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»Zieh dein neues weißes Kleid an«, riet Diana ihrer Freundin. Draußen dämmerte es; ein großer, noch fahler Vollmond stand über Green Gables. Die Luft war voller süßer Sommergeräusche: Die Vögel zwitscherten leise, die grünen Baumwipfel raschelten im lauen Wind und aus der Ferne waren Stimmen und fröhliches Gelächter zu hören. Doch Annes Fensterladen waren fest geschlossen. Hier im Zimmer fand gerade eine wichtige Abendtoilette statt.
Das Zimmer im Ostgiebel hatte sich sehr verändert, seit Anne vier Jahre zuvor dort ihre erste bange Nacht verbracht hatte. Langsam, aber stetig hatte sie sich in dem vormall kahlen Raum ein gemütliches kleines Nest eingerichtet.
Die Träume von Samtteppichen und rosa Seidengardinen waren freilich nicht in Erfüllung gegangen. Doch auch Träume verändern sich mit den Jahren und es ist wenig wahrscheinlich, dass Anne ihren früheren Wunschbildern nachtrauerte.
Eine hübsche Matte auf dem Fußboden und blassgrüne Musselingardinen an dem hohen Fenster waren an ihre Stelle getreten. Es gab zwar keinen goldenen Brokat, aber dafür schmückte eine einfache Tapete mit Apfelblütenmuster die Wände. Anne hatte einige Bilder aufgehängt, die ihr Mrs Allan geschenkt hatte. Miss Stacys Foto hatte einen Ehrenplatz auf Annes Kommode gefunden. Anne achtete sorgfältig darauf, die Vase davor immer mit frischen Blumen zu füllen. An jenem Abend waren es weiße Lilien, die den Raum mit einem zarten Duft erfüllten.
Anne und Diana machten sich gerade für ein Wohltätigkeitsfest fertig, das zu Gunsten des Krankenhauses von Charlottetown im White Sands Hotel stattfinden sollte, in der ganzen Umgebung hatte man nach jungen Talenten gesucht, die die Veranstaltung mit ihren Darbietungen unterstützen könnten. Berta Sampson und Pearl Clay vom Baptistenchor aus White Sands sollten ein Duett singen, Milton Clars aus Newbridge würde ein Geigensolo spielen und Winnie Adella Blair aus Carmody eine schottische Ballade zu Gehör bringen. Und Laura Spencer aus Spencervale und Anne Shirley aus Avonlea sollten Gedichte vortragen.
Dieses Fest war »ein Meilenstein« in Annes Leben — so hätte sie sich jedenfalls früher ausgedrückt und sie wusste sich vor Aufregung kaum zu fassen.
Matthew befand sich vor lauter Stolz über die Ehre, die seiner Anne zuteil werden sollte, im siebten Himmel, und Manila war nicht weniger glücklich, obgleich sie eher gestorben wäre, als dies offen zuzugeben.
Jane Andrew und ihr Bruder Billy wollten Anne und Diana abholen. Ganz Avonlea würde da sein - ja, es wurden sogar Zuschauer aus der Stadt erwartet. Nach den Darbietungen sollte es ein kaltes Buffet geben.
»Meinst du wirklich, ich soll das weiße Kleid anziehen?«, wollte Anne wissen. »Ich finde das blau geblümte schöner und das weiße ist nicht so modisch.«
»Dafür steht es dir aber besser«, erwiderte Diana. »Es ist so schön weich und fließend, das blaue sieht viel zu steif und vornehm aus. Du kannst dir eine weiße Schleife ins Haar binden und eine kleine weiße Rose, wenn du willst.«
Seufzend lenkte Anne ein. Diana hatte einen ausgezeichneten Geschmack, was Kleidung anging, und ihr Rat wurde stets befolgt.
»Soll ich meine Perlenkette tragen?«, fragte Anne nach einer Weile. »Matthew hat sie mir letzte Woche aus der Stadt mitgebracht. Ich weiß, er würde sie gerne an mir sehen.«
Diana schürzte die Lippen und neigte nachdenklich ihren Kopf, um sich schließlich zu Gunsten der Perlen zu entscheiden.
»Du hast so etwas Elegantes an dir, Anne«, stellte Diana neidlos fest. »Du siehst . . . anmutig aus. Wahrscheinlich ist es deine Figur. Ich glaube, ich bin einfach zu dick. Ich habe es schon immer befürchtet und jetzt weiß ich, dass es so ist. Naja, wahrscheinlich muss ich mich einfach damit abfinden.«
»Dafür hast du wunderschöne Grübchen«, entgegnete Anne. »Ich habe die Hoffnung auf Grübchen endgültig aufgegeben; dieser Traum wird wohl niemals in Erfüllung gehen. Aber es sind schon so viele meiner Träume wahr geworden, dass ich mich eigentlich nicht beklagen kann. - Was meinst du, bin ich jetzt fertig?«
»Ganz fertig«, versicherte Diana gerade, als Marilla das Zimmer betrat. »Kommen Sie nur herein, Miss Cuthbert, und schauen Sie sich Anne an. Sieht sie nicht wunderbar aus?«
»Hauptsache, sie macht sich das schöne Kleid nicht kaputt und erkältet sich nicht auf der langen Fahrt. Ich habe Matthew ja gleich gesagt, dass es furchtbar unpraktisch ist, aber er hört einfach nicht mehr auf mich. Wenn es darum geht, Anne etwas zu kaufen, schmeißt er mit dem Geld nur so um sich. Die Verkäufer in Carmody können ihm alles andrehen, sie brauchen ihm nur zu sagen: >Das ist zur Zeit modern.< -Pass auf, dass sich dein langes Kleid nicht in den Speichen verfängt, Anne, und nimm dir eine warme Jacke mit.«
Mit diesen Worten verließ sie das Zimmer und ging wieder in ihre Küche hinunter. Äußerlich streng, war sie doch insgeheim stolz auf ihr kleines Mädchen, das in dem neuen Kleid so hübsch aussah und am Abend vor so vielen Leuten auftreten sollte.
»Bist du aufgeregt, Anne?«, fragte Diana.
»Kein bisschen. Ich habe inzwischen schon so oft Gedichte vorgetragen, dass es mir gar nichts mehr ausmacht. Zum Glück habe ich etwas Trauriges ausgewählt. Es fällt mir leichter, die Leute zum Weinen zu bringen als zum Lachen.«
»Hast du dir schon eine Zugabe überlegt, falls die Zuhörer eine fordern?«
»Sie werden nicht im Traum daran denken«, wehrte Anne ab, die sich insgeheim natürlich dennoch genau das Gegenteil erhoffte. Wie schön wäre es doch, Matthew am nächsten Morgen am Frühstückstisch von einem begeisterten Publikum berichten zu können! »Ich höre eine Kutsche kommen. Da sind Billy und Jane ja schon. Komm, schnell!«
Billy, ein dicklicher junger Mann um die Zwanzig mit einem ausdruckslosen Gesicht, bestand darauf, dass Anne vorne bei ihm auf dem Kutschbock saß. Etwas widerwillig nahm sie neben ihrem stillen Verehrer Platz; viel lieber hätte sie hinten bei den Mädchen gesessen. Auf der Straße waren schon viele Kutschen unterwegs und alle fuhren in Richtung White Sands. Überall waren fröhliches Gelächter und Geplauder zu hören.
Als sie in White Sands ankamen, war das Hotel bereits hell erleuchtet. Eine der Damen vom Wohltätigkeitsverein führte Anne gleich in die überfüllte Künstlergarderobe. Unter all den schillernden Persönlichkeiten aus der Stadt kam sich Anne jedoch plötzlich ganz klein und unbedeutend vor. Gegenüber den wertvollen Seidenstoffen, die überall um sie herum glänzten und raschelten, erschien ihr das weiße Kleid, das im Ostgiebel von Green Gables noch so hübsch und elegant gewirkt hat, auf einmal entsetzlich schlicht und unscheinbar. Was war ihre Perlenkette schon gegen die strahlenden Diamanten der großen Damen neben ihr? Und wie armselig wirkte ihre kleine weiße Rose im Vergleich zu den üppigen Blumenbuketts, die die anderen trugen! Anne legte ihren Hut und ihre Jacke ab und versteckte sich niedergeschlagen in einer dunklen Ecke. Inständig wünschte sie sich in ihr kleines Zimmer auf Green Gables zurück.
Auf der Bühne des großen Hotelsaales, auf der sie sich bald wiederfand, wurde ihr noch banger zu Mute. Das elektrische Licht blendete ihre Augen, das Parfüm und das laute Gemurmel um sie herum verwirrten ihre Sinne. Wie gerne würde sie jetzt bei Diana und Jane im Zuschauerraum sein und den Abend in Ruhe genießen können! Eingezwängt zwischen einer fülligen Dame in einem rosa Seidenkleid und einem großen, verächtlich dreinblickenden Mädchen in weißen Spitzen, saß Anne ängstlich da. Die füllige Dame drehte sich gelegentlich zur Seite und unterzog Anne durch ihre Brille einer so eingehenden Prüfung, dass Anne das Gefühl hatte, jeden Moment laut aufschreien zu müssen. Währenddessen unterhielt sich das Mädchen in weißen Spitzen lautstark mit ihrer Nachbarin über die »Bauerntölpel« und »Dorfschönheiten« im Publikum und sagte mit betont gelangweilter Stimme, die Darbietungen ländlicher Talente würden sicherlich »recht amüsant« werden. Anne meinte dieses Mädchen in seinen weißen Spitzen bis an das Ende ihres Lebens hassen zu müssen.
Zufälligerweise hielt sich gerade eine richtige Schauspielerin in White Sands auf. Sie hatte zugesagt, ebenfalls ein Gedicht vorzutragen. Die anmutige, dunkeläugige Frau trug ein wundervolles Gewand aus schimmernder grauer Seide - wie gewebte Mondstrahlen, dachte Anne - und glitzernde Juwelen. Sie hatte eine hervorragende Stimme und eine starke Ausdruckskraft. Das Publikum war begeistert und auch Anne vergaß einen Moment lang all ihre Ängste und lauschte mit leuchtenden Augen ihrem Vortrag. Doch als der Applaus einsetzte, vergrub Anne ihr Gesicht in den Händen. Nach diesem Vortrag konnte sie nicht auf die Bühne treten - nie und nimmer! Hatte sie wirklich jemals gedacht, sie könnte Gedichte vortragen? Ach, wenn sie doch nur schon wieder zurück auf Green Gables wäre!
Genau in diesem Moment wurde ihr Name aufgerufen. Wie in Trance stand Anne auf. Sie war so blass, dass sich Diana und Jane unten im Zuschauerraum vor Aufregung und Mitgefühl an der Hand fassten.
Anne hatte ganz entsetzliches Lampenfieber. So oft sie auch schon in der Öffentlichkeit aufgetreten war — vor einem solchen Publikum hatte sie noch nie gestanden. Ein einziger Blick hinunter in den Zuschauerraum genügte, um ihr die letzte Kraft zu rauben. Es war alles so fremd hier, so vornehm, so verwirrend: die langen Reihen von Damen in Abendkleidern, ihre erwartungsvollen Gesichter, die ganze Atmosphäre von Reichtum und Kultur, die sie um sich verbreiteten. Wie anders waren dagegen doch die Vortragsabende im Debattierclub gewesen - auf den schlichten Holzbänken hatte sie nur vertraute Gesichter von Freunden und Nachbarn gesehen. Hier jedoch würde sie auf gnadenlose Kritiker stoßen. Vielleicht waren sie alle - wie das Mädchen in den weißen Spitzen - nur darauf aus, sich über die »ländlichen Talente« lustig zu machen. Anne schämte sich, sie fühlte sich hilflos und unglücklich. Ihre Knie zitterten, ihr Herz pochte heftig und eine furchtbare Schwäche überkam sie. Kein Wort würde sie über die Lippen bringen! Am besten flog sie jetzt gleich von der Bühne, auch wenn dies eine schreckliche Niederlage bedeuten würde. Plötzlich fiel ihr unruhiger, ängstlicher Blick auf Gilbert Blythe, der im hinteren Teil des Zuschauerraumes saß und sie lächelnd anschaute - ein triumphierendes, höhnisches Lächeln, dachte Anne. Neben ihm saß Josie Pye und sah ebenfalls gespannt auf die Bühne. Annes Körper straffte sich. Sie nahm einen tiefen Atemzug und hob stolz den Kopf. Vor Gilbert Blythe würde sie sich keine Blöße geben! Sie würde ihm keine Gelegenheit geben, sie auszulachen - niemals! Ihre Angst wich und entschlossen begann sie mit ihrem Vortrag. Ihre klare Stimme erreichte auch noch die entlegenste Ecke des großen Saales, ohne dass ein Zittern darin zu bemerken gewesen wäre. Anne hatte ihre innere Ruhe wieder gefunden und als Reaktion auf die ausgestandene Angst fiel ihr Vortrag besser aus als je zuvor. Das Publikum belohnte sie mit einem donnernden Applaus. Als Anne, verlegen und glücklich zugleich, zurück zu ihrem Platz ging, drückte ihr die füllige Dame in dem rosa Seidenkleid herzlich die Hand.
»Das war wunderbar!«, verkündete sie. »Ich habe geweint wie ein Baby. Es wird immer noch geklatscht. Man will eine Zugabe von dir.«
»Ich kann nicht mehr«, sagte Anne verwirrt. »Und doch ... ich muss, sonst wird Matthew enttäuscht sein. Er hat gesagt, die Zuhörer würden sicherlich eine Zugabe verlangen.«
»Dann solltest du deinen Matthew auch nicht enttäuschen, finde ich«, sagte die Dame in Rosa lachend.
Mit glühenden Wangen ging Anne auf die Bühne zurück und trug ein weiteres Gedicht vor, das das Publikum in noch größere Begeisterung versetzte. Der Rest des Abends war ein einziger Triumph für sie.
Als die Darbietungen vorbei waren, nahm die füllige Dame - sie war die Frau eines amerikanischen Millionärs - Anne unter ihre Fittiche und stellte sie den anderen Gästen vor. Alle waren sehr nett zu ihr. Die Schauspielerin, Mrs Evans, kam zu ihr, um sich mit ihr zu unterhalten und ihr zu sagen, dass sie eine bezaubernde Stimme hätte. Selbst das Mädchen in den weißen Spitzen machte ihr ein Kompliment. Dann wurde im großen Speisesaal das kalte Buffet aufgetragen.
Anne seufzte tief, als sie Stunden später vor das Hotel trat und den klaren Himmel über den schwarzen Wipfeln der Tannen betrachtete. Wie gut die Stille der Nacht doch tat!
»War es nicht ein wunderbarer Abend?«, fragte Jane, als sie nach Hause fuhren. »Ich wünschte, ich wäre eine reiche Amerikanerin und könnte den ganzen Sommer in einem Hotel verbringen, Juwelen und tief ausgeschnittene Kleider tragen und jeden Tag Eiskrem und Geflügelsalat essen! Anne, dein Vortrag war einfach himmlisch — obgleich ich zuerst dachte, du würdest nie damit anfangen. Ich fand dich viel besser als Mrs Evans.«
»Oh, nein, sag so etwas nicht, Jane«, wehrte Anne ab. »Es klingt so albern. Ich könnte niemals besser sein als Mrs Evans. Sie ist eine richtige Schauspielerin — ich bin nur ein kleines Schulmädchen mit einer Schwäche für traurige Gedichte. Ich bin schon zufrieden damit, dass mein Vortrag den Leuten überhaupt gefiel.«
»Du hast übrigens ein richtiges Kompliment bekommen, Anne«, sagte Diana. »Jedenfalls meine ich, es kann nur als Kompliment gedeutet werden - nach dem Tonfall zu urteilen. Hinter Jane und mir saß nämlich ein Amerikaner, ein richtig gut aussehender Mann mit kohlrabenschwarzen Haaren und funkelnden Augen. Josie Pye meint, er sei ein bekannter Künstler, der Mann der Cousine ihrer Mutter sei mit ihm zur Schule gegangen. Auf jeden Fall hörten wir ihn sagen: >Wer ist das Mädchen mit den wundervollen tizianfarbenen Haaren? Sie hat ein Gesicht, das ich gern malen würde .. .< Da hast du es, Anne! -Was heißt >tizianfarben< überhaupt?«
»Übersetzt heißt es nichts anderes als >rot<«, lachte Anne. »Tizian war ein berühmter Maler, der am liebsten rothaarige Frauen malte.«
»Habt ihr die reichen Damen mit all ihren Diamanten gesehen?«, seufzte Jane. »Es muss wundervoll sein, wenn man reich ist!«
»Wir sind reich«, erwiderte Anne entschieden. »Wir sind sechzehn Jahre alt, wir sind glücklich - und wir haben Phantasie! Schaut euch das Meer an, wie es dort drüben silbrig schimmert - hell und doch voller Schatten und unergründlicher Geheimnisse. Selbst wenn wir Millionen Dollar und meterlange Diamantketten hätten - es könnte nicht schöner für uns sein. Wer von uns würde denn wirklich mit einer dieser reichen Damen tauschen wollen, Jane? Würdest du tatsächlich dieses Mädchen im weißen Spitzenkleid sein wollen und dein Leben lang mit einem sauertöpfischen Gesicht herumlaufen? Oder die Amerikanerin mit dem rosa Seidenkleid? Sie mag ja ganz nett sein, aber sie ist so schrecklich dick, dass man ihre Figur gar nicht mehr erkennen kann. Oder selbst Mrs Evans mit diesem abgrundtief traurigen Blick in den Augen? Sie muss in ihrem Leben furchtbares Leid erfahren haben, um einen solchen Blick zu bekommen. Ich weiß ganz genau, du würdest mit keiner von ihnen wirklich tauschen wollen, Jane Andrews!«
»Ich weiß nicht...«, antwortete Jane nicht ganz überzeugt. »Ich glaube, Diamanten können einen über eine ganze Menge hinwegtrösten.«
»Ich bin mir da jedenfalls ganz sicher. Auch wenn ich nie im Leben von Diamanten >getröstet< werde - ich bin Anne auf Green Gables, und ich bin damit zufrieden. Mag meine Perlenkette auch recht bescheiden wirken - ich weiß genau, dass Matthew sie mir mit mehr Liebe geschenkt hat, als alle Juwelen der Welt aufwiegen könnten.«