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26 - Hinter der Biegung in der Straße

Thomas Lynde entschlief so sanft und leise, wie er gelebt hatte. Seine Frau war ihm eine geduldige, unermüdliche Krankenpflegerin bis zum Schluss. Manchmal war sie zu ihrem Thomas in seinen gesunden Zeiten ein wenig hart gewesen, wenn er begriffsstutzig oder zu nachgiebig war. Aber als er krank wurde, war keine Stimme leiser, keine Hand sanfter und geschickter, kein Wachen an seinem Bett klagloser gewesen.

»Du warst mir eine gute Frau, Rachel«, sagte er eines Nachts schlicht, als sie bei ihm saß und ihre abgearbeitete Hand seine magere, fahle alte Hand hielt. »Eine gute Frau. Es tut mir Leid, dass ich dich mit so wenig zurücklassen muss. Die Kinder werden sich um dich kümmern. Sie sind klug und tüchtig, genau wie ihre Mutter. Eine gute Mutter... eine gute Frau.«

Dann war er entschlafen. Als am nächsten Morgen über den Tannenwipfeln in der Senke weiß der Morgen dämmerte, ging Marilla leise in den Ostgiebel und weckte Anne.

»Anne, Thomas Lynde ist gestorben. Der Dienstjunge hat eben Bescheid gegeben. Ich gehe gleich zu Rachel.«

Am Tag nach Thomas Lyndes Beerdigung wanderte Marilla mit einem seltsam gedankenverlorenen Blick auf Green Gables umher. Hin und wieder sah sie Anne an, so als wollte sie etwas sagen, dann schüttelte sie den Kopf und machte den Mund wieder zu. Nach dem Tee besuchte sie Mrs Rachel. Als sie wiederkam, ging sie in den Ostgiebel, wo Anne Schulhefte korrigierte.

»Wie geht es Mrs Lynde heute?«, fragte Anne.

»Sie ist ruhiger und gelassener«, antwortete Marilla und setzte sich auf Annes Bett - was ihre ungewöhnliche innere Unruhe verriet, denn in Marillas Vorstellung von Haushaltsführung war es unverzeihlich, sich auf ein gemachtes Bett zu setzen. »Aber sie ist sehr allein. Eliza musste heute nach Hause zurückkehren. Ihr Sohn ist krank, sie konnte nicht länger bleiben.«

»Wenn ich hiermit fertig bin, laufe ich hinüber und plaudere ein Weilchen mit Mrs. Lynde«, sagte Anne. »Ich wollte eigentlich ein bisschen Latein lernen, aber das kann warten.«

»Gilbert Blythe wird im Herbst wohl aufs College gehen«, sagte Marilla plötzlich. »Würdest du auch gern gehen, Anne?«

Anne schaute verwundert auf.

»Sicher, Marilla. Aber es ist ausgeschlossen.«

»Es lässt sich schon machen. Ich fand schon immer, du solltest gehen. Der Gedanke, dass du meinetwegen darauf verzichtest, belastet mich.«

»Aber, Marilla, ich habe es nicht einen Augenblick bedauert, zu Hause zu bleiben. Ich war so glücklich. Die zwei vergangenen Jahre waren einfach herrlich.«

»0 ja, das weiß ich schon. Aber das ist nicht der Kern der Sache. Du solltest dich weiterbilden. Du hast genügend Ersparnisse, die für das erste Jahr in Redmond reichen. Die Zinsen würden für das zweite Jahr reichen, du könntest Stipendien gewinnen.«

»Ja, aber es geht nicht, Marilla. Deine Augen haben sich zwar gebessert, aber ich kann dich mit den Zwillingen nicht allein sitzen lassen. Man muss ständig ein Auge auf sie haben.«

»Ich würde ja nicht allein mit ihnen sein. Das ist der Punkt, den ich mit dir besprechen will. Ich habe mich heute lange mit Rachel unterhalten, Anne, es geht ihr in vielerlei Hinsicht gar nicht gut. Sie hat nicht viel Geld. Vor acht Jahren haben sie eine Hypothek auf die Farm aufgenommen, um dem jüngsten Sohn im Westen einen Neubeginn zu ermöglichen. Seither haben sie gerade die Zinsen abbezahlen können. Dann hat natürlich Thomas’ Krankheit eine Menge Geld verschlungen. Die Farm muss verkauft werden. Rachel meint, bis alle Rechnungen beglichen sind, wird kaum noch etwas übrig sein. Sie wird die Farm verlassen und zu Eliza ziehen müssen. Der Gedanke, aus Avonlea weg zu müssen, bricht ihr das Herz. Eine Frau in ihrem Alter mache nicht mehr so leicht neue Bekanntschaften. Als sie mir das erzählte, Anne, ging mir durch den Kopf, dass ich sie fragen könnte, hier bei mir zu wohnen. Aber bevor ich es ihr anbiete, wollte ich es mit dir bereden. Wenn Rachel hier wohnen würde, könntest du aufs College gehen. Wie findest du das?«

»Das kommt mir vor, als hätte mir jemand ... den Mond vom Himmel geholt. . . und ich weiß nicht... was ich damit anfangen soll«, sagte Anne wie benommen. »Aber was Mrs Lynde angeht, das musst du entscheiden, Manila. Meinst du ... bist du sicher... du willst es? Mrs Lynde ist eine herzensgute Frau und nette Nachbarin, aber . .. aber. ..«

»Aber sie hat ihre Fehler, wolltest du sagen?Ja, gewiss. Doch ich würde noch viel eher schlimmere Fehler hinnehmen können, als Rachel aus Avonlea Weggehen zu sehen. Ich würde sie schrecklich vermissen. Sie ist meine einzige enge Freundin hier am Ort. Ohne sie wäre ich verloren. Seit funfundvierzig Jahren sind wir Nachbarinnen und hatten nie Streit - obwohl es kurz davor war, als du damals auf Mrs Rachel losgingst, weil sie dich ein hässliches, rothaariges Mädchen nannte. Erinnerst du dich, Anne?«

»0 ja«, sagte Anne reuevoll. »So was vergisst man nicht. Wie ich die arme Mrs Rachel in dem Augenblick gehasst habe!«

»Und dann deine >Entschuldigung<. Naja, du warst wirklich eine Nervensäge, Anne. Ich wusste einfach nicht, wie ich dich anpacken sollte. Matthew verstand das besser.«

»Matthew verstand alles«, sagte Anne sanft, wie sie stets von ihm sprach.

»Nun, jedenfalls konnte die Sache bereinigt werden, sodass Rachel und ich nicht aneinander rasselten. Wenn zwei Frauen unter einem Dach nicht miteinander auskommen, liegt das ohnehin meist daran, dass sie gemeinsam in der Küche herumfuhrwerken und einander in die Quere kommen. Würde Rachel also herkommen, könnte sie im Nordgiebel ihr Schlafzimmer einrichten und das Gästezimmer als Küche. Das Gästezimmer brauchen wir sowieso nicht. Sie könnte ihren Herd dort aufstellen und die Möbel, die sie behalten will. Sie könnte es sich richtig gemütlich machen und wäre unabhängig. Natürlich würde sie genug zum Leben haben - dafür würden ihre Kinder sorgen. Ich würde ihr nur ein Dach über dem Kopf zur Verfügung stellen. Ja, Anne, was mich angeht, mir würde es gefallen.«

»Dann frage sie«, sagte Anne sofort. »Mir würde es auch Leid tun, wenn Mrs Rachel fortginge.«

»Wenn sie einverstanden ist«, fuhr Marilla fort, »kannst du gut aufs College gehen. Sie leistet mir Gesellschaft und erledigt für die Zwillinge, was ich nicht tun kann. Also gibt es keinen plausiblen Grund, weshalb du nicht gehen könntest.«

An dem Abend stand Anne lange am Fenster und dachte nach. Freude und Bedauern kämpfte in ihr. Sie war schließlich doch, plötzlich und unerwartet, zur Biegung ihrer Straße gelangt. Das College lag hinter der Biegung, mit hundert regenbogenfarbigen Hoffnungen und Träumen. Aber Anne war sich auch darüber im Klaren, dass sie viel Schönes hinter sich ließ, wenn sie um die Biegung ging - all die einfachen Pflichten und die Freundschaften, die ihr in den vergangenen zwei Jahren so ans Herz gewachsen waren und die sie durch ihre Begeisterung zu etwas Schönem und Freudigem gemacht hatte. Sie würde die Schule aufgeben müssen - und sie hatte alle ihre Schüler gern, auch die dummen und ungezogenen. Sie brauchte nur an Paul Irving zu denken und sie fragte sich, ob Redmond sie überhaupt reizen konnte.

»Ich habe in den letzten Jahren viele kleine Wurzeln geschlagen«, erzählte Anne dem Mond. »Wenn ich nun entwurzelt werde, tut das sehr weh. Aber es muss sein, denke ich. Und, wie Marilla sagt, es gibt keinen plausiblen Grund, nicht zu gehen.«

Am nächsten Tag schickte Anne die Kündigung ab. Mrs Rachel nahm nach einem offenen und ehrlichen Gespräch mit Marilla dankbar das Angebot an auf Green Gables zu wohnen. Den Sommer über jedoch wollte sie in ihrem Haus bleiben. Die Farm würde erst im Herbst verkauft werden, dafür gab es noch etliche Absprachen zu treffen.

»Ich wollte nie so weit ab von der Straße wohnen«, sagte sie seufzend zu sich. »Aber so aus der Welt, wie es mir immer vorkam, ist Green Gables auch wieder nicht. Anne hat viele Freunde und die Zwillinge bringen Leben ins Haus. Überhaupt würde ich lieber am Brunnengrund leben, als aus Avonlea Weggehen.«

Diese zwei Beschlüsse verbreiteten sich in Windeseile und verdrängten Mrs Harrison als Thema Nummer eins von der Tagesordnung. Viele schüttelten den Kopf über Manilas überstürzte Entscheidung, Mrs Rachel bei sich aufzunehmen. Die Leute meinten, die beiden würden nicht miteinander auskommen. Sie hätten beide »ihren eigenen Kopf«. Es wurden jede Menge düstere Vorhersagen gemacht, wovon sich die beiden jedoch nicht beirren ließen. Sie hatten sich klar und entschieden hinsichtlich ihrer zukünftigen Pflichten und Rechte geeinigt und wollten sich auch daran halten.

»Ich mische mich nicht in deine Angelegenheit ein und du dich nicht in meine«, hatte Mrs Rachel bestimmt gesagt. »Was die Zwillinge angeht, tue ich gern alles, was in meinen Kräften steht. Aber auf Davys Fragerei lasse ich mich nicht ein. Ich bin kein Lexikon und auch keine Rechtsgelehrte, die sich in allen Tricks und Kniffs auskennt. In dem Punkt wird Anne dir fehlen.«

»Manchmal sind Annes Antworten fast so merkwürdig wie Davys Fragen«, sagte Marilla trocken. »Die Zwillinge werden sie vermissen, ohne Zweifel. Aber sie kann nicht ihre Zukunft Davys Wissensdurst opfern. Ich kann seine Fragen nicht beantworten und sage ihm nur, Kinder müssen aus sich selbst heraus lernen. So wurde ich großgezogen und der Weg war auch nicht schlechter als diese neumodischen Methoden der Kindererziehung.«

»Hm, Annes Methoden scheinen bei Davy ganz gut funktioniert zu haben«, sagte Mrs Lynde lächelnd. »Er ist wie umgewandelt.«

»Er ist nicht durch und durch schlecht«, räumte Marilla ein. »Ich hätte nie gedacht, dass ich diese Kinder je so gern haben würde. Davy kann einen ganz schön auf Trab halten. Dora dagegen ist ein artiges Kind, aber sie ist... na ja, ein bisschen ...«

»Langweilig? Genau«, ergänzte Mrs Rachel. »Wie ein Buch, in dem eine Seite der ändern gleicht.«

»Aus Dora wird eine gute, verlässliche Frau, aber sie wird niemals das Meer entflammen. Die Sorte Mensch kann man gut um sich haben, auch wenn sie nicht so interessant ist wie die andere Sorte.«

Gilbert Blythe war vielleicht der Einzige, der Annes Kündigung mit ungetrübter Freude aufnahm. Für ihre Schüler war es die reinste Katastrophe. Annetta Bell brach auf dem Nachhauseweg in Tränen aus. Anthony Pye focht ohne ersichtlichen Grund regelrechte Schlachten gegen zwei andere Jungen, um sich so Erleichterung zu verschaffen. Barbara weinte die ganze Nacht lang. Paul Irving sagte trotzig zu seiner Großmutter, sie brauche gar nicht damit zu rechnen, dass er die nächsten Wochen seinen Porridge anrühren würde.

»Ich kann nicht, Großmutter«, sagte er. »Ich bringe nicht einen Bissen hinunter. Es ist, als hätte ich einen riesigen Kloß im Hals. Auf dem Nachhauseweg von der Schule hätte ich am liebsten geheult, wenn Jake Donnell mich nicht beobachtet hätte. Ich glaube, ich werde heute Abend im Bett weinen. Das sieht man morgen meinen Augen doch nicht an, nicht wahr? Es wäre eine große Erleichterung. Porridge jedenfalls kann ich nicht essen. Ich brauche meine ganze Kraft, um das durchzustehen, Großmutter. Da habe ich keine Kraft mehr übrig, um mich noch mit dem Porridge auseinander zu setzen. Oh, Großmutter, ich weiß nicht, was ich tun soll, jetzt, wo meine liebe Lehrerin weggeht. Milty Boulter sagt, er gehe jede Wette ein, dass Jane Andrews die Stelle bekommt. Miss Andrews mag ja ganz nett sein. Aber von Sachen, wie Miss Shirley sie versteht, hat sie keine Ahnung.«

Auch Diana sah die Sache sehr düster.

»Nächsten Winter wird es hier schrecklich einsam sein«, sagte sie traurig eines Abends in der Dämmerung, als die Mädchen im Ostgiebel hockten und sich unterhielten. Das Mondlicht fiel zart und silbern durch die Kirschzweige und erfüllte den Ostgiebel mit einem weichen, traumgleichen Glanz. Anne saß in dem niedrigen Schaukelstuhl am Fenster, Diana mit untergeschlagenen Beinen auf dem Bett. »Du und Gilbert seid nicht mehr da und die Allans auch nicht. Man hat Mr Allan die Stelle in Charlottetown angeboten. Er will sie annehmen. Es ist einfach schrecklich. Die Stelle hier wird wohl den ganzen Winter über unbesetzt bleiben und wir müssen endlos vielen Bewerbern lauschen, wovon die Hälfte sowieso nichts taugt.«

»Hoffentlich berufen sie nicht Mr Baxter aus East Grafton«, sagte Anne bestimmt. »Er möchte gern die Stelle haben, aber er hält immer so düstere Predigten. Mr Bell sagt, er sei ein Geistlicher der alten Schule. Aber Mrs Lynde meint, er leide einzig und allein an Verdauungsstörungen. Seine Frau ist scheinbar keine gute Frau. Mrs Lynde sagt, wenn ein Mann von drei Wochen zwei Wochen lang nichts als Sauerbrot zu essen bekommt, könnte er ja gar nicht richtig ticken. Mrs Allan zieht ungern von hier weg. Alle wären vom ersten Tag an, als sie als junge Braut hierher kam, so nett zu ihr gewesen. Ihr wäre zumute, als würde sie uralte Freunde zurücklassen. Außerdem, weißt du, ist da das Grab ihres Babys. Sie mag ihr Kind gar nicht zurücklassen. Es war ein so niedliches kleines Wurm, erst drei Monate alt. Bestimmt würde es seine Mutter vermissen. Obwohl sie es natürlich besser weiß und das auch nie Mr Allan gegenüber sagen würde. Sie hat erzählt, dass er fast jeden Abend durch den Birkenwald hinter dem Pfarrhaus zum Friedhof gegangen ist und dem Baby ein Schlaflied gesungen hat. Das hat sie mir an dem Abend erzählt, als ich ein paar von den ersten wilden Rosen auf Matthews Grab gelegt habe. Ich habe ihr versprochen, solange ich in Avonlea bin, würde ich Blumen auf das Grab ihres Kindes legen, und wenn ich fort bin, würde bestimmt. .. «

» . . . ich es übernehmen«, vollendete Diana den Satz. »Ja, natürlich. Und dir zuliebe lege ich auch Blumen auf Matthews Grab, Anne.«

»Oh, danke. Ich wollte dich schon darum bitten. Auf Hester Grays Grab auch? Bitte vergiss ihres nicht. Verstehst du, ich habe so oft an sie gedacht und von ihr geträumt, dass sie mir, so eigenartig es sein mag, wirklich vorkommt. Ich stelle sie mir in dem kühlen, stillen, grünen Gärtchen vor. Ich bilde mir ein, wie ich eines Abends im Frühling zur verzauberten Stunde zwischen Tag und Nacht dort hinhusche und auf Zehenspitzen so leise den Buchenhügel hinaufgehe, dass meine Schritte ihr keine Angst einflößen. Dann würde ich den Garten vorfinden, wie er früher war - voller Narzissen, wilder Rosen und das winzige Haus dahinter voller Weinranken. Hester Gray mit ihren freundlichen Augen würde da sein, der Wind würde durch ihr dunkles Haus streichen. Sie würde umhergehen, mit den Fingerspitzen die Narzissenkelche berühren und den Rosen Geheimnisse zuflüstern. Ich würde ganz leise auf sie zugehen, die Hände ausstrecken und sagen: >Liebe Hester Gray, darf ich deine Spielkameradin sein, weil ich die Rosen auch mag?< Sie würde sich auf die alte Bank setzen. Wir würden ein wenig plaudern, uns etwas ausmalen oder einfach nur still dasitzen. Dann würde der Mond aufgehen. Ich würde mich umschauen - aber da gäbe es keine Hester Gray, nicht das von Weinreben berankte Haus und keine Rosen, sondern nur einen alten Garten voller Narzissen im Gras. Der Wind würde sachte durch die Kirschbäume streichen. Und ich würde nicht wissen, ob es wirklich gewesen war oder ob ich das alles nur geträumt hatte.«

Diana kletterte höher und lehnte sich mit dem Rücken gegen das Kopfende des Bettes. Wenn einem die Gefährtin der Zauberstunde der Dämmerung solche gespenstischen Dinge erzählte, war man sich selbst nicht mehr sicher, ob hinter einem nicht doch etwas war.

»Ich fürchte, der D.V.V. wird einschlafen, wenn Gilbert und du fort seid«, bemerkte sie traurig.

»Ach was, keine Angst«, sagte Anne flink und kehrte aus dem Traumland zurück zu den praktischen Dingen des Lebens. »Dafür steht er schon auf viel zu festen Füßen, vor allem, seit die älteren Leute sich so dafür begeistern. Denk nur mal, was sie den Sommer alles wegen der Anlagen und Wege in Angriff nehmen wollen. Außerdem werde ich in Redmond nach Anregungen Ausschau halten, es nächsten Winter aufschreiben und herschicken. Sieh nicht alles so düster, Diana. Verdirb mir jetzt nicht den Spaß und die Freude. Später, wenn ich fort muss, werde ich mich sowieso nicht sehr glücklich fühlen.«

»Du hast allen Grund dich zu freuen. Du gehst aufs College, verlebst eine schöne Zeit und lernst einen Haufen netter neuer Leute kennen.«

»Hoffentlich«, sagte Anne nachdenklich. »Die Möglichkeit dazu zu haben, das macht das Leben faszinierend. Aber wie viele ich auch kennen lerne, sie werden mir nie so lieb sein wie meine alten Freunde. Vor allem nicht wie ein gewisses Mädchen mit schwarzen Augen und Grübchen. Kannst du dir denken, wer, Diana?«

»Aber in Redmond gibt es so viele gescheite Mädchen«, seufzte Diana. »Ich bin nur ein dummes Mädchen vom Lande, das manchmal >verstehste< sagt, auch wenn ich es besser weiß. Sicher, die letzten zwei Jahre waren einfach zu schön, sodass sie noch länger andauern könnten. Jedenfalls kenne ich jemanden, den es freut, dass du nach Redmond gehst. Anne, ich muss dir eine Frage stellen, eine ernste Frage. Ärger dich nicht darüber, sondern antworte ernsthaft. Machst du dir etwas aus Gilbert?«

»So viel wie aus jedem anderen Freund auch. Aber nicht, was du meinst«, sagte Anne ruhig und bestimmt - und das war aufrichtig gemeint.

Diana seufzte. Irgendwie wünschte sie, Annes Antwort wäre anders ausgefallen.

»Vielleicht. . . eines Tages .. . wenn ich den Richtigen treffe«, sagte Anne und lächelte verträumt in den Mondschein.

»Aber woher weiß man, dass es der Richtige ist?«, beharrte Diana. »Oh, ich würde es wissen ... ich würde es irgendwie spüren. Du kennst meine Traumvorstellung, Diana.«

»Die kann sich ändern.«

»Meine nicht. Ich könnte mir aus keinem Mann etwas machen, der sie nicht erfüllt.«

»Was, wenn du den Richtigen nicht triffst?«

»Dann sterbe ich als alte Jungfer«, lautete die fröhliche Antwort. »Das ist durchaus nicht der schlimmste Tod.«

»Ach, das Sterben dürfte nicht das Schlimmste sein, aber mir würde ein Leben als alte Jungfer nicht gefallen«, sagte Diana, ohne spaßig sein zu wollen.

»Obwohl es mir so viel auch wieder nicht ausmachen würde, vorausgesetzt, ich wäre wie Miss Lavendar. Aber wie sie würde ich nie sein. Ich werde mit fünfundvierzig kugelrund sein. Eine schlanke alte Jungfer mag ja noch etwas Romantisches haben - eine dicke nicht. Oh, stelle dir vor, Nelson Atkins hat vor drei Wochen Ruby Gillis einen Heiratsantrag gemacht. Ruby hat es mir erzählt. Sie sagte, sie hätte nicht im Traum daran gedacht, ihn zu heiraten, weil seine zukünftige Frau mit zu seinen Eltern ziehen müsse. Aber er hätte ihr einen so wundervollen, romantischen Antrag gemacht, dass sie ganz hin und her gerissen war. Sie wollte nichts überstürzen, also bat sie ihn um eine Woche Bedenkzeit. Zwei Tage später war sie bei einem Treffen des Nähzirkels bei seiner Mutter zu Hause. Da lag ein Buch mit dem Titel >Wie benehme ich mich richtig< auf dem Wohnzimmertisch. Ruby sagte, sie könne nicht beschreiben, wie ihr zumute war, als sie ein Kapitel mit der Überschrift >Alles über Heiratsanträge und Heiraten< las und Wort für Wort Nelsons Heiratsantrag wieder erkannte. Sie ging nach Hause und schrieb ihm eine vernichtende Absage. Seither würden ihn seine Eltern abwechselnd im Auge behalten aus Angst, er könnte sich im Fluss ertränken. Aber Ruby meint, da brauchten sie keine Angst zu haben. Denn in >Alles über Heiratsanträge und Heiraten< stünde, wie sich ein verschmähter Liebhaber verhält. Von Ertrinken jedenfalls sei darin keine Rede. Und sie sagt, Wilbur Blair verginge buchstäblich nach ihr, aber dem könne sie wirklich nicht helfen.«

Anne machte eine ungeduldige Bewegung.

»Ich sage das nicht gern. Es klingt so untreu. Aber, hm, ich kann Ruby Gillis nicht mehr leiden. Als wir noch zusammen zur Schule und aufs Queen’s College gingen, da mochte ich sie gern - natürlich nicht so wie dich und Jane. Aber seit dem letzten Jahr in Carmody ist sie ganz verändert. . . so . . .«

»Ich weiß«, nickte Diana. »Die Gillis in ihr kommt durch. Sie kann nichts dafür. Sie redet nur über Jungen, was für Komplimente sie ihr machen und dass in Carmody alle verrückt nach ihr seien. So seltsam es auch ist, sie sind wirklich verrückt nach ihr. ..«, gab Diana ärgerlich zu. »Als ich sie gestern in Mr Blairs Laden traf, flüsterte sie mir zu, sie hätte gerade eine neue >Flamme<. Ich wollte sie nicht fragen, um wen es sich drehte, weil sie förmlich danach schmachtete, gefragt zu werden. Naja, es ist wohl das einzige, was Ruby im Kopf hat. Du erinnerst dich, dass sie schon als kleines Mädchen immer sagte, wenn sie groß wäre, wolle sie Dutzende Verehrer haben und sich die schönste Zeit ihres Lebens machen, ehe sie sich häuslich niederlasse. Sie ist ganz anders als Jane, nicht wahr? Jane ist so ein nettes, vernünftiges Mädchen.«

»Die gute Jane ist ein Schatz«, stimmte Anne zu. Dann fuhr sie fort, wobei sie sich vorbeugte und sanft die kräftige Hand mit den Grübchen auf ihrem Kissen streichelte: »Aber keine ist wie meine Diana. Erinnerst du dich noch an den Tag, an dem wir uns das erste Mal trafen, Diana, und uns in eurem Garten ewige Freundschaft >schworen<? Wir haben unseren Schwur gehalten. Wir haben uns nie gestritten, es gab nicht einmal so etwas wie Kühle zwischen uns. Ich werde nie vergessen, wie mich ein Schauer überlief, als du mir sagtest, du magst mich. Ich hatte mich meine ganze Kindheit hindurch so einsam und allein gefühlt. Mir wird erst jetzt klar, wie einsam und allein ich war. Niemand interessierte sich für mich oder wollte sich mit mir abgeben. Mir wäre so elend zumute gewesen, hätte ich nicht mein kleines Traumleben gehabt, in dem ich mir all die Freundschaften und die Zuneigung ausmalte, nach denen ich mich so sehnte. Als ich nach Green Gables kam, wurde alles anders. Und dann lernte ich dich kennen. Du ahnst gar nicht, was deine Freundschaft mir bedeutete. Ich möchte dir heute dafür danken, meine Liebe, für die warme, aufrichtige Zuneigung, die du mir gegeben hast.«

»Und dir immer geben werde«, schluchzte Diana. »Ich werde nie jemanden, kein Mädchen, halb so gern haben wie dich. Sollte ich je einmal heiraten und ein kleines Mädchen haben, dann werde ich es Anne nennen.«