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13 - Ein fragwürdiges Geständnis

An jenem Abend versah Marilla ihre Aufgaben im Haushalt wie gewöhnlich, konnte jedoch keine innere Ruhe finden. Sie machte sich Sorgen um ihre wertvolle Brosche. Wenn Anne sie verloren hatte, würde man sie womöglich nie mehr wieder finden. Wie konnte die Kleine nur so ungezogen sein, den Diebstahl zu leugnen! Es war doch sonnenklar, dass sie die Brosche genommen haben musste! Und was für eine Unschuldsmiene sie dabei aufgesetzt hatte ... Hätte sie doch wenigstens die Wahrheit gesagt, dann wäre alles nur halb so schlimm gewesen. So aber war Anne eine Diebin und obendrein noch eine Lügnerin!

Mehrmals am Abend ging Marilla in ihr Zimmer hinauf und durchsuchte es noch einmal nach ihrer Brosche — vergebens. Auch eine weitere Befragung im Ostgiebel brachte keine neuen Ergebnisse. Anne stritt weiterhin ab, mehr über die Brosche zu wissen, als sie schon gesagt hatte, aber das machte Marilla nur noch misstrauischer.

Am nächsten Morgen erzählte sie Matthew, was vorgefallen war. Er konnte sich allerdings auch keinen Reim auf die ganze Geschichte machen. Er traute Anne nichts Böses zu, musste aber eingestehen, dass die Tatsachen gegen sie sprachen.

»Und du bist sicher, dass die Brosche nicht hinter die Kommode gefallen ist?« Das war die einzige Möglichkeit, die ihm noch einfiel. »Ich habe die Kommode von der Wand abgerückt, die Schubladen herausgezogen und wirklich überall nachgeschaut«, antwortete Marilla. »Die Brosche ist verschwunden und das Kind hat sie genommen und mich angelogen. Das ist nun mal die bittere Wahrheit, der wir ins Auge schauen müssen, Matthew Cuthbert.«

»Hm, tja ... und was willst du jetzt tun?«, fragte er mit tonloser Stimme, insgeheim froh, dass Marilla und nicht er für Annes Erziehung verantwortlich war; diesmal hatte er nicht die geringste Lust sich einzumischen.

»Sie wird so lange in ihrem Zimmer bleiben, bis sie gesteht«, sagte Marilla, die sich noch gut daran erinnern konnte, dass diese Methode in einem früheren Fall einmal erfolgreich gewesen war. »Dann werden wir ja sehen. Vielleicht könnten wir die Brosche sogar wieder finden, wenn Anne uns bloß sagen würde, wohin sie sie mitgenommen hat. Auf jeden Fall hat die Kleine eine empfindliche Strafe verdient, Matthew.«

»Hm, dann musst du sie bestrafen, Marilla«, sagte Matthew und griff nach seinem Hut. »Ich habe nichts mit ihrer Erziehung zu tun. Das hast du selbst gesagt.«

Marilla fühlte sich von allen im Stich gelassen. Sie konnte noch nicht einmal zu Mrs Lynde gehen und sie um Rat bitten. Mit ernstem Gesicht stieg sie ein letztes Mal zu Anne in den Ostgiebel hinauf, doch Anne blieb beharrlich bei ihrem früheren Standpunkt. Sie hatte offensichtlich geweint. Marilla empfand so etwas wie Mitleid, unterdrückte die Regung jedoch sogleich wieder.

»Du bleibst hier oben, bis du bereit bist zu gestehen, Anne. Überleg es dir gut«, sagte sie mit fester Stimme.

»Aber morgen ist das Picknick, Marilla«, schluchzte Anne. »Du wirst mich doch nicht hier einsperren wollen, oder? Lass mich nur für den Nachmittag gehen, bitte! Dann bleibe ich hier, solange du willst. Aber ich muss zu diesem Picknick gehen!«

»Du gehst weder zum Picknick noch sonst wohin, solange du nicht gestanden hast, Anne.«

»Bitte, Marilla!«

Aber Marilla war schon hinausgegangen und hatte die Tür hinter sich geschlossen.

Am Mittwochmorgen strahlte die Sonne so warm, als wüsste sie, dass heute das große Picknick stattfinden sollte. Kein Wölkchen stand am Himmel. Die weißen Lilien verströmten ihren süßen Duft und die Vögel zwitscherten fröhlich und flatterten mit ihren Flügeln, als warteten sie darauf, Anne wie jeden Morgen am Fenster zu begrüßen. Doch Anne war nicht zu sehen. Als Marilla ihr das Frühstück brachte, saß sie mit steifer Haltung auf dem Bett und sah Marilla mit feuchten Augen an. Ihr Gesicht sah blass und entschlossen aus. »Marilla, ich bin bereit zu gestehen.«

»Aha!« Marilla stellte zufrieden ihr Tablett ab. Ihre Methode hatte zum zweiten Mal Erfolg gehabt - allerdings einen recht bitteren Erfolg, wie sich bald zeigen sollte. »Dann lass mal hören. Was hast du zu deiner Entschuldigung vorzubringen?«

»Ich habe die Brosche genommen«, sagte Anne ruhig. Sie leierte die Worte so gleichgültig herunter, als hätte sie den Text vorher auswendig gelernt. »Als ich sie in deinem Zimmer liegen sah, konnte ich der Versuchung einfach nicht widerstehen: Ich nahm sie und steckte sie mir an die Brust. Dabei stellte ich mir vor, wie schön das sein müsste, sie mit nach >Idlewild< zu nehmen und mit ihr zu spielen. Mit einer Amethystbrosche würde es viel einfacher sein, mich in Lady Cordelia Fitzgerald zu verwandeln. Ich dachte, ich könnte sie wieder zurücklegen, bevor du nach Hause kommst. Als ich über die Brücke des >Sees der glitzernden Wasser< schritt, nahm ich die Brosche heraus, um sie noch einmal anzuschauen. Wie schön sie in der Sonne glitzerte! Und dann, gerade als ich mich über das Brückengeländer beugte, um mein Spiegelbild zu betrachten, fiel sie mir aus der Hand und versank in den Fluten. Dort liegt sie nun für immer auf dem Grund des >Sees der glitzernden Wasser<. - Und das ist das Beste, was du von mir als Geständnis erwarten kannst, Marilla. Ich habe mir große Mühe gegeben.«

Marilla fühlte einen bitteren Zorn in sich aufsteigen. Dieses Kind hatte ihre geliebte Amethystbrosche verloren und ratterte die ganze Geschichte mit tonloser Stimme herunter, ohne dabei die geringste Reue zu empfinden.

»Aber das ist ja schrecklich, Anne!«, sagte sie, nur mühsam beherrscht. »Du bist das ungezogenste Mädchen, von dem ich je gehört habe.«

»Ja, du hast Recht«, stimmte Anne ihr ruhig zu. »Und ich weiß, dass ich Strafe verdiene. Es ist deine Pflicht, mich zu bestrafen, Marilla. Willst du es nicht gleich tun? Dann haben wir es hinter uns und ich kann reinen Gewissens zum Picknick gehen.«

»Picknick? Das wäre ja noch schöner! Du gehst nicht zum Picknick, Anne Shirley. Das ist deine Strafe. Und sie ist für das, was du getan hast, noch lange nicht schwer genug.«

»Nicht zum Picknick gehen!« Anne sprang auf und umklammerte Manilas Hand. »Aber du hast mir versprochen, dass ich gehen darfl Oh, Marilla, ich muss zu dem Picknick. Deshalb habe ich ja auch das Geständnis abgelegt. Bitte, Marilla, lass mich hingehen! Denk doch nur an die Eiskrem! Vielleicht habe ich in meinem ganzen Leben keine Gelegenheit mehr, Eiskrem zu essen.«

Doch Marilla zog ungerührt ihre Hand zurück.

»Das Bitten und Betteln kannst du dir sparen, Anne. Du gehst nicht zum Picknick und dabei bleibt es. Kein Wort mehr!«

Verzweifelt warf sich Anne auf ihr Bett und fing bitterlich an zu weinen.

Es war ein trauriger Morgen. Wie verbissen arbeitete Marilla vor sich hin. Sie schrubbte sogar den Boden der Veranda und die Bretter in der Milchkammer, obgleich sie eigentlich noch sauber waren - an irgendetwas musste sie ihren Zorn abreagieren. Dann ging sie hinaus und fegte den Hof.

Als es Zeit zum Mittagessen war, ging sie zur Treppe und rief nach Anne. Ein tränenüberströmtes Gesicht erschien über dem Geländer. »Ich will nichts essen«, schluchzte Anne. »Ich könnte keinen Bissen runterkriegen. Mein Herz ist nämlich gebrochen. Dein Gewissen wird dich eines Tages noch dafür bestrafen, dass du es zerbrochen hast, Marilla. Vielleicht werde ich dir dann verzeihen, aber verlange nicht von mir, dass ich jetzt etwas esse — schon gar nicht gekochtes Schweinefleisch und Blattgemüse. Das ist ein viel zu unromantisches Essen für den Zustand der Verzweiflung, in dem ich mich befinde.« Glühend vor Zorn ging Marilla in die Küche zurück und klagte Matthew ihr Leid. Doch ihrem Bruder - hin und her gerissen zwischen seinem Gerechtigkeitssinn und seinem Mitleid mit Anne - war ebenso jämmerlich zu Mute.

»Sie hätte die Brosche nicht nehmen und uns keine Lügengeschichte auftischen dürfen«, gab er zu, während er traurig auf sein unromantisches Schweinefleisch mit Blattgemüse starrte, »aber sie ist noch so klein. Meinst du nicht, dass du sie doch zum Picknick lassen solltest -wo doch ihr Herz so daran hängt?«

»Matthew Cuthbert, ich kann mich nur über dich wundern. Ich finde, ich habe sie noch viel zu milde bestraft. Und sie scheint nicht im Geringsten einzusehen, wie ungezogen sie war - das macht mir am meisten Kummer! Wenn es ihr wirklich Leid täte, wäre alles halb so schlimm. Und du versuchst auch noch sie in Schutz zu nehmen!«

»Sie ist doch noch so klein«, wiederholte Matthew mit sanfter Stimme. »Und wir müssen ihr einiges nachsehen, Marilla. Sie hat nie irgendeine Erziehung genossen.«

»Dann ist es höchste Zeit, dass sie sie jetzt bekommt«, erwiderte Marilla scharf.

Der Rest des Mittagessens verlief in eisigem Schweigen. Als sie das Geschirr gespült, den Brotteig angesetzt und ihre Hühner gefüttert hatte, erinnerte sich Marilla auf der Suche nach weiterer Beschäftigung an einen Riss in ihrem Spitzenschal und beschloss ihn zu flicken.

Der Schal befand sich in einer Schachtel in ihrem Kleiderschrank. Als Marilla ihn herauszog, fiel das Licht auf etwas Glitzerndes. Marilla hielt den Atem an - es war die Amethystbrosche!

Plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen: Als sie am Montagabend vom Frauenhilfswerk nach Hause gekommen war, hatte sie den Schal für ein paar Minuten auf die Kommode gelegt. Wahrscheinlich hatte sich die Brosche in den Spitzen verfangen und sie hatte sie - ohne es zu merken - mit dem Schal in den Schrank gepackt.

Mit der Brosche in der Hand stieg Marilla zum Ostgiebel hinauf. Anne saß niedergeschlagen am Fenster, sie war erschöpft vom vielen Weinen.

»Anne Shirley«, sagte Marilla feierlich. »Ich habe gerade meine Brosche wieder gefunden. Sie hatte sich in meinem schwarzen Spitzenschal verfangen. -Jetzt möchte ich aber wissen, was es mit dem Märchen auf sich hatte, das du mir heute Morgen aufgetischt hast.«

»Na, du hast doch gesagt, dass ich so lange hier bleiben müsste, bis ich ein Geständnis ablege«, erwiderte Anne matt. »Und da du die Wahrheit nicht geglaubt hast und ich unbedingt zum Picknick gehen wollte, habe ich mir gestern Abend im Bett ein Geständnis ausgedacht - etwas möglichst Interessantes. Dann habe ich es immer wieder vor mich hingesprochen, damit ich es nicht vergesse. Aber du hast mich trotzdem nicht zum Picknick gehen lassen, es war also alles umsonst.«

Marilla musste lachen. Gleichzeitig bekam sie heftige Gewissensbisse.

»Anne, du bist doch nicht zu schlagen! Aber ich habe dir Unrecht getan, das ist mir jetzt ganz klar. Ich hätte deine Ehrlichkeit nicht anzweifeln dürfen, weil ich dazu bisher noch nie Grund gehabt habe. Natürlich war es nicht richtig von dir, etwas zu gestehen, was du gar nicht getan hast. Aber ich habe dich dazu getrieben und das tut mir wirklich sehr Leid. Wenn du mir verzeihen willst, Anne, verzeihe ich dir auch - dann sind wir wieder quitt. Und jetzt mach dich schnell für das Picknick fertig.«

Wie eine Rakete sprang Anne aus ihrem Stuhl hoch. »Ist es denn noch nicht zu spät?«

»Nein es ist zwei Uhr. Die anderen haben sich gerade erst versammelt, du kannst es also noch schaffen. Wasch dein Gesicht, kämm deine Haare und zieh dein braunes Kleid an. Ich werde deinen Picknickkorb fertig machen und Jerry Bescheid sagen, damit er dich mit Pferd und Wagen zum Picknickplatz fahren kann.«

»Oh, Marilla«, rief Anne und sauste schnell wie der Wind zum Waschtisch hinüber. »Vor fünf Minuten war ich noch so traurig, dass ich wünschte, ich wäre nie geboren, und jetzt würde ich nicht einmal mit einem Engel tauschen wollen!«

An jenem Abend kehrte eine vollkommen glückliche und erschöpfte Anne nach Green Gables zurück.

»Es war ein himmlischer Tag, Marilla! Alles war wunderschön. Nach dem Essen ist Mr Andrews mit uns auf dem >See der glitzernden Wasser< rudern gegangen - immer sechs Mädchen in einem Boot. Jane Andrews ist fast über Bord gegangen. Sie wollte eine Seerose pflücken und hat sich so weit herausgebeugt, dass sie plötzlich das Gleichgewicht verloren hat. Wenn Mr Andrews sie nicht in allerletzter Minute festgehalten hätte, wäre sie ins Wasser gefallen und bestimmt jämmerlich ertrunken. Ich wünschte, das wäre mir passiert. Es muss so ein romantisches Gefühl sein, beinahe zu ertrinken! Und erst die Eiskrem! Mir fehlen die Worte, um diese Eiskrem zu beschreiben, Marilla. Ich schwöre dir, sie war einfach köstlich!«

Am Abend erzählte Marilla beim Strümpfestopfen ihrem Bruder, wie die ganze Geschichte ausgegangen war.

»Ich muss offen eingestehen, dass ich einen Fehler gemacht habe«, sagte sie nachdenklich. Dann schmunzelte sie. »Wenn ich an Annes >Geständnis< denke, muss ich lachen, obgleich es eine einzige faustdicke Lüge war! Eins ist sicher: Wo dieses Kind ist, wird es einem niemals langweilig werden.«