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09 - Eine gründliche Entschuldigung

An jenem Abend erzählte Manila ihrem Bruder nichts von den dramatischen Ereignissen, doch als sich Anne am nächsten Morgen immer noch nicht einsichtig zeigte, musste sie ihm eine Erklärung für Annes Abwesenheit am Frühstückstisch geben. Also erzählte sie Matthew die ganze Geschichte, aber obwohl sie sich große Mühe gab, gelang es ihr nicht, ihm die Ungeheuerlichkeit von Annes Benehmen klarzumachen.

»Es ist gar nicht schlecht, dass Rachel Lynde mal einen Dämpfer bekommen hat. Sie ist eine unverbesserliche alte Klatschbase«, meinte er nur dazu.

»Matthew Cuthbert, ich kann nur staunen! Du weißt ganz genau, dass Anne sich gründlich danebenbenommen hat, und trotzdem nimmst du sie noch in Schutz! Als Nächstes wirst du wohl sagen, dass sie gar keine Strafe verdient hat.«

»Hm, nein ... nein, das nicht«, sagte Matthew beklommen. »Ich denke, ein bisschen bestraft werden müsste sie schon. Aber sei nicht zu streng mit ihr, Marilla. Denk daran: Bisher hat ihr niemand gesagt, was richtig und falsch ist. Du ... du wirst ihr doch etwas zu essen geben?«

»Meinst du, ich lasse sie verhungern?«, versetzte Marilla entrüstet. »Sie bekommt regelmäßig ihre Mahlzeiten. Ich bringe sie ihr selbst in ihr Zimmer. Aber sie bleibt solange dort oben, bis sie bereit ist, sich bei Mrs Lynde zu entschuldigen. Und dabei bleibt es, Matthew.« Frühstück, Mittag- und Abendessen gingen vorüber, doch Anne wollte immer noch nicht einlenken. Nach jeder Mahlzeit trug Marilla ein reichlich ausgestattetes Tablett in den Ostgiebel hinauf und brachte es später genauso voll wieder herunter. Matthew verfolgte dieses Geschehen mit besorgten Blicken. Hatte Anne überhaupt etwas gegessen?

Als Marilla am Abend hinausging, um die Kühe von der Weide zu holen, schlüpfte Matthew - der heimlich hinter der Scheune gewartet hatte - wie ein Dieb in sein eigenes Haus und schlich die Treppe zum Ostgiebel hinauf. Auf Zehenspitzen tastete er sich den Flur entlang und hielt einige Minuten lang vor Annes Zimmertür inne, bis er genug Mut gefasst hatte, die Klinke herunterzudrücken.

Anne saß auf einem Stuhl am Fenster und ließ ihre traurigen Blicke über den Garten streifen. Sie sah sehr klein und unglücklich aus. Matthews Herz fing bei diesem Anblick heftig an zu schlagen. Vorsichtig schloss er die Tür hinter sich und kam auf Zehenspitzen zu ihr hinüber. »Anne«, flüsterte er, als hätte er Angst, dass jemand ihn hören könnte, »wie geht es dir, Anne?«

Anne lächelte schwach. »Ganz gut. Ich träume viel und das hilft, die Zeit zu vertreiben. Natürlich ist es ziemlich einsam. Aber ich werde mich schon daran gewöhnen.«

Anne lächelte wieder - tapfer sah sie den langen Jahren ihrer Gefangenschaft entgegen.

Matthew schwieg betroffen. Doch dann erinnerte er sich wieder daran, dass er ihr sagen musste, weshalb er gekommen war - und zwar so schnell wie möglich, bevor Marilla von der Weide zurückkehrte. »Hm, Anne .. . meinst du nicht, dass du es besser schnell hinter dich bringen solltest?«, flüsterte er. »Früher oder später musst du es sowieso tun, weißt du. Marilla ist nämlich ein schrecklicher Dickkopf. Wenn sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hat. . . Tu es lieber gleich, Anne, dann hast du es hinter dir.«

»Mich bei Mrs Lynde entschuldigen, meinst du?«

»Ja, entschuldigen, das ist das richtige Wort«, sagte Matthew eifrig. »Die Sache gerade biegen. Das ist es, was ich sagen will.«

»Wenn ich dir damit einen Gefallen tun könnte . . .«, erwiderte Anne nachdenklich. »Für dich würde ich alles tun ... wenn du es wirklich willst...«

»Natürlich will ich das. Unten ist es fürchterlich einsam ohne dich. Geh einfach hin und bring die Sache ins Reine. Dann ist alles wieder gut, Anne.«

»Also schön«, sagte Anne ergeben. »Wenn Marilla kommt, werde ich ihr sagen, dass ich bereit bin.«

»Das freut mich sehr, Anne - wirklich! Aber sag Marilla nichts davon, dass wir miteinander geredet haben. Ich musste ihr versprechen, mich nicht in deine Erziehung einzumischen.«

»Keine zehn Pferde würden mir das Geheimnis entreißen«, versprach Anne feierlich. »Wie sollten Pferde überhaupt einem Menschen Geheimnisse entreißen, Matthew?«

Doch Matthew war schon gegangen. Er flüchtete in die hinterste Ecke der Pferdeweide, um auf keinen Fall bei Marilla Verdacht zu erregen, die wenige Augenblicke später ins Haus zurückkam.

»Marilla«, ließ sich eine klägliche Stimme auf dem Treppengeländer vernehmen.

»Ja?«

»Es tut mir Leid, dass ich so unbeherrscht war und rüde Dinge gesagt habe. Ich bin bereit, mich bei Mrs Lynde zu entschuldigen.«

»Also gut.« Marilla ließ sich nicht anmerken, welch riesiger Stein ihr vom Herzen fiel. Sie hatte sich schon den Kopf darüber zerbrochen, was um alles in der Welt sie tun sollte, falls Anne nicht nachgeben würde. »Gleich nach dem Melken gehen wir zu ihr hinüber.«

Und so machten sie sich ein wenig später auf den Weg: Marilla aufrecht und siegesbewusst, Anne in sich gesunken und niedergeschlagen. Doch je länger sie gingen, desto mehr hellte sich Annes Miene auf.

»Woran denkst du, Anne?«, fragte Marilla ungehalten.

»Ich denke mir gerade aus, was ich Mrs Lynde sage«, antwortete Anne lächelnd.

Das war eine befriedigende Antwort - oder hätte es zumindest sein sollen. Doch Marilla konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass etwas an ihrer Bestrafungsmethode schief gelaufen war.

Als sie Mrs Lyndes Küche betraten, war das Lächeln von Annes Gesichtverschwunden. Mit bußfertiger Miene sank sie vor der alten Dame in die Knie.

»Oh, Mrs Lynde, es tut mir so unendlich Leid«, begann sie mit zitternder Stimme. »Auch wenn ich ein ganzes Wörterbuch benutzen würde, könnte ich meinen Kummer nicht in Worte fassen. Sie müssen mir verzeihen. Ich habe mich Ihnen gegenüber fürchterlich benommen, und ich habe meinen lieben Freunden, Matthew und Marilla, die mich auf Green Gables behalten haben, obwohl ich kein Junge bin, große Schande gemacht. Ich bin ein schrecklich ungezogenes und undankbares Mädchen und verdiene es, aus der Gesellschaft anständiger Menschen ausgestoßen zu werden. Alles, was Sie gestern über mich gesagt haben, stimmt aufs Wort: Meine Haare sind rot, ich bin dürr, hager und habe Sommersprossen. Was ich über Sie gesagt habe, war ebenfalls die Wahrheit, aber ich hätte es nicht sagen dürfen. Oh, Mrs Lynde, bitte vergeben Sie mir. Wenn Sie mir nicht verzeihen, wird dieses Unglück mein ganzes Leben überschatten. Sie wollen ein armes kleines Waisenkind doch nicht so ins Verderben stürzen, selbst wenn es manchmal schnell die Beherrschung verliert, nicht wahr? Ich weiß, dass Sie das nie tun würden! Bitte, sagen Sie, dass Sie mir verzeihen würden, Mrs Lynde!«

Damit faltete Anne die Hände, senkte den Kopf und wartete demütig auf ihr Urteil.

Diese Rede war zweifelsohne bitterernst gemeint, doch Marilla glaubte zu bemerken, dass Anne die Situation auch durchaus genoss. Sie suhlte sich offenbar geradezu in ihrer Erniedrigung. Wo war die empfindliche Lektion, die Marilla ihr eigentlich erteilen wollte? Anne hatte die Strafe in einen theatralischen Auftritt umgemünzt, an dem sie ihre helle Freude hatte.

Die gute Mrs Lynde, die nicht so eine feine Wahrnehmungskraft besaß wie ihre Nachbarin, schien das alles nicht zu bemerken. Sie hörte nur, dass Anne sich umfassend entschuldigt hatte, und aller Groll schwand aus ihrem rechtschaffenen Herzen.

»Schon gut, Kind, steh schon auf«, sagte sie freundlich. »Natürlich verzeihe ich dir. Ich war ein bisschen hart zu dir, aber ich sage nun einmal immer alles frei heraus. Du darfst dir nichts aus meiner Art machen, es war nicht so gemeint. Es lässt sich zwar nicht leugnen, dass deine Haare fürchterlich rot sind, aber in meiner Schulklasse gab es damals ein Mädchen, dessen Haare brandrot waren, so wie deine. Mit zunehmendem Alter jedoch dunkelte es nach und es wurde daraus ein sehr schönes Kastanienbraun. Warum sollte das bei dir nicht auch so sein?«

»Oh. Mrs Lynde!« Mit einem tiefen Atemzug erhob sich Anne von den Knien. »Sie geben mir Hoffnung. Ich werde Sie stets als Wohltäterin in Erinnerung behalten. Ach, ich könnte alles ertragen, wenn ich nur wüsste, dass meine Haare später kastanienbraun würden! Es ist so viel einfacher, brav zu sein, wenn man schöne kastanienbraune Haare hat, meinen Sie nicht? - Darf ich jetzt ein bisschen hinaus in Ihren Garten gehen und auf der Bank unter den Apfelbäumen sitzen, während Sie sich mit Marilla unterhalten? Da draußen gibt es so viel Raum für Phantasie.«

»Aber ja, mein Kind, natürlich darfst du das. Wenn du willst, kannst du dir dort drüben in der Ecke auch einen Strauß Lilien pflücken.« Als die Tür sich hinter Anne geschlossen hatte, stand Mrs Lynde auf und zündete ein Licht an.

»Das ist wirklich ein erstaunliches kleines Mädchen, Marilla. Ich bin nicht mehr ganz so verwundert darüber, dass Matthew und du sie behalten habt. Sie hat zwar eine etwas absonderliche Art sich auszudrücken, aber das wird sich mit der Zeit schon legen, denke ich, wo sie jetzt unter zivilisierten Menschen lebt. Und ein unbeherrschtes Kind ist immer noch besser als ein hinterhältiges oder ein falsches - jawohl! Alles in allem, Marilla, ich kann deine Anne schon besser leiden.«

Als Marilla sich verabschiedet hatte, kam Anne aus dem duftenden Zwielicht des Obstgartens gelaufen. In der rechten Hand hielt sie einen Strauß weißer Lilien.

»Na, habe ich mich gut entschuldigt?«, fragte sie stolz, als sie nebeneinander den Hohlweg hinuntergingen. »Ich dachte, wenn ich mich schon entschuldigen muss, dann aber auch gründlich.«

»Gründlich genug war es auf jeden Fall«, war Marillas Antwort. Mit einigem Missbehagen stellte sie fest, dass sie bei der Erinnerung an Annes Auftritt schmunzeln musste.

»Ich hoffe, dass du dir in Zukunft solche Entschuldigungen durch gutes Benehmen von vornherein ersparst, Anne.«

»Das wäre gar nicht so schwer, wenn die Leute mich nicht immer mit meinem Aussehen aufziehen würden«, seufzte Anne. »Bei anderen Dingen werde ich nicht so leicht zornig; aber ich bin es so leid, wegen meiner Haare aufgezogen zu werden, dass ich innerlich sofort koche. Glaubst du, dass meine Haare mit der Zeit wirklich kastanienbraun werden könnten?«

»Du solltest nicht so viel an dein Aussehen denken, Anne. Ich fürchte, du bist ein sehr eitles kleines Mädchen.«

»Wie kann ich eitel sein, wo ich doch weiß, dass ich hässlich bin?«, widersprach Anne. »Aber ich liebe nun mal schöne Dinge - wie diese Blumen zum Beispiel! Sind sie nicht herrlich? Es war nett von Mrs Lynde, dass sie sie mir geschenkt hat. Ich bin jetzt überhaupt nicht mehr böse auf sie. - Glänzen die Sterne nicht wunderbar heute Abend? Wenn du auf einem Stern leben könntest, welchen würdest du dir auswählen? Ich würde den schönen hellen dort über dem Hügel nehmen.«

»Anne, halt den Mund«, sagte Marilla, erschöpft von dem Versuch, Annes Gedankensprüngen zu folgen.

Schweigend gingen sie weiter, bis sie Green Gables vor sich liegen sahen. Der Abendwind wehte den Duft von taunassem Farn herüber und ein warmes Licht leuchtete durch die Dunkelheit. Anne kam auf einmal dicht an Marilla heran und ließ ihre kleinen Finger in die raue Hand der alten Frau gleiten.

»Es ist wunderbar Green Gables zu sehen und zu wissen, dass es mein Zuhause ist«, sagte sie leise. »Ich liebe Green Gables schon jetzt und ich habe noch nie zuvor einen Ort geliebt. Oh, Marilla, ich bin so glücklich! Ich könnte auf der Stelle beten und würde es kein bisschen schwierig finden.«

Ganz plötzlich spürte Marilla ein warmes, angenehmes Gefühl in sich aufsteigen. Diese Empfindungen waren so neu und überwältigend, dass Marilla nicht wusste, wie ihr geschah. Wie so oft, versuchte sie auch jetzt ihre Gefühle durch eine Ermahnung wieder unter Kontrolle zu bringen.

»Wenn du ein braves Mädchen bist, wirst du immer glücklich sein, Anne. Und du wirst es niemals schwierig finden, dein Gebet zu sprechen.«

Doch Anne war schon wieder in ganz andere Welten entschwunden. »Ich stelle mir vor, ich sei der Wind, der dort drüben in den Baumwipfeln spielt. Wenn ich von den Bäumen genug habe, streiche ich sanft über die Farnwedel und fliege dann hinüber zu Mrs Lyndes Garten und bringe die Blumen zum Tanzen. Dann sause ich in einem großen Sturzflug über das Kleefeld und wehe über den >See der glitzernden Wasser< und lasse ihn sich zu lauter kleinen, glänzenden Wellen kräuseln. Ach, der Wind gibt so viel Raum für Phantasie! Deshalb werde ich jetzt auch schweigen, Marilla.«

»Dem Himmel sei Dank«, sagte Marilla und atmete erleichtert auf.