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An einem lauen Spätsommerabend Anfang September holte Anne die Kühe von der Weide. Das warme Sonnenlicht durchflutete jede noch so kleine Lichtung zwischen den Bäumen und beschien den schmalen Weg nach Green Gables. Nur unter den hohen Ahornbäumen war es schon recht schattig. Durch die Wipfel der Tannen rauschte der Wind.
Verträumt folgte Anne den bedächtig heimwärts trottenden Kühen. Da sah sie Diana über das Feld der Barrys auf sich zulaufen. Nach ihrem Gesichtsausdruck zu urteilen, musste es irgendeine wichtige Neuigkeit geben, doch Anne ließ sich ihre Neugierde nicht anmerken.
»Ist das nicht ein traumhafter Abend, Diana?«, fragte sie ihre Freundin. »Ich bin froh, dass ich lebe! Morgens denke ich immer, der Tagesbeginn sei am schönsten, aber wenn es Abend wird, erscheint mir das plötzlich noch schöner.«
»Es ist ein sehr schöner Abend«, erwiderte Diana höflich, »aber ich muss dir unbedingt etwas erzählen, Anne. Dreimal darfst du raten, was!«
»Charlotte Gillis heiratet und Mrs Allan möchte, dass wir die Kirche schmücken?«
»Nein, so weit ist es zwischen Charlotte und ihrem Verehrer noch nicht.«
»Jane gibt eine Geburtstagsparty?«
Diana schüttelte den Kopf. Ihre schwarzen Augen funkelten.
»Ich habe keine Ahnung, was es sein könnte«, sagte Anne verzweifelt, »oder hat dich Moody Spurgeon MacPherson etwa gestern Abend nach der Kirche nach Hause begleitet?«
»Wo denkst du hin?«, rief Diana beleidigt. »Meinst du etwa, ich würde deshalb so aufgeregt sein? Ich wusste, dass du nie im Leben darauf kommen würdest. Pass auf: Mutter hat heute einen Brief von Tante Josephine bekommen; sie hat uns beide für nächsten Dienstag in die Stadt eingeladen und will uns auf den Jahrmarkt mitnehmen. Was sagst du nun?«
»Oh, Diana«, flüsterte Anne und stützte sich gegen einen der großen Ahornbäume, »ist das dein Ernst? Aber Marilla lässt mich womöglich gar nicht mitkommen! Sie wird sagen, dass sie nichts davon hält, kleine Mädchen auf alle möglichen Veranstaltungen mitzuschleppen. Jedenfalls hat sie das letzte Woche gesagt, als Jane mich eingeladen hat, mit den Andrews zum Konzert ins White Sands Hotel zu fahren. Das war eine herbe Enttäuschung für mich, Diana.«
»Ich habe schon eine Idee«, sagte Diana. »Wir werden meine Mutter bitten, Marilla um Erlaubnis zu fragen, dann wird es nicht ganz so schwierig sein. Ach, das wird wunderbar! Ich bin noch nie auf einem Jahrmarkt gewesen. Es ist so ärgerlich, immer nur den anderen Mädchen zuhören zu müssen, wenn sie von ihren Ausflügen berichten. Jane und Ruby sind schon zweimal in der Stadt gewesen und dieses Jahr wollen sie wieder hin.«
»Am besten werde ich gar nicht mehr daran denken, bis ich weiß, ob ich fahren kann oder nicht«, sagte Anne entschlossen. »Noch eine Enttäuschung könnte ich nicht verkraften. Aber falls wir gehen, kann ich gleich meinen neuen Mantel anziehen, den Matthew mir schenken will. Er wird vom Schneider drüben in Carmody gemacht und soll am Sonntag fertig sein. Matthew hat mir auch schon eine wunderschöne Mütze dazu gekauft. Oh, hoffentlich kann ich mitfahren!«
Manila war - ausnahmsweise - damit einverstanden, dass Anne mit Diana in die Stadt fuhr. Es wurde ausgemacht, dass Mr Barry die beiden Mädchen am folgenden Dienstag hinbringen sollte. Da Charlottetown dreißig Meilen entfernt war und Mr Barry am gleichen Tag wieder zurückkommen wollte, mussten sie schon sehr früh am Morgen aufbrechen. Doch Anne war am Dienstagmorgen sowieso schon vor Sonnenaufgang auf den Beinen. Ein kurzer Blick aus ihrem Fenster im Ostgiebel zeigte ihr, dass es ein schöner Tag werden würde. Der Himmel hinter den hohen Tannen war wolkenlos. Durch die Zweige sah sie ein Licht im Westgiebel von Orchard Slope schimmern: Diana war ebenfalls schon aufgestanden.
Während Matthew das Feuer schürte, zog sie sich an. Als Marilla herunterkam, hatte Anne schon den Frühstückstisch gedeckt. Allerdings war sie so aufgeregt, dass sie kaum einen Bissen herunterbekam. Nach dem Frühstück nahm sie ihren neuen Mantel und die neue Mütze und lief nach Orchard Slope hinüber, wo Mr Barry und Diana bereits auf sie warteten. Kurze Zeit später waren sie schon auf der Landstraße.
Es war eine lange Fahrt, doch Anne und Diana genossen jede Minute. Wie schön es doch war, über die taufeuchte Straße zu rattern und dem ersten roten Sonnenlicht zuzublinzeln, das über die goldenen Stoppelfelder kroch! Die Luft war frisch und kühl, kleine graublaue Nebelschwaden lagen über den Tälern. Die Straße führte zuerst durch einen lang gestreckten, bunten Ahornwald. Dann folgte sie eine Zeit lang der Küste, vorbei an kleinen Häfen und verwitterten Fischerhütten. Es gab immer etwas zu sehen und die Zeit verging wie im Fluge. Es war schon fast Mittag, als sie die Stadt erreicht und den Weg nach >Beechwood< gefunden hatten. >Beechwood< war ein sehr schönes, altes Herrenhaus, das weit zurück von der Straße in einem Park mit großen Ulmen und Buchen stand. Miss Barry erwartete sie schon an der Haustür. »Da seid ihr ja endlich! Und du kommst mich auch einmal besuchen, kleine Anne? Aber, Kind, du bist ja schon richtig groß geworden -größer als ich! Und wie hübsch du aussiehst! Aber ich wette, das weißt du auch, ohne dass ich es dir lange erkläre.«
»Nein, das wusste ich noch nicht«, antwortete Anne strahlend. »Ich weiß, dass ich nicht mehr so viel Sommersprossen habe. Dafür bin ich sehr dankbar. Aber ich hatte nicht zu hoffen gewagt, dass sich mein Aussehen auch sonst gebessert hätte. Ich bin ja so froh, dass Sie das sagen, Miss Barry.«
Miss Barrys Haus war »prunkvoll eingerichtet«, wie Anne später Manila berichtete. Die beiden kleinen Mädchen vom Lande waren etwas verschüchtert von all der Pracht, als Miss Barry sie im Salon allein ließ, um nach dem Abendessen zu schauen.
»Ein wahrer Palast, findest du nicht?«, flüsterte Diana. »Ich war noch nie hier. Ich hatte keine Ahnung, dass sie so reich ist. Ich wünschte, Julia Bell könnte das sehen - wo sie doch immer so mit dem prächtigen Salon ihrer Mutter herumprahlt.«
»Samtteppiche!«, seufzte Anne ehrfürchtig. »Und Seidengardinen! Von solchen Dingen habe ich geträumt, Diana. Aber weißt du, ich glaube, ich würde mich hier doch nicht so richtig wohl fühlen. Das Zimmer ist so vollgestopft mit herrlichen Dingen, dass für die Phantasie gar nichts mehr übrig bleibt. Das ist nämlich der einzige Trost, wenn man arm ist: Man kann viel mehr träumen.«
Anne und Diana schwärmten noch Jahre später von ihrem Besuch in der Stadt. Von Anfang bis Ende war es ein gelungener Ausflug.
Am Mittwoch verbrachten sie den ganzen Tag mit Miss Barry auf dem Jahrmarkt.
»Es war wunderbar«, erzählte Anne später Marilla. »Ich habe gar nicht geahnt, dass es so etwas Interessantes geben kann. Die Pferde, die Pflanzen und die Handarbeiten haben mir am besten gefallen. Mrs Lynde haben wir auch getroffen, sie hat einen Preis für hausgemachte Butter und ihren Käse gewonnen. Als ich sie als einziges vertrautes Gesicht unter all diesen fremden Leuten entdeckt habe, habe ich erst gemerkt, wie gern ich sie mag. Ich habe noch nie so viele Leute auf einem Fleck gesehen, Marilla. Unter ihnen habe ich mich schrecklich unbedeutend gefühlt. - Miss Barry ist mit uns auch zu der großen Tribüne gegangen, wo sie das Pferderennen sehen konnten. Mrs Lynde ist allerdings nicht mitgekommen. Sie meinte, Pferderennen seien etwas ganz Schädliches und sie als Mitglied der Kirche hätte die Pflicht, mit gutem Beispiel voranzugehen und dem Rennen fernzubleiben. Es waren allerdings so viele Leute da, dass Mrs Lyndes Abwesenheit wahrscheinlich niemandem aufgefallen ist. - Dann haben wir noch einen Mann mit einem Ballon fliegen sehen. Ich würde so gerne auch einmal mit einem Ballon fliegen, Marilla! Es muss einfach himmlisch sein. Da war auch noch ein Mann, der die Zukunft Voraussagen konnte. Man musste ihm zehn Cents bezahlen, dann pickte ein kleiner Vogel nach einer Karte, auf der man etwas über seine Zukunft lesen konnte. Auf meiner stand, dass ich einen dunkelhaarigen, sehr reichen Mann heiraten und mit ihm über das Wasser fahren würde, um mit ihm in einem fernen Land zu leben. Ich habe mir danach alle dunkelhaarigen Männer sorgfältig angeschaut, aber keiner von ihnen hat mir besonders gefallen. - Ach, es war ein unvergesslicher Tag, Marilla! Ich war so müde, dass ich nachts nicht einschlafen konnte. Miss Barry hat uns im Gästezimmer einquartiert - genau wie sie es versprochen hatte. Es war ein elegantes Zimmer, Marilla, aber irgendwie ist es doch nicht so schön, in einem Gästezimmer zu schlafen, wie ich mir das immer vorgestellt habe. Ich glaube, das ist das Schlimmste am Erwachsenwerden: Die Dinge, die man als Kind so gerne haben wollte, sind gar nicht mehr so wunderbar, wenn man sie schließlich bekommt.«
Am Donnerstag hatten sie einen Ausflug in den großen Stadtpark gemacht. Abends hatte Miss Barry sie dann mit in ein Konzert in der Musikakademie genommen, wo eine bekannte Primadonna einen Liedervortrag gab. Das war für Anne ein ganz besonderes Erlebnis. »Ich war so aufgeregt, Marilla, dass ich noch nicht einmal sprechen konnte - und das will schon einiges heißen, wie du weißt. Die Sängerin war wunderschön und zu ihrem Kleid aus weißem Satin trug sie glitzernde Diamanten. Als sie zu singen begann, schien die Welt um mich zu versinken. Es war, als würde ich in die Sterne schauen. Tränen traten mir in die Augen. Ach, es ging viel zu schnell vorbei. Ich wusste gar nicht, wie ich jemals wieder ins normale Leben zurückfinden sollte, und Miss Barry meinte, vielleicht würde mir ein großer Eisbecher im Restaurant gegenüber dabei helfen. Sie hatte Recht: Das Eis schmeckte köstlich, Marilla! - Diana sagte, sie wäre für das Stadtleben geboren. Miss Barry fragte mich nach meiner Meinung, aber ich sagte ihr, ich müsse mir die Antwort erst gut überlegen. Also dachte ich vor dem Einschlafen darüber nach — ich finde, das ist sowieso die beste Zeit zum Nachdenken - und kam zu dem Schluss, dass ich nicht für das Stadtleben geboren bin. Ab und zu mag es sehr schön sein, abends um elf nach einem Konzert noch einen Eisbecher zu verzehren, aber im Allgemeinen möchte ich um diese Zeit doch lieber in meinem Zimmer im Ostgiebel liegen und wissen, dass die Sterne vor meinem Fenster leuchten und der Wind draußen in den Tannen rauscht. Das habe ich Miss Barry am nächsten Morgen beim Frühstück erzählt. Sie hat gelacht. Miss Barry lacht sowieso über fast alles, was ich sage — selbst über die ernsthaftesten Dinge. Ehrlich gesagt gefällt mir das nicht besonders an ihr. Aber sie ist eine sehr gastfreundliche alte Dame und hat uns ganz wunderbar bewirtet.«
Am Freitag fuhr dann Mr Barry in die Stadt, um die beiden Mädchen abzuholen.
»Nun, ich hoffe, es hat euch gefallen«, sagte Miss Barry zum Abschied. »Und wie es uns gefallen hat!«, antwortete Diana.
»Dir auch, kleine Anne?«
»Ich habe jede einzelne Minute genossen«, rief Anne, schlag ihre Arme um den Hals der alten Frau und drückte ihr einen Kuss auf die Wange.
Miss Barry stand auf der Veranda und winkte den beiden kleinen Mädchen noch lange nach. Dann ging sie seufzend in ihr großes Haus zurück. Sie fühlte sich plötzlich sehr einsam.
>Ich habe Marilla Cuthbert für eine Närrin gehalten, als ich hörte, dass sie ein Waisenkind adoptiert hat<, dachte sie. >Aber jetzt glaube ich, sie hat genau das Richtige getan. Wenn ich ein Kind wie Anne im Haus hätte, wäre auch ich eine glücklichere Frau.<
Für Anne und Diana war die Heimfahrt genauso angenehm wie die Hinfahrt - ja, sogar noch angenehmer, denn am Ende der Reise wartete ihr Zuhause auf sie. Die Sonne ging gerade unter, als sie bei White Sands auf die Küstenstraße stießen. Vor ihnen hoben sich die Hügel von Avonlea schwarz gegen den roten Himmel ab. Die mächtigen Wellen brachen sich laut an den Felsen unter ihnen und die Luft roch nach frischem Seetang.
Als Anne wenig später zu Fuß über die alte Holzbrücke kam, winkte ihr das Küchenlicht von Green Gables ein freundliches Willkommen. Durch die offene Tür drang die Wärme des Herdfeuers hinaus in den kühlen Septemberabend. Fröhlich rannte Anne den Hügel hinauf und trat in die Küche, wo schon eine Schüssel heiße Suppe auf sie wartete. »Du bist zurück?« Marilla faltete ihr Strickzeug zusammen.
»Ja, und ... ach, Marilla, es ist so schön, wieder zu Hause zu sein!«, sagte Anne freudig. »Ich könnte alles umarmen und küssen - sogar die alte Standuhr dort drüben! Aber Marilla, ist das etwa ein gegrilltes Hähnchen? Das hast du doch wohl nicht extra meinetwegen gemacht?«
»Doch, das habe ich«, sagte Marilla. »Ich dachte mir, du würdest nach der langen Fahrt bestimmt sehr hungrig sein und etwas besonders Leckeres brauchen. Beeil dich und zieh deine Sachen aus. Sobald Matthew hereinkommt, wollen wir essen. Ich bin froh, dass du wieder da bist! Ohne dich war es schrecklich einsam hier. Noch nie sind mir vier Tage so lang erschienen.«
Nach dem Abendessen setzten sie sich ans Feuer und Anne gab Matthew und Marilla einen ausführlichen Bericht über ihre Erlebnisse in der Stadt.
»Es war eine wunderbare Zeit - ein Meilenstein in meinem Leben«, schloss sie glücklich. »Aber das Schönste von allem war, wieder nach Hause zu kommen.«