Thara, Diplipito. Nun sangen sie irgendein Bajat, ein Liebeslied im persischen Rhythmus, das die großstädtischen Georgier sich zur Erhöhung des fremdartigen Reizes der Umgebung gewünscht hatten. »Dionysische Stimmung« würde unser Lateinlehrer diesen ausgelassenen Versuch, sich den Landessitten anzupassen, nennen. Es war die endlich eingetroffene Familie Kipiani, die all diese heiteren Kurgäste zu dem nächtlichen Fest im Hain bei Schuscha geladen hatte.

Vor mir saß der Tamada, der nach den strengen Regeln des einheimischen Festzeremoniells die Feier leitete. Er hatte glänzende Augen und einen dicken schwarzen Schnurrbart im rötlichen Gesicht. In seiner Hand hielt er einen Kelch und trank mir zu. Ich nippte am Glas, obwohl ich sonst nie trinke. Aber der Tamada war der Vater von Nino, und es ist unhöflich, nicht mitzutrinken, wenn der Tamada es verlangt.

Diener brachten Wasser aus der Quelle. Wer davon trank, konnte essen, soviel er wollte, ohne übersättigt zu werden, denn auch das Wasser von Pechachpur ist eines der unzähligen Wunder von Karabagh.

Wir tranken das Wasser, und der Berg der Speisen wurde kleiner. Ich sah das strenge, vom Feuer flackernd bestrahlte Profil von Ninos Mutter. Sie saß neben ihrem Mann, und ihre Augen lachten. Diese Augen stammten aus Mingrelien, aus der Ebene von Rion, wo einst die Zauberin Medea dem Argonauten Jason begegnet war.

Der Tamada hob das Glas.

»Ein Kelch zu Ehren des durchlauchtigsten Dadiani.«

Ein Greis mit kindlichen Augen dankte. Es war die dritte Runde, die also begann. Die Gläser wurden geleert. Das sagenhafte Wasser von Pechachpur half auch gegen den Rausch. Niemand war betrunken, denn es ist der Rausch des Herzens, den der Georgier beim Gastmahl erlebt. Sein Kopf bleibt klar wie das Wasser von Pechachpur.

Der Hain war erhellt vom Scheine zahlreicher Feuer.

Wir waren nicht die einzigen Zecher. Ganz Schuscha pilgerte allwöchentlich zu den verschiedenen Quellen. Bis zum Morgengrauen dauerten die Feste. Christen und Mohammedaner feierten gemeinsam im heidnischen Schatten des heiligen Haines.

Ich sah Nino an, die neben mir saß. Sie blickte zur Seite. Sie sprach mit dem grauhaarigen Dadiani. So gehörte es sich. Dem Alter die Achtung. Der Jugend die Liebe.

»Sie müssen einmal zu mir kommen, auf mein Schloß Zugdidi«, sagte der Greis, »am Flusse Rion, in dem einst die Sklaven der Medea das Gold in Vließen einfingen. Kommen Sie mit, Ali Khan. Sie werden den tropischen Urwald Mingreliens sehen mit seinen uralten Bäumen.«

»Gerne, Durchlaucht, aber nur Ihretwegen, nicht der Bäume wegen.«

»Was haben Sie gegen die Bäume? Für mich sind sie die Verkörperung des vollendeten Lebens.«

»Ali Khan fürchtet sich vor Bäumen wie ein Kind vor Gespenstern«, sagte Nino.

»Es ist nicht so schlimm. Aber was Ihnen die Bäume sind, ist für mich die Wüste.«

Dadiani zwinkerte mit seinen kindlichen Augen.

»Die Wüste«, sagte er, »fahles Gebüsch und heißer Sand.«

»Die Welt der Bäume verwirrt mich, Durchlaucht. Sie ist voller Schrecken und Rätsel, voller Gespenster und Dämonen. Der Blick ist eingeengt. Es ist finster. Die Sonnenstrahlen verlieren sich im Schatten der Bäume. Alles ist unwirklich im Zwielicht. Nein, ich liebe keine Bäume. Die Schatten des Waldes bedrücken mich, und ich werde traurig, wenn ich das Rascheln der Zweige höre. Ich liebe die einfachen Dinge: Wind, Sand und Gestein. Die Wüste ist einfach wie ein Schwerthieb. Der Wald kompliziert wie der Gordische Knoten. Ich kenne mich nicht aus im Walde, Durchlaucht.«

Dadiani sah mich nachdenklich an.

»Sie haben die Seele eines Wüstenmenschen«, sagte er, »vielleicht gibt es nur eine richtige Einteilung der Menschen: in Waldmenschen und Wüstenmenschen. Die trockene Trunkenheit des Orients kommt von der Wüste, wo heißer Wind und heißer Sand den Menschen berauschen, wo die Welt einfach und problemlos ist. Der Wald ist voller Fragen. Nur die Wüste fragt nichts, gibt nichts und verspricht nichts. Aber das Feuer der Seele kommt vom Wald. Der Wüstenmensch — ich sehe ihn — er hat nur ein Gefühl und kennt nur eine Wahrheit, die ihn ausfüllt. Der Waldmensch hat viele Gesichter. Der Fanatiker kommt von der Wüste, der Schöpferische vom Walde her. Das ist wohl der Hauptunterschied zwischen Ost und West.«

»Deshalb lieben wir Armenier und Georgier den Wald«, mischte sich Melik Nachararjan ein, ein dicker Mann von edelstem armenischem Geblüt. Er hatte hervorstehende Augen, üppige Augenbrauen und eine Neigung zum Philosophieren und Saufen. Wir vertrugen uns gut. Er trank mir zu und rief:

»Ali Khan! Adler kommen aus den Bergen, Tiger aus den Dschungeln. Was kommt aus der Wüste?«

»Löwen und Krieger«, antwortete ich, und Nino klatschte vergnügt in die Hände.

Hammelbraten auf Spießen wurden gereicht. Wieder und wieder füllten sich die Becher. Die georgische Lebensfreude ergoß sich über den Wald. Dadiani diskutierte mit Nachararjan, und Nino blickte mich listig und fragend an.

Ich nickte. Es war bereits dunkel geworden. Im Feuerschein glichen die Menschen Gespenstern oder Räubern. Niemand beachtete uns. Ich erhob mich und ging langsam zur Quelle. Ich beugte mich über das Wasser und trank aus der Handfläche. Es tat gut. Lange starrte ich in die Sterne, die sich in der dunklen Wasserfläche spiegelten. Hinter mir ertönten Schritte. Ein trockener Baumzweig knisterte unter einem kleinen Fuß… ich streckte die Hand aus, und Nino ergriff sie. Wir gingen tiefer in den Wald hinein. Die Bäume blickten uns drohend und mißbilligend an. Es war nicht ganz recht, daß wir vom Feuer weggingen und daß Nino sich am Rande der kleinen Wiese setzte und mich zu sich herabzog. Im lebensfrohen Karabagh herrschten strenge Sitten. Der alte Mustafa erzählte mir mit Grauen, daß sich vor achtzehn Jahren ein Ehebruch im Lande ereignet hatte. Seitdem sei die Fruchternte ärmer geworden.

Wir sahen einander an, und Ninos Gesicht, vom Mond beschienen, war blaß und rätselhaft.

»Prinzessin«, sagte ich, und Nino sah mich von der Seite an. Seit vierundzwanzig Stunden war sie Prinzessin, und vierundzwanzig Jahre hatte es gedauert, bis ihr Vater in Petersburg seinen Anspruch auf den Titel durchsetzen konnte. Heute früh war ein Telegramm aus Petersburg gekommen. Der Alte hatte sich gefreut wie ein Kind, das die verlorene Mutter wiedergefunden hat, und uns alle zu dem Nachtfest geladen.

»Prinzessin«, wiederholte ich und nahm ihr Gesicht in meine Hände. Sie wehrte sich nicht. Vielleicht hatte sie zu viel kachetischen Wein getrunken. Vielleicht waren es der Wald und der Mond, die sie trunken machten. Ich küßte sie. Ihre Handflächen waren weich und warm. Ihr Körper gab nach. Die trockenen Baumäste knisterten. Wir lagen auf dem weichen Moos, und Nino blickte in mein Gesicht. Ich berührte die kleinen Rundungen ihres festen Busens und sog den Duft und den leisen salzigen Geschmack ihrer Haut. Etwas Seltsames ging in Nino vor, und dieses Seltsame übertrug sich auf mich. Ihr Wesen war ein einziger Sinn, und dieser Sinn war wie die geballte Kraft der Erde und des Erdatems. Die Seligkeit des leiblichen Lebens erfaßte sie. Ihre Augen waren verschleiert. Ihr Gesicht wurde schmal und sehr ernst. Ich öffnete ihr Kleid. Ihre Haut schimmerte im Mond gelblich wie Opal. Ich hörte das Klopfen ihres Herzens, und sie sprach Worte voll sinnloser Zärtlichkeit und Sehnsucht. Mein Gesicht vergrub sich zwischen ihre kleinen Brüste. Ihre Knie zitterten. Tränen liefen über ihr Gesicht, und ich küßte sie fort und trocknete die feuchten Wangen. Sie erhob sich und schwieg, von eigenen Rätseln und Gefühlen bewegt. Sie war erst siebzehn Jahre alt, meine Nino, und besuchte das Lyzeum der heiligen Königin Tamar. Dann sagte sie:

»Ich glaube, daß ich dich liebe, Ali Khan, wenn ich auch Prinzessin geworden bin.«

»Vielleicht wirst du es nicht lange bleiben«, sagte ich, und Nino machte ein verständnisloses Gesicht.

»Wie meinst du das? Nimmt uns der Zar den Titel wieder weg?«

»Du wirst ihn verlieren, wenn du heiratest. Der Titel Khan ist aber auch ein sehr schöner Titel.«

Nino kreuzte die Hände über ihrem Nacken, legte den Kopf zurück und lachte.

»Khan vielleicht, aber Khanin? Das gibt es ja gar nicht. Und überhaupt, du hast eine etwas seltsame Art, Heiratsanträge zu machen. Sofern es einer sein soll.«

»Es soll einer sein.«

Ninos Finger glitten über mein Gesicht und verloren sich in meinen Haaren.

»Und wenn ich ›ja‹ sage, dann wirst du wohl den Wald bei Schuscha in guter Erinnerung behalten und mit den Bäumen Frieden schließen. Nicht wahr?«

»Ich glaube schon.«

»Aber die Hochzeitsreise machst du zum Onkel nach Teheran, und ich darf auf besondere Protektion den kaiserlichen Harem besuchen und mit vielen dicken Frauen Tee trinken und Konversation machen.«

»Na und?«

»Und dann darf ich mir die Wüste anschauen, weil es dort niemanden gibt, der mich anschauen könnte.«

»Nein, Nino, die Wüste brauchst du dir nicht anzuschauen. Sie wird dir nicht gefallen.«

Nino schlang ihre Hände um meinen Hals und preßte ihre Nase an meine Stirn.

»Vielleicht heirate ich dich wirklich, Ali Khan. Aber hast du dir schon überlegt, was alles vorher zu überwinden ist, außer Wald und Wüste?«

»Was denn?«

»Zuerst werden mein Vater und meine Mutter aus Kummer sterben, weil ich einen Mohammedaner heirate. Dann wird dein Vater dich verfluchen und verlangen, daß ich zum Islam übertrete. Und wenn ich es tue, wird das Väterchen Zar mich wegen Abfalls vom Christentum nach Sibirien verbannen. Und dich wegen Verleitung dazu gleich mit.«

»Und dann sitzen wir mitten im Polarmeer auf einer Eisscholle, und die großen weißen Bären fressen uns auf«, lachte ich, »nein, Nino, so schlimm wird es nicht werden. Du brauchst nicht zum Islam überzutreten, deine Eltern werden nicht vor Kummer sterben, und die Hochzeitsreise machen wir nach Paris und nach Berlin, damit du dir die Bäume im Bois de Boulogne und im Tiergarten anschauen kannst. Was sagst du nun?«

»Du bist gut zu mir«, sagte sie verwundert, »und ich sage nicht ›nein‹, aber das ›Ja‹ hat noch etwas Zeit. Ich laufe dir doch nicht davon. Wenn ich mit der Schule fertig bin, sprechen wir mit unsern Eltern. Nur entführen darfst du mich nicht. Nur das nicht. Ich weiß, wie ihr es macht: über den Sattel, in die Berge und dann eine möglichst ausgiebige Blutfehde mit dem Hause Kipiani.«

Sie war plötzlich von einer ausgelassenen Fröhlichkeit erfüllt. Alles in ihr schien zu lachen, und dazu das Gesicht, die Hände, die Füße, die ganze Haut. Sie lehnte sich an einen Baumstamm, hielt den Kopf gesenkt und blickte von unten zu mir empor. Ich stand vor ihr. Im Schatten der Baumrinde glich sie einem exotischen Tier, das sich im Walde verbirgt und sich vor dem Jäger fürchtet.

»Gehen wir«, sagte Nino, und wir gingen durch den Wald zum großen Feuer. Unterwegs fiel ihr etwas ein. Sie blieb stehen und zwinkerte zum Mond hinauf.

»Aber unsere Kinder, welchen Glauben werden denn die haben?« fragte sie besorgt.

»Ganz bestimmt einen sehr guten und sympathischen Glauben«, sagte ich ausweichend.

Sie blickte mich mißtrauisch an und schwieg eine Weile. Dann meinte sie betrübt:

»Bin ich nicht überhaupt zu alt für dich. Ich werde bald siebzehn. Deine künftige Frau müßte jetzt zwölf sein.«

Ich beruhigte sie. Nein, sie war bestimmt nicht zu alt. Höchstens zu klug; denn niemand weiß, ob Klugheit immer ein Vorteil ist. Vielleicht werden wir alle im Orient zu früh reif, alt und klug. Vielleicht sind wir aber allesamt dumm und einfach. Ich wußte es nicht. Die Bäume verwirrten mich, Nino verwirrte mich, der ferne Schein des Lagerfeuers verwirrte mich, und am meisten verwirrte ich mich selber, denn vielleicht hatte auch ich zu viel am kachetischen Wein genippt und wie ein Wüstenräuber im stillen Garten der Liebe gehaust.

Nino allerdings sah nicht aus wie das Opfer eines Wüstenräubers. Sie blickte ruhig, sicher und offen vor sich hin. Alle Spuren der Tränen, des Lachens und der zärtlichen Sehnsucht waren von ihr geschwunden, als wir wieder an die Quelle von Pechachpur gelangten. Niemand beargwöhnte unser Verschwinden. Ich setzte mich zum Feuer und fühlte plötzlich, wie meine Lippen brannten. Ich füllte mein Glas mit dem Wasser von Pechachpur und trank hastig. Als ich das Glas absetzte, traf ich die Blicke von Melik Nachararjan, der mich freundlich, aufmerksam und ein wenig gönnerhaft anstarrte.