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»Sag mir, Ali Khan, wer sind unsere Freunde?« Wir fuhren die steile Serpentine von Schuscha hinab. Mein Kotschi, ein einfacher Dorfbursche, war unermüdlich in der Auffindung der merkwürdigsten Fragen aus allen Gebieten des Krieges und der Politik. Ein durchschnittlicher Mensch hat bei uns nur drei Gesprächsthemen: Religion, Politik, Geschäft. Ein Krieg berührt all diese Gebiete. Vom Kriege kann man sprechen, soviel man will und wann man will, unterwegs, zu Hause und in der Kaffeestube, ohne je das Thema zu erschöpfen.
»Unsere Freunde, Kotschi, das sind der Kaiser von Japan, der Kaiser von Indien, der König von England, der König von Serbien, der König der Belgier und der Präsident der Französischen Republik.«
Der Kotschi preßte die Lippen mißbilligend zusammen.
»Der Präsident der Französischen Republik ist doch ein Zivilist, wie kann er ins Feld ziehen und Krieg führen?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht schickt er einen General.«
»Man soll selbst Krieg führen und es nicht andern überlassen. Sonst wird nichts Rechtes daraus.«
Er blickte besorgt auf den Rücken unseres Kutschers und sagte dann fachmännisch:
»Der Zar ist doch klein von Wuchs und mager. Kaiser Giljom dagegen breit und stark. Er wird den Zaren schon in der ersten Schlacht überwältigen.«
Der gute Mann war überzeugt, daß im Kriege die feindlichen Monarchen hoch zu Roß gegeneinanderreiten und so die Schlacht eröffnen. Es war sinnlos, es ihm ausreden zu wollen.
»Wenn dann Giljom den Zaren niedergeschlagen hat, muß der Zarewitsch ins Feld. Der ist aber jung und krank. Giljom dagegen hat sechs gesunde und starke Söhne.«
Ich versuchte, seinen Pessimismus zu zerstreuen.
»Giljom kann nur mit der rechten Hand kämpfen, seine Linke ist gelähmt.«
»Ach was, die linke Hand brauchte er ja nur, um die Zügel des Pferdes zu halten. Gekämpft wird mit der rechten Hand.«
Er runzelte nachdenklich die Stirn und fragte plötzlich:
»Ist es wahr, daß der Cäsar Franz Joseph hundert Jahre alt ist?«
»Das weiß ich nicht so genau. Aber er ist sehr alt.«
»Schrecklich«, meinte der Kotschi, »daß ein so alter Mann aufs Pferd steigen und den Säbel ziehen muß.«
»Er muß doch nicht.«
»Natürlich muß er. Zwischen ihm und dem Kralj ist Blut. Sie sind jetzt Blutfeinde, und der Cäsar muß Rache nehmen für das Blut seines Thronerben. Wäre er ein Bauer aus unserm Dorf, dann könnte er vielleicht den Blutpreis einhandeln. Für etwa hundert Kühe und ein Haus. Ein Cäsar aber kann Blut nicht verzeihen. Sonst tun es alle, und dann gibt es bald keine Blutrache mehr und das Land verkommt.«
Der Kotschi hatte recht. Die Blutrache ist das wichtigste Fundament der staatlichen Ordnung und der guten Sitten, mögen die Europäer auch noch so dagegen sein. Gewiß: es ist löblich, wenn alte und weise Männer darum bitten, inständig darum bitten, das vergossene Blut für hohes Entgelt zu verzeihen. Am Grundsatze der Blutrache aber darf nicht gerüttelt werden. Wie sollte das sonst enden? Die Menschheit zerfällt in Familien und nicht in Völker. Zwischen den Familien herrscht ein von Gott gewolltes und in der Zeugungskraft der Männer begründetes Gleichgewicht. Wird dieses Gleichgewicht durch brutale Gewalt zerstört, das heißt durch Mord, so muß die Familie, die gegen Gottes Willen verstoßen hat, gleichfalls ein Mitglied einbüßen. Dann ist das Gleichgewicht wiederhergestellt. Natürlich, die Ausführung der Blutrache war etwas umständlich, man schoß oft daneben oder erschoß mehr Menschen als notwendig. Dann ging die Blutrache weiter. Der Grundsatz aber war gut und klar. Mein Kotschi verstand ihn ausgezeichnet und nickte befriedigt mit dem Kopf: Ja, der hundertjährige Cäsar, der aufs Pferd stieg, um Blut zu rächen, war ein kluger und gerechter Mann.
»Ali Khan, wenn Cäsar und Kralj Blut auszufechten haben, was geht es die anderen Monarchen an?«
Das war eine schwierige Frage, auf die ich selbst keine Antwort wußte.
»Paß auf«, sagte ich. »Unser Zar hat denselben Gott wie der serbische Kralj, deshalb hilft er ihm. Der Kaiser Giljom und andere feindliche Monarchen sind, glaube ich, mit dem Cäsar verwandt. Der König von England ist mit dem Zaren verwandt, und so ergibt sich wohl das eine aus dem andern.«
Die Antwort befriedigte den Kotschi keineswegs. Der Kaiser von Japan hatte bestimmt einen ganz andern Gott als der Zar, und der geheimnisvolle Zivilist, der in Frankreich herrschte, konnte doch mit keinem Monarchen verwandt sein. Außerdem gab es nach der Ansicht des Kotschi in Frankreich überhaupt keinen Gott. Deshalb hieß das Land ja auch Republik.
Das alles war auch mir reichlich unklar. Ich gab verschwommene Antworten und ging endlich selbst zum Angriff über, indem ich meinerseits die Frage stellte, ob mein wackerer Kotschi beabsichtige, in den Krieg zu ziehen.
Er blickte verträumt auf seine Waffen.
»Ja«, antwortete er, »natürlich gehe ich in den Krieg.«
»Du weißt doch, daß du es nicht mußt? Wir Mohammedaner sind von der Kriegspflicht befreit.«
»Ja, aber ich will dennoch«, der einfältige Bursche wurde plötzlich sehr gesprächig. »Der Krieg ist etwas sehr Schönes. Ich fahre weit durch die Welt. Ich werde den Wind im Westen pfeifen hören und Tränen in den Augen der Feinde sehen. Ich bekomme ein Pferd und ein Gewehr und reite mit Freunden durch eroberte Dörfer. Wenn ich zurückkomme, bringe ich viel Geld mit und alle feiern mein Heldentum. Falle ich, so ist es der Tod eines richtigen Mannes. Alle werden dann gut von mir sprechen, und mein Sohn oder mein Vater werden hoch geehrt. Nein, Krieg ist etwas sehr Schönes, ganz gleich gegen wen. Einmal im Leben muß ein Mann in den Krieg ziehen.«
Er sprach lange und begeistert. Er zählte die Wunden auf, die er seinen Feinden beizubringen gedachte, er sah bereits die Kriegsbeute im Geiste vor sich, seine Augen glänzten vor erwachender Kampflust, und sein braunes Gesicht glich dem Antlitz eines alten Recken aus dem göttlichen Buch des Schah Nameh.
Ich beneidete ihn, weil er ein einfacher Mann war, der genau wußte, was er zu tun hatte, während ich grüblerisch und unentschlossen in die Ferne blickte. Ich bin zu lange in das kaiserliche Gymnasium gegangen. Der grüblerische Sinn der Russen hat sich auf mich übertragen.
Wir kamen zum Bahnhof. Frauen, Kinder, Greise, Bauern aus Georgien, Nomaden aus Sakataly belagerten das Stationsgebäude. Es war nicht zu verstehen, wohin und warum sie fahren wollten. Auch sie selber schienen es nicht zu wissen. Sie lagen wie stumpfe Erdklumpen auf dem Feld und bestürmten die ankommenden Züge, ganz gleich, nach welcher Richtung sie abgingen. Ein alter Mann im zerfetzten Schafspelz und mit eitertriefenden Augen saß an der Tür des Warteraumes und schluchzte. Er war aus Lenkoranj, an der persischen Grenze. Er war überzeugt, daß sein Haus zerstört und seine Kinder tot seien. Ich sagte ihm, daß Persien keinen Krieg gegen uns führe. Er blickte trostlos drein.
»Nein, Herr. Lange war das Schwert Irans verrostet. Jetzt wird es neu geschliffen. Nomaden werden uns überfallen, Schahsevanen werden unsere Häuser zerstören, denn wir leben im Reiche des Unglaubens. Der Löwe von Iran wird unser Land verwüsten. Unsere Töchter werden Sklavinnen werden und unsere Söhne Lustknaben.«
Er jammerte lange und sinnlos. Mein Kotschi drängte die Menge auseinander. Mit Mühe gelangten wir auf den Bahnsteig. Die Lokomotive hatte die stumpfe Fratze eines vorsintflutlichen Ungeheuers. Schwarz und bösartig zerschnitt sie das gelbe Antlitz unserer Wüste. Wir stiegen in den Wagen und schlugen die Tür des Abteils zu. Ein Trinkgeld für den Schaffner sicherte uns Ruhe. Der Kotschi setzte sich mit gekrümmten Beinen auf die rote Plüschpolsterung des Diwans, in die drei ineinander verschlungene goldene Buchstaben eingewebt waren: »S. Z. D.«, die Initialen der Transkaukasischen Eisenbahn, des Stolzes der russischen Kolonialpolitik. Der Zug setzte sich in Bewegung.
Das Fenster war geschlossen. Der gelbe Sand draußen dehnte sich in träumerischer Ruhe. Kleine kahle Hügel glänzten im Sandmeer, weich und gerundet. Ich öffnete das Fenster und blickte hinaus. Von fernen, unsichtbaren Meeren wehte über die heißen Dünen ein kühler Wind. Rötlich leuchteten verwitterte Felsen. Funkelnde Körner rollten über das Gestein. Spärliche Kräuter wanden sich schlangenartig um die niederen Kuppen. Durch den Sand zog eine Karawane. Hundert Kamele oder mehr, einhöckrige, zweihöckrige, kleine, große, sie starrten ängstlich auf den Zug. Jedes Tier trug am Halse eine Glocke. Nach ihrem Ton richteten die Kamele den schlaffen Schritt und die wippende Bewegung ihrer Köpfe. Alle Tiere bewegten sich gleichmäßig wie ein einziger Körper im Takte der nomadischen Symphonie von der wandernden Seele Asiens… Ein Stolpern, ein Fehltritt, und eine Glocke fällt aus dem Ton. Das Kamel fühlt den Mißklang und wird unruhig. Es ist die Wollust der Wüste, die dieses sonderbare Geschöpf gebar, diesen Bastard aus Tier und Vogel, anmutig, anziehend und abstoßend zugleich. Die ganze Wüste spiegelt sich in seinem Wesen: ihre Weite, ihr Kummer, ihr Atem, ihr Schlaf.
Der weiche Sand, grau und eintönig, glich dem Antlitz der Ewigkeit. Traumverloren wanderte durch die Ewigkeit die Seele Asiens. Der Zug mit den drei goldenen Lettern »S. Z. D.« fuhr in falscher Richtung. Ich gehörte dorthin, zu den Kamelen, zu den Menschen, die sie führten, zum Sand. Warum hob ich nicht die Hand zur Notbremse? Zurück! Zurück! Ich will nicht mehr! Ich höre den fremden Ton im einförmigen Glockengeläute der ewigen Karawane.
Was ging sie mich an, diese Welt jenseits des Bergmassivs? Ihre Kriege, ihre Städte, ihre Zaren, ihre Sorgen, ihre Freuden, ihre Sauberkeit und ihr Schmutz? Wir sind anders sauber und anders sündhaft, wir haben einen andern Rhythmus und andere Gesichter. Möge der Zug gen Westen sausen. Ich bleibe zurück.
Ganz weit steckte ich den Kopf aus dem Fenster. Die Karawane war zurückgeblieben. Ich blickte ihr nach. Eine große Ruhe überkam mich. Es stand kein Feind in meinem Land. Niemand bedrohte die Steppen Transkaukasiens. Möge mein Kotschi in den Krieg ziehen. Er hat recht. Er kämpft weder für den Zaren noch für den Westen. Er ist der Söldner seiner eigenen Abenteuerlust, er will Blut vergießen und Feinde weinen sehen. Wie jeder Asiate. Auch ich will in den Krieg, mein ganzes Wesen sehnt sich nach der freien Luft eines blutigen Gefechtes, nach dem abendlichen Rauch eines großen Schlachtfeldes. Krieg — ein herrliches Wort, männlich und stark, wie ein Lanzenstich. Und dennoch: ich bin alt geboren, mit jahrhundertealtem Gehirn. Dieser Krieg geht mich nichts an. Ich habe da keinen Sieg zu erkämpfen. Ich muß hierbleiben für den Tag, da der Feind in unser Land, in unsere Stadt, in unseren Erdteil einrückt. Mögen die Übermütigen in diesen Krieg ziehen. Es müssen aber genug Menschen im Lande bleiben, um den künftigen Feind abzuwehren. Denn dumpf fühle ich es: wer immer in diesem Kriege siegt, eine Gefahr zieht heran, eine Gefahr, die größer ist als alle Eroberungszüge des Zaren. Ein Unsichtbarer ergreift die Zügel der Karawane und will sie mit Gewalt auf neue Weideplätze, auf neue Wege lenken. Es können nur die Wege des Westens sein, die Wege, die ich nicht gehen will. Deshalb bleibe ich daheim. Wenn der Unsichtbare gegen meine Welt anrennt, dann erst werde ich zum Schwert greifen.
Ich lehnte mich in die Polster zurück. Es war gut, einen Gedanken zu Ende zu denken. Mag sein, daß die Leute sagen werden, ich bleibe daheim, um mich nicht von den dunklen Augen Ninos trennen zu müssen. Mag sein. Vielleicht haben diese Menschen auch recht. Denn diese dunklen Augen sind für mich wie die heimatliche Erde, wie der Ruf der Heimat nach ihrem Sohn, den ein Fremder auf fremde Wege verleiten will. Ich bleibe, um die dunklen Augen der Heimat vor dem Unsichtbaren zu schützen.
Ich blickte zum Kotschi hinüber. Er schlief und schnarchte begeistert und kriegerisch.