37332.fb2 Anne auf Green Gables - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 22

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22 - Matthew besteht auf Puffärmeln

Eines Abends im Dezember kam Matthew aus der Scheune in die warme Küche zurück und ließ sich auf der Brennholzkiste nieder, um seine schweren Stiefel abzustreifen. Erst jetzt bemerkte er, dass Anne und ihre Klassenkameradinnen im Wohnzimmer gegenüber eine Probe ihrer »Feenkönigin« abhielten. Sie waren gerade fertig geworden und kamen fröhlich lachend durch den Flur in die Küche gelaufen. Matthews Anwesenheit bemerkten sie nicht, denn er hatte sich - in der einen Hand einen Schuh, in der anderen den Stiefelknecht - in die dunkle Ecke hinter der Holzkiste zurückgezogen und beobachtete scheu, wie sich die Mädchen über den bevorstehenden Vortragsabend unterhielten und sich dabei ihre Mützen und Jacken anzogen. Anne bewegte sich unter ihnen ganz natürlich, ihre Augen strahlten genauso hell wie die der anderen Mädchen - doch irgendetwas an ihr war anders als bei ihren Klassenkameradinnen. Matthew hatte außerdem das Gefühl, dass es diesen Unterschied, der ihm so plötzlich zu Bewusstsein gekommen war, eigentlich nicht geben sollte. Aber worin bestand er?

Über diese Frage dachte Matthew noch lange nach, als die Mädchen schon längst nach Hause gegangen waren und Anne sich in ihre Bücher vertieft hatte. Mit Manila konnte er unmöglich darüber reden. Wahrscheinlich würde sie nur empört die Nase rümpfen und behaupten, der einzige Unterschied zwischen Anne und den anderen Mädchen bestehe darin, dass die anderen Mädchen ihren Mund hielten, während Anne wie ein Wasserfall plapperte. Aber das würde ihm auch nicht weiterhelfen.

Sehr zu Manilas Missvergnügen nahm er an jenem Abend zu seiner Pfeife Zuflucht, um besser nachdenken zu können. Nach zwei Stunden angestrengten Rauchens und Grübelns hatte Matthew die Lösung gefunden: Anne war anders angezogen als die anderen Mädchen!

Je mehr Matthew über die Sache nachdachte, desto überzeugter wurde er, dass dies schon immer der Fall gewesen war - jedenfalls solange Anne auf Green Gables wohnte. Marilla gab ihr schlichte, dunkle Kleider zum Anziehen, die sie alle nach dem gleichen einfachen Muster genäht hatte. Ob Matthew sich darüber im Klaren war, dass es so etwas wie Mode gab, mag dahingestellt bleiben; auf jeden Fall war er sich sicher, dass besonders die Ärmel von Annes Kleidern nicht so aussahen wie die der anderen Mädchen. Er rief sich die ganze Versammlung noch einmal in Erinnerung: Alle hatten sie farbenprächtige Kleider getragen - und er fragte sich, warum Marilla Anne wohl immer so schlicht kleidete.

Natürlich gab es dafür bestimmt gute Gründe. Marilla war schließlich für Annes Erziehung verantwortlich. Doch was auch immer für ein unerforschlicher, weiser Ratschluss dahinterstecken mochte - ein hübsches Kleid würde dem Kind bestimmt nicht schaden. Diana Barry trug schließlich ständig solche Kleider. Wenn er nun beschloss, Anne ein neues Kleid zu schenken, dann konnte das sicherlich nicht aus Verstoß gegen sein Versprechen ausgelegt werden, sich nicht in Annes Erziehung einzumischen. Bis Weihnachten waren es nur noch zwei Wochen. Ein hübsches neues Kleid wäre genau das richtige Geschenk. Mit einem befriedigten Seufzer legte Matthew seine Pfeife beiseite und ging zu Bett, während Marilla alle Türen und Fenster öffnete, um den Tabakrauch zu vertreiben.

Am nächsten Nachmittag fuhr Matthew nach Carmody, um ein Kleid für Anne zu kaufen. Je schneller er es hinter sich hatte, umso besser. Er wusste, dass er sich keine leichte Aufgabe gestellt hatte. Es gab Dinge, mit denen sich Matthew gut auskannte und über deren Preis er meisterlich verhandeln konnte — Kleider für Mädchen gehörten allerdings ganz bestimmt nicht dazu, in diesem Fall war er der Gnade des Ladenbesitzers hilflos ausgeliefert.

Nach langem Grübeln entschloss sich Matthew, diesmal in Samuel Lawsons Geschäft zu gehen anstatt in das von William Blair. Zwar waren die Cuthbert schon seit Menschengedenken Stammkunden bei William Blair, doch durch die Fensterscheibe konnte Matthew sehen, dass die beiden Töchter des Geschäftsinhabers an jenem Tag die Kunden bedienten, und mit diesen beiden jungen Damen konnte Matthew nur fertig werden, wenn er genau wusste, was er wollte, und geradewegs darauf zusteuern konnte. Bei einer Angelegenheit jedoch, die der Beratung und Erklärung bedurfte, hatte Matthew das dringende Bedürfnis, hinter dem Ladentisch einen Mann anzutreffen. Also ging er in den anderen Laden, wo Samuel oder sein Sohn ihn bedienen würden.

Matthew konnte natürlich nicht ahnen, dass Samuel erst vor kurzem eine neue Verkäuferin eingestellt hatte. Miss Harris war ein bildhübsches junges Ding mit einer modischen Frisur, ausdrucksvollen braunen Augen und einem atemberaubenden Lächeln. Bei ihrem Anblick geriet Matthew in schreckliche Bedrängnis.

»Was kann ich für Sie tun, Mr Cuthbert?«, fragte sie und sah ihn erwartungsvoll an.

»Haben Sie ... vielleicht... äh ... ich möchte ... eine Harke kaufen«, stammelte Matthew.

Miss Harris war erstaunt. Immerhin kam es ziemlich selten vor, dass ein Kunde mitten im Dezember ausgerechnet eine Harke verlangte. »Wir müssten noch eine oder zwei vom Sommer übrig haben«, antwortete sie schließlich, »aber sie sind oben im Lager. Ich werde einmal nachschauen. Einen Moment, bitte.«

Während ihrer Abwesenheit hatte Matthew etwas Zeit, um seine Kräfte für einen zweiten Anlauf zu sammeln.

Als Miss Harris mit der Harke zurückkam und freundlich nachfragte: »Darf es sonst noch etwas sein, Mr Cuthbert?«, nahm Matthew seinen ganzen Mut zusammen und antwortete: »Hm, tja ... wenn Sie schon fragen, dann könnte ich auch gleich ... äh ... etwas Grassamen kaufen.«

Miss Harris hatte die Leute schon sagen hören, dass Matthew Cuthbert ein bisschen merkwürdig sei. Jetzt kam sie zu der Überzeugung, dass er völlig übergeschnappt war.

»Grassamen führen wir nur im Frühling«, erklärte sie kühl. »Im Moment haben wir leider keinen vorrätig.«

»Ja, natürlich . . . selbstverständlich . . . ganz wie Sie meinen«, stammelte der unglückliche Matthew, griff nach der Harke und ging auf die rettende Tür zu. Erst auf der Schwelle fiel ihm siedend heiß ein, dass er ja noch gar nicht bezahlt hatte. Er musste wohl oder übel noch einmal zum Tresen zurück. Während Miss Harris sein Wechselgeld zählte, setzte er zu einem letzten verzweifelten Versuch an. »Hm, also ... falls es nicht zu viel Umstände macht... hätte ich gerne noch ... das heißt... ich würde gerne ... äh ... haben Sie Zucker?«

»Weißen oder braunen?«, erkundigte sich Miss Harris geduldig. »Was? Oh, äh .. . braunen, bitte!«

»Da drüben steht ein ganzes Fass voll. Mehr Sorten führen wir nicht.«

»Ich ... ich nehme zwanzig Pfund«, sagte Matthew. Dicke Schweißperlen standen auf seiner Stirn.

Erst als er die Hälfte des Heimwegs hinter sich gebracht hatte, kam Matthew halbwegs wieder zur Ruhe. Das kommt davon, dachte er, wenn man abtrünnig wird und in ein fremdes Geschäft einkaufen geht.

Zu Hause angekommen, verstaute er die Harke im Geräteschuppen und schleppte den Zucker zu Marilla in die Küche.

»Brauner Zucker?«, fragte Marilla erstaunt. »Was um alles in der Welt ist bloß in dich gefahren, so viel braunen Zucker zu kaufen? Ich benutze ihn doch so gut wie nie - außer für Jeriys Haferbrei vielleicht oder dunkle Obsttorte. Und es ist noch nicht einmal besonders guter Zucker. Er ist grob und dunkel. William Blair führt solchen Zucker doch gar nicht.«

»Ich ... ich dachte, wir könnten ihn irgendwann einmal gebrauchen«, sagte Matthew und flüchtete zur Tür hinaus.

Als er später noch einmal über die ganze Sache nachdachte, kam er zu der Überzeugung, dass eine Frau diese Angelegenheit in die Hand nehmen müsste. Marilla kam dafür allerdings nicht in Frage. Matthew war sich sicher, dass sie sein Vorhaben nach Kräften durchkreuzen würde. Blieb ihm also nur noch Mrs Lynde; Matthew hätte es nie gewagt, eine andere Frau in Avonlea um Rat zu fragen. Also ging er zu Mrs Lynde hinüber. Die gute alte Dame nahm dem geplagten Mann die Sache sofort aus der Hand.

»Ein Kleid als Weihnachtsgeschenk für Anne aussuchen? Aber natürlich kann ich das. Ich wollte morgen sowieso nach Carmody fahren, da kann ich es gleich erledigen. Haben Sie an etwas Bestimmtes gedacht? Nein? Nun gut, dann werde ich meinem eigenen Urteil vertrauen. Ein sattes Dunkelbraun würde Anne sicherlich gut stehen, denke ich. Neulich habe ich bei William Blair eine ganz wunderschöne Gloriaseide gesehen. Soll ich das Kleid gleich fertig machen? Wenn Marilla das tut, würde Anne bestimmt davon Wind bekommen und es sollte doch eine Überraschung werden, nicht wahr? Gut, dann übernehme ich das auch. Nein, es macht mir überhaupt keine Umstände, ich nähe gerne. Ich werde es meiner Nichte Jenny Gillis, anpassen. Sie hat genau die gleiche Figur wie Anne.«

»Ich bin Ihnen sehr dankbar«, sagte Matthew, »und ... ich weiß nicht... aber ich hätte gern ... also, ich glaube, man trägt die Ärmel heute anders als früher. Wenn es Ihnen nicht zu viel Arbeit macht, hätte ich sie gerne in der heutigen Weise.«

»Puffärmel, meinen Sie? Aber natürlich. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, ich werde es nach der neuesten Mode zuschneiden«, beruhigte ihn Mrs Lynde.

Als Matthew gegangen war, dachte sie: Es wird mir eine Freude sein, das arme Kind einmal in einem hübschen Kleid zu sehen. Manila mag ihre Gründe haben, sie immer nur in diese schrecklichen Dinger zu stecken, aber ich halte das für einen großen Fehler - jawohl! Das Kind muss doch den Unterschied zu den anderen Mädchen in seinem Alter spüren und das kann nicht gut sein. Dass Matthew das bemerkt hat...! Der Mann scheint ja langsam aufzuwachen!

In den letzten zwei Wochen vor Weihnachten ahnte Marilla natürlich, dass Matthew etwas im Schilde führte. Sie wusste aber nicht, was es war. Erst als Mrs Lynde am Heiligen Abend das neue Kleid vorbeibrachte, wurde sie in das Vorhaben eingeweiht.

»Das ist also der Grund, warum Matthew in den letzten zwei Wochen so geheimnisvoll tat«, sagte sie etwas steif, aber nicht unfreundlich. »Ich wusste, dass er irgendetwas Närrisches vorhatte. Ehrlich gesagt, glaube ich nicht, dass Anne ein neues Kleid braucht und so eins schon gar nicht. Allein in den Ärmeln steckt ja schon so viel Stoff, dass man daraus ein zweites machen könnte. Ihr werdet Annes Eitelkeit schmeicheln und sie ist jetzt schon eitel wie ein Pfau. Aber ich hoffe trotzdem, dass sie sich freut. Sie träumt schon seit langer Zeit von Puffärmeln, obgleich sie seit einer ganzen Weile nichts mehr darüber gesagt hat. - Wenn das mit der Mode so weitergeht, werden die Frauen bald nur noch seitwärts durch die Tür gehen können!«

Mit glänzenden Augen schaute Anne am Weihnachtsmorgen aus ihrem Fenster im Ostgiebel über die wie mit Puderzucker überzogenen Bäume und Felder: in der Nacht war der erste Schnee gefallen. Aufgeregt lief sie die Treppe hinunter und rief mit lauter Stimme: »Frohe Weihnachten, Marilla! Frohe Weihnachten, Matthew! Ist es nicht herrlich, dass wir weiße Weihnachten haben? Grüne Weihnachten mag ich nämlich überhaupt nicht. Meistens ist es dann gar nicht richtig grün, sondern nur grau und braun. Aber... Matthew! Ist das für mich? Oh, Matthew!«

Matthew hatte mit ungeschickten Fingern das neue Kleid aus dem Papier gewickelt und hielt es nun verlegen in die Höhe. Marilla machte sich an der Teekanne zu schaffen, beobachtete jedoch alles aus den Augenwinkeln.

Anne nahm das Kleid und betrachtete es mit ehrfürchtigem Schweigen. Was für ein wunderhübsches Kleid das war! Aus glänzender, weicher Gloriaseide gemacht, hatte es einen Rock mit üppigen Rüschen und ein Oberteil mit feinen Biesen, das nach der neuesten Mode mit einem kleinen Kragen aus kleiner Spitze abschloss. Aber die Krönung des Ganzen waren die Ärmel - die schönsten Puffärmel, die Anne je in ihrem Leben gesehen hatte!

»Das ist mein Weihnachtsgeschenk für dich«, sagte Matthew schüchtern. »Aber . . . aber Anne, gefällt es dir nicht? Was ist denn, Kind?« Annes Augen hatten sich plötzlich mit Tränen gefüllt.

»Ob es mir gefällt? Oh, Matthew!« Anne legte das Kleid über einen Stuhl und klatschte in die Hände. »Matthew, es ist wunder-, wunderschön. Ich weiß gar nicht, wie ich dir jemals danken soll. Schaut euch nur diese Ärmel an! Das muss alles ein schöner Traum sein.«

Nach dem Frühstück kam Diana nach Green Gables hinüber. Aufgeregt lief ihr Anne entgegen.

»Frohe Weihnachten, Diana! Ach, es ist ein überwältigendes Weihnachtsfest. Ich muss dir etwas Herrliches zeigen. Matthew hat mir das schönste Kleid der Welt geschenkt - mit solchen Puffärmeln. Ich könnte mir gar kein schöneres Kleid vorstellen.«

»Und ich habe auch etwas für dich«, sagte Diana. »Hier, schau mal -diese Schachtel. Tante Josephine hat uns ein riesengroßes Paket mit Geschenken geschickt und dies hier ist für dich.«

Anne öffnete die Schachtel und sah hinein. Neben einer Karte mit den Worten »Für die kleine Anne, frohe Weihnachten« lag ein Paar zierlicher weißer Sandaletten. Sie waren aus dem feinsten Satin gemacht und auf jeder Sandalette prangte eine glänzende Schnalle. »Oh, Diana!«, sagte Anne. »Sind die schön! Ich komme mir vor wie im Traum.«

»Die Schuhe kommen wie gerufen«, freute sich Diana. »Jetzt brauchst du nicht mehr Rubys Sandalen zu tragen. Sie wären dir sowieso zwei Nummern zu groß gewesen und es wäre nur peinlich geworden, wenn du als Fee durch den Saal geschlurft wärst. Josie Pye hätte ihre reinste Freude daran gehabt!«

Der Vortragsabend stand vor der Tür und die Schulkinder von Avonlea befanden sich vor Aufregung in einem wahren Taumel. Der Saal musste noch vor der Generalprobe am Nachmittag geschmückt werden.

Die Veranstaltung wurde ein voller Erfolg. Alle Vorführenden gaben ihr Bestes, doch Anne war der besondere Star des Abends, wie selbst Neider wie Josie Pye ehrlich eingestehen mussten.

»War das nicht ein wunderbarer Abend?«, fragte Anne, als alles vorbei war und sie mit Diana Hand in Hand unter dem sternenklaren Nachthimmel nach Hause ging.

»Alles hat prima geklappt«, stimmte Diana ihr zu. »Ich wette, wir haben mindestens zehn Dollar eingenommen. Stell dir vor: Mr Allan will einen Bericht an die Zeitung in Charlottetown schicken.«

»Oh, Diana, wir werden unsere Namen gedruckt sehen! Wenn ich nur daran denke, rieselt mir schon ein freudiger Schauer über den Rücken. Dein Solo war einfach hinreißend, Diana. Ich war mächtig stolz auf dich, als die Zuschauer eine Zugabe verlangten. Ich dachte: Das ist meine liebe Busenfreundin, der diese Ehre zuteil wird.«

»Deine Gedichte haben auch begeisterten Applaus geerntet, Anne. Dieses traurige Gedicht war einfach himmlisch.«

»Ach, ich war ja so nervös, Diana. Ich weiß gar nicht mehr, wie ich überhaupt auf die Bühne kam. Ich hatte das Gefühl, als wären eine Million Augen auf mich gerichtet und würden mich mit ihren Blicken förmlich aufspießen. Einen Moment lang dachte ich, ich könnte überhaupt nicht anfangen. Doch dann fielen mir meine herrlichen Puffärmel ein, das hat mir Mut gemacht. Am Anfang schien mir meine eigene Stimme von ganz weit her zu kommen. Ein Glück, dass ich die Gedichte so oft auf dem Dachboden geübt habe, dass ich sie wie im Schlaf konnte, sonst wäre ich stecken geblieben. War der Seufzer gut?«

»Ja, du hast wunderbar geseufzt«, versicherte Diana.

»Auf dem Weg zurück zu meinem Platz habe ich gesehen, dass die alte Mrs Sloane sich ein paar Tränen abwischte. Was für ein schöner Gedanke, dass ich das Herz eines Menschen gerührt habe! Es ist so romantisch, bei einem Vortragsabend aufzutreten, nicht wahr? Es war ein denkwürdiges Ereignis.«

»Die Jungen haben auch sehr gut gespielt«, fuhr Diana fort. »Gilbert Blythe war wunderbar, Anne. Ich finde es ziemlich gemein, wie du ihn behandelst. Warte, lass mich ausreden. Als du nach der Szene mit den Feen von der Bühne gelaufen bist, fiel eine Rose aus deinem Haar. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie Gilbert sie aufgehoben und in seine Brusttasche gesteckt hat. Du bist doch sonst so begeistert von romantischen Dingen. Ich finde, du könntest auch davon begeistert sein.«

»Was dieser Mensch tut, ist mir völlig gleichgültig«, sagte Anne, »und wenn es noch so romantisch ist. Ich verschwende keinen einzigen Gedanken an ihn, Diana.«

Nachdem Anne schon längst ins Bett gegangen war, saßen Marilla und Matthew, die zum ersten Mal seit zwanzig Jahren wieder auf einer Veranstaltung wie dieser gewesen waren, noch eine ganze Weile zusammen in der Küche.

»Nun, ich glaube, unsere Anne konnte es mit allen anderen bestens aufnehmen«, sagte Matthew stolz.

»Ja, da hast du wohl Recht«, stimmte Marilla zu. »Sie ist ein kluges Kind und sie sah hübsch aus. Ich war zwar am Anfang gegen diese Sache, aber inzwischen habe ich meine Meinung geändert. Jedenfalls war ich heute Abend stolz auf Anne. Ich werde mich allerdings hüten, ihr das zu sagen.«

»Ich war stolz auf sie und ich habe es ihr gesagt, bevor sie nach oben ging«, sagte Matthew. »Ich glaube, wir müssen uns bald noch etwas überlegen, Marilla: Die Dorfschule von Avonlea wird auf Dauer für sie nicht ausreichen.«

»Wir haben zum Glück noch viel Zeit, um darüber nachzudenken«, erwiderte Marilla. »Sie wird im März ja erst dreizehn, obgleich ich heute Abend überrascht war, was für ein großes Mädchen sie schon geworden ist. Mrs Lynde hat das Kleid ein wenig zu lang gelassen, Anne wirkt darin schon richtig erwachsen. Und ich glaube auch, dass sie das Zeug zu einer höheren Ausbildung hat - vielleicht am Queen’s College in Charlottetown. Aber darüber brauchen wir ihr in den nächsten ein oder zwei Jahren noch nichts zu sagen.«

»Nun ja, es kann ja wohl nicht schaden, ab und zu etwas darüber nachzudenken«, sagte Matthew.