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»Was war los mit mir, Ravic?« fragte Kate Hegström.
Sie lag in ihrem Bett, etwas hochgeschoben, mit zwei Kissen unter dem Kopf. Das Zimmer roch nach Eau de Sante und Parfüm. Das obere Fenster war einen Spalt geöffnet. Die klare, etwas frostige Luft von draußen kam herein und mischte sich mit der Zimmerwärme, als wäre es nicht Januar, sondern schon April.
»Sie haben Fieber gehabt, Kate. Ein paar Tage. Dann haben Sie geschlafen. Fast vierundzwanzig Stunden. Jetzt ist das Fieber vorbei, und alles ist in Ordnung. Wie fühlen Sie sich?«
»Müde. Immer noch. Aber anders als vorher. Nicht so verkrampft. Ich habe kaum Schmerzen.«
»Sie werden noch welche haben. Nicht sehr viel, und wir werden schon dafür sorgen, daß Sie es aushalten können. Aber ganz so wie jetzt wird es nicht bleiben. Das wissen Sie ja selbst...«
Sie nickte. »Ihr habt mich aufgeschnitten, Ravic...«
»Ja, Kate.«
»War es nötig?«
»Ja.«
Ravic wartete. Es war besser, sie fragen zu lassen. »Wie lange werde ich liegen müssen?«
»Ein paar Wochen.«
Sie schwieg eine Weile. »Ich glaube, es wird gut für mich sein. Ich kann Ruhe gebrauchen. Ich hatte genug. Ich merke es jetzt. Ich war müde. Ich wollte es nicht wahrhaben. Hatte es etwas mit dieser Sache zu tun?«
»Sicher, ganz sicher.«
»Auch das, daß ich ab und zu geblutet habe? Zwischen den Monaten?«
»Das auch, Kate.«
»Dann ist es gut, daß ich jetzt Zeit habe. Vielleicht war es nötig. Jetzt aufstehen müssen und all dem wieder gegenüberstehen — ich glaube, ich könnte das nicht.«
»Sie brauchen es nicht. Vergessen Sie es. Denken Sie nur an das Allernächste. Ihr Frühstück zum Beispiel.«
»Gut.« Sie lächelte schwach. »Dann geben Sie mir einmal den Spiegel herüber.«
Er gab ihr den Handspiegel vom Nachttisch. Sie sah sich aufmerksam darin an. »Sind die Blumen drüben von Ihnen, Ravic?«
»Nein. Von der Klinik.«
Sie legte den Spiegel auf das Bett. »Kliniken schicken im Januar keinen Flieder. Kliniken schicken Astern oder so etwas. Kliniken wissen auch nicht, daß Flieder meine Lieblingsblumen sind.«
»Hier schon. Hier sind Sie ja ein Veteran, Kate.« Ravic stand auf. »Ich muß jetzt gehen. Ich komme so gegen sechs noch einmal vorbei, um nach Ihnen zu sehen.«
»Ravic...«
»Ja...«
Er wandte sich um. Jetzt kommt es, dachte er. Jetzt wird sie fragen.
Sie streckte die Hand aus. »Danke«, sagte sie. »Danke für die Blumen. Und danke, daß Sie auf mich aufgepaßt haben. Ich fühle mich immer so sicher bei Ihnen.«
»Gut, Kate, gut. Da war weiter nichts aufzupassen. Und nun schlafen Sie noch, wenn Sie können. Wenn Sie Schmerzen haben, klingeln Sie der Schwester. Ich werde dafür sorgen, daß sie ein Mittel da hat. Nachmittags komme ich noch einmal.«
»Veber, wo ist der Schnaps?«
»War es so schlimm? Hier ist die Flasche. Eugenie, geben Sie einmal ein Glas heraus.«
Eugenie holte widerwillig ein Glas. »Das ist ein Fingerhut«, protestierte Veber. »Holen Sie ein vernünftiges Glas. Oder warten Sie, Sie könnten sich die Hand dabei brechen. Ich mache es selbst.«
»Ich weiß nicht, Herr Doktor Veber«, erklärte Eugenie spitz. »Immer, wenn Herr Ravic hereinkommt, werden Sie...«
»Gut, gut«, unterbrach Veber sie. Er schenkte ein Glas Kognak ein. »Hier, Ravic. Was glaubt sie?«
»Sie fragt gar nicht. Sie glaubt, ohne zu fragen.«
Veber blickte auf. »Sehen Sie«, erwiderte er triumphierend. »Ich habe es ja gleich gesagt.«
Ravic trank sein Glas aus. »Hat sich schon einmal ein Patient bei Ihnen dafür bedankt, daß Sie nichts für ihn tun konnten?« »Oft .«
»Und Ihnen alles geglaubt?«
»Selbstverständlich.«
»Und wie haben Sie sich gefühlt?«
»Erleichtert«, sagte Veber erstaunt. »Sehr erleichtert.«
»Ich fühle mich zum Kotzen. Wie ein Schwindler.«
Veber lachte. Er stellte die Flasche wieder weg. »Zum Kotzen«, wiederholte Ravic.
»Das ist das erstemal, daß ich eine menschliche Regung bei Ihnen entdecke«, sagte Eugenie. »Abgesehen natürlich von der Art, wie Sie sich ausdrücken.«
»Sie sind keine Entdeckerin, Sie sind eine Pflegerin, Eugenie, das vergessen Sie oft«, erklärte Veber. »Die Sache ist also in Ordnung, Ravic?«
»Ja, vorläufig.«
»Gut. Sie hat heute morgen zu der Schwester gesagt, wenn sie das Hospital verließe, wolle sie nach Italien fahren. Dann sind wir aus allem ’raus.« Veber rieb sich die Hände. »Dann können die Ärzte drüben sich damit beschäftigen. Ich habe nicht gern, wenn jemand hier stirbt. Schadet immer dem Ruf.«
Ravic klingelte an der Tür der Hebamme, die bei Lucienne den Eingriff gemacht hatte. Ein schwärzlich aussehender Mann öffnete nach langer Zeit. Er behielt die Tür in der Hand, als er Ravic sah. »Was wollen Sie?« knurrte er.
»Ich will mit Madame Boucher sprechen.«
»Sie hat keine Zeit.«
»Das macht nichts. Ich werde solange warten.«
Der Mann wollte die Tür schließen. »Wenn ich nicht warten kann, werde ich in einer Viertelstunde wiederkommen«, sagte Ravic. »Aber nicht allein. Mit jemand, für den sie auf jeden Fall zu sprechen sein wird.«
Der Mann starrte ihn an. »Was soll das? Was wollen Sie?«
»Ich sagte es Ihnen schon. Ich will mit Madame Boucher sprechen.«
Der Mann überlegte. »Warten Sie«, sagte er dann und schloß die Tür.
Ravic betrachtete die abgestoßene, braungestrichene Tür mit dem blechernen Briefkasten und dem runden Emailleschild mit dem Namen. Eine Menge Elend und Angst war durch diese Tür gegangen. Ein paar sinnlose Gesetze, die viele Leben zwangen, anstatt zu Ärzten zu Pfuschern zu gehen, waren die Ursache. Kein Kind wurde dadurch mehr geboren. Wer es nicht wollte, fand einen Weg, Gesetz oder nicht. Der einzige Unterschied war nur, daß jährlich Tausende von Müttern ruiniert wurden.
Die Tür öffnete sich wieder. »Sind Sie von der Polizei?« fragte der unrasierte Mann.
»Wenn ich von der Polizei wäre, würde ich nicht mehr hier warten.«
»Kommen Sie ’rein.«
Der Mann bugsierte Ravic durch einen dunklen Korridor in einen Raum, der mit Möbeln vollgestopft war. Ein Plüschsofa und eine Anzahl vergoldeter Stühle, ein falscher Aubussonteppich, Nußbaumvertiko und an den Wänden Drucke aus der Schäferzeit. Vor dem Fenster stand ein metallener Ständer mit einem Vogelkäfig und einem Kanarienvogel darin. Wo nur irgendwo Platz war, sah man Porzellan und Nippesfiguren.
Madame Boucher erschien. Sie war enorm dick und trug eine Art von herumflutendem Kimono, der nicht ganz sauber wirkte. Sie war ein Monstrum; aber das Gesicht war glatt und hübsch, bis auf die Augen, die unruhig umherwanderten. »Monsieur?« fragte sie geschäftlich und blieb stehen.
Ravic stand auf. »Ich komme für Lucienne Martinet. Sie haben bei ihr einen Eingriff gemacht.«
»Unsinn!« erwiderte die Frau sofort und völlig ruhig. »Ich kenne keine Lucienne Martinet, und ich mache keine Eingriffe. Sie müssen sich geirrt haben, oder man hat Sie belogen.«
Sie tat, als sei die Sache damit erledigt und als wolle sie gehen.
Aber sie ging nicht. Ravic wartete. Sie drehte sich um. »Sonst noch etwas?«
»Der Eingriff ist mißlungen. Das Mädchen hatte eine schwere Blutung und ist fast gestorben. Sie mußte operiert werden. Ich habe sie operiert.«
»Lüge!« zischte die Boucher plötzlich. »Lüge! Die Ratten! Murksen an sich selbst herum und wollen dann andere hereinreißen. Aber ich werde ihr das schon beibringen. Diese Ratten! Mein Anwalt wird das schon erledigen. Ich bin bekannt und ein Steuerzahler, und ich will doch mal sehen, ob so ein freches, kleines Biest, das herumhurt...«
Ravic betrachtete sie fasziniert. Ihr Gesicht hatte sich bei dem Ausbruch nicht verändert. Es war glatt und hübsch geblieben, nur der Mund war zusammengezogen und spuckte wie ein Maschinengewehr.
»Das Mädchen will wenig«, unterbrach er die Frau. »Es will nur das Geld zurückhaben, das es Ihnen gezahlt hat.«
Die Boucher lachte. »Geld? Zurückzahlen? Wann habe ich denn etwas von ihr bekommen? Hat sie eine Quittung?«
»Natürlich nicht. Sie werden doch keine Quittungen ausstellen.«
»Weil ich sie nie gesehen habe! Und das soll ihr jemand glauben?«
»Ja. Sie hat Zeugen. Sie ist operiert worden in der Klinik Doktor Vebers. Der Befund war klar. Es gibt ein Protokoll darüber.«
»Sie können tausend Protokolle haben! Wo steht, daß ich sie angerührt habe! Klinik! Doktor Veber! Zum Totlachen! So eine Ratte muß in eine feine Klinik! Haben Sie sonst nichts zu tun?«
»Doch. Genug. Hören Sie. Das Mädchen hat Ihnen dreihundert Frank gezahlt. Es kann Sie verklagen auf Schadenersatz...«
Die Tür öffnete sich. Der schwärzliche Mann trat ein. »Irgend etwas los, Adele?«
»Nein. Schadenersatz klagen? Wenn sie klagt, wird sie selbst verurteilt. Zuerst sie einmal, das ist sicher, denn sie gibt zu, daß ein Eingriff gemacht worden ist. Daß ich es war, muß sie dann noch beweisen. Das kann sie nicht.«
Der schwärzliche Mann meckerte. »Ruhig, Roger«, sagte Madame Boucher. »Du kannst gehen.«
»Brunier ist draußen.«
»Gut. Sag ihm, er soll warten. Du weißt ja...«
Der Mann nickte und verschwand. Mit ihm verschwand ein intensiver Kognakgeruch. Ravic schnupperte. »Das ist alter Kognak«, sagte er. »Mindestens dreißig, vierzig Jahre alt. Glücklicher Mensch, der so etwas schon am Nachmittag trinkt.«
Die Boucher starrte ihn einen Augenblick konsterniert an. Dann verzog sie langsam die Lippen. »Stimmt.Wollen Sie einen?«
»Warum nicht?«
Sie war trotz ihrer Dicke überraschend schnell und lautlos an der Tür. »Roger!«
Der schwärzliche Mann erschien. »Du bist wieder an dem guten Kognak gewesen! Lüg nicht, ich rieche es! Bring die Flasche! Rede nicht, bring die Flasche!«
Roger brachte eine Flasche. »Ich habe Brunier einen gegeben. Er zwang mich, einen mitzutrinken.«
Die Boucher antwortete nicht. Sie schloß die Tür und holte aus dem Nußbaumvertiko ein geschweiftes Glas. Ravic betrachtete es mit Abscheu. Es hatte einen Frauenkopf eingraviert. Die Boucher schenkte ein und stellte das Glas vor ihn auf die Tischdecke, die mit Pfauen verziert war. »Sie scheinen ein vernünftiger Mensch zu sein, mein Herr«, sagte sie.
Ravic konnte ihr eine gewisse Achtung nicht versagen. Sie war nicht aus Eisen, wie Lucienne ihm erzählt hatte; sie war schlimmer — aus Gummi. Eisen konnte man brechen, Gummi nicht.
Der Einwand gegen die Schadenersatzforderung war richtig. »Ihre Operation ist mißglückt«, sagte er. »Sie hatte schlimme Folgen. Das sollte Grund genug für Sie sein, das Geld zurückzugeben.«
»Zahlen Sie Geld zurück, wenn ein Patient nach der Operation stirbt?«
»Nein. Aber wir nehmen manchmal kein Geld für eine Operation. Zum Beispiel von Lucienne.«
Die Boucher sah ihn an. »Na also — wozu macht sie dann noch Geschichten? Kann doch froh sein!«
Ravic hob das Glas. »Madame«, sagte er. »Meine Hochachtung. Sie sind nicht kleinzukriegen.«
Die Frau stellte langsam die Flasche auf den Tisch. »Mein Herr, das haben schon viele versucht. Aber Sie scheinen vernünftiger zu sein. Meinen Sie, das Geschäft ist ein Spaß oder alles Verdienst? Von den dreihundert Frank gehen fast hundert weg an die Polizei. Glauben Sie, ich könnte sonst arbeiten? Da draußen sitzt schon wieder einer, um Geld zu holen. Schmieren muß man, immer schmieren. Sonst geht es nicht. Ich sage Ihnen das hier allein, zwischen uns, und sollten Sie etwas damit anfangen wollen, würde ich es abstreiten, und die Polizei würde die Sache versacken lassen. Sie können das glauben.«
»Ich glaube es.«
Die Boucher warf ihm einen schnellen Blick zu. Als sie sah, daß er es nicht ironisch meinte, rückte sie einen Stuhl heran und setzte sich. Sie rückte den Stuhl heran wie eine Feder; unter ihrem Fett schien sie enorme Kraft zu haben. Sie goß sein Glas mit dem Bestechungskognak noch einmal voll. »Dreihundert Frank sieht nach viel Geld aus — aber es geht noch mehr davon ab als nur die Polizei. Die Miete — hier natürlich viel höher als anderswo, Wäsche, Apparate — für mich doppelt so teuer wie für Ärzte, Provisionen, Bestechungen — gut stehen muß man mit allen, Getränke, Geschenke zu Neujahr und zu den Geburtstagen für die Beamten und ihre Frauen — allerhand, mein Herr! Manchmal bleibt kaum etwas.«
»Dagegen ist nichts zu sagen.«
»Wogegen denn?«
»Daß so etwas passiert, wie mit Lucienne.«
»Passiert das bei Ärzten nie?« fragte die Boucher rasch.
»Längst nicht so oft .«
»Mein Herr!« Sie richtete sich auf. »Ich bin ehrlich. Ich sage jeder, die kommt, daß etwas passieren kann dabei. Und keine geht zurück. Sie flehen mich an, es zu machen. Sie jammern und sind verzweifelt. Sie wollen Selbstmord begehen, wenn ich ihnen nicht helfe. Was für Szenen sich hier schon abgespielt haben. Auf dem Teppich haben sie sich gewälzt und mich angefleht! Sehen Sie dort das Vertiko, die Ecke, wo die Politur abgeschlagen ist? Eine wohlhabende Dame hat das in ihrer Verzweiflung getan. Ich habe ihr geholfen. Wollen Sie etwas anderes sehen? In der Küche stehen zehn Pfund Pflaumenmarmelade, die sie gestern geschickt hat. Aus reiner Dankbarkeit, obschon sie bezahlt hat. Ich will Ihnen etwas sagen, mein Herr...« die Stimme der Boucher hob sich und wurde voller —, »Sie mögen mich eine Abtreiberin nennen — andere nennen mich ihren Wohltäter und Engel.«
Sie war aufgestanden. Ihr Kimono umfaltete sie majestätisch. Der Kanarienvogel im Käfig fing wie auf Kommando an zu singen. Ravic erhob sich. Er hatte Sinn für Melodramatik. Aber er wußte auch, daß die Boucher nicht übertrieb. »Schön«, sagte er. »Ich gehe jetzt. Für Lucienne waren Sie gerade kein Wohltäter.«
»Sie hätten sie sehen sollen, vorher! Was will sie denn mehr? Sie ist gesund — das Kind ist weg — das ist doch alles, was sie wollte. Und die Klinik braucht sie nicht zu bezahlen.«
»Sie kann nie wieder ein Kind bekommen.«
Die Boucher stutzte eine Sekunde. »Um so besser«, erklärte sie dann ungerührt. »Da wird sie selig sein, die kleine Hure.«
Ravic sah, daß nichts zu machen war. »Au revoir, Madame Boucher«, sagte er. »Es war interessant bei Ihnen.«
Sie kam dicht an ihn heran. Ravic hätte gern vermieden, ihr die Hand zu gehen. Aber sie dachte gar nicht daran. Sie dämpfte vertraulich ihre Stimme. »Sie sind vernünftig, mein Herr.Vernünftiger als die meisten Ärzte. Schade, daß Sie...« sie stockte und sah ihn aufmunternd an. »Manchmal braucht man für gewisse Fälle... ein verständiger Arzt würde eine große Hilfe sein können...«
Ravic widersprach nicht. Er wollte mehr hören. »Es würde Ihr Schaden nicht sein«, fügte die Boucher hinzu. »Gerade in speziellen Fällen.« Sie beobachtete ihn wie eine Katze, die vorgibt, Vögel zu lieben. »Wohlhabende Klienten sind darunter, manchmal... Zahlung natürlich nur im voraus, und... wir sind sicher, todsicher mit der Polizei... ich nehme an, daß Sie ganz gut einige hundert Frank Nebenverdienst brauchen könnten...« sie klopfte ihm auf die Schulter — »ein gutaussehender Mann wie Sie...«
Sie ergriff mit einem breiten Lächeln die Flasche. »Nun, was meinen Sie?«
»Danke«, sagte Ravic und hielt die Flasche zurück. »Keinen mehr. Ich vertrage nicht viel.« Es fiel ihm schwer, denn der Kognak war hervorragend. Die Flasche hatte kein Fabriketikett und stammte bestimmt aus einem erstklassigen Privatkeller. »Die andere Sache werde ich mir überlegen. Ich komme nächstens einmal wieder. Ich würde ganz gern einmal Ihre Instrumente sehen.Vielleicht kann ich Ihnen da einen Rat geben.«
»Meine Instrumente zeige ich Ihnen, wenn Sie wiederkommen. Sie zeigen mir dann Ihre Papiere. Ein Vertrauen um das andere.«
»Sie haben mir schon ein gewisses Vertrauen gezeigt.«
»Nicht das mindeste«, lächelte die Boucher. »Ich habe Ihnen nur einen Vorschlag gemacht, den ich jederzeit abstreiten kann. Sie sind kein Franzose, das hört man, obschon Sie gut sprechen. Sie sehen auch nicht so aus. Sie sind wahrscheinlich ein Refugié.« Sie lächelte stärker und sah ihn mit kühlen Augen an. »Man würde Ihnen nicht glauben und sich höchstens für das französische Diplom interessieren, das Sie nicht haben. Draußen im Vorzimmer sitzt ein Polizeibeamter. Wenn Sie wollen, können Sie mich da gleich anzeigen. Sie werden es nicht tun. Aber meinen Vorschlag können Sie sich überlegen. Sie würden mir Ihren Namen und Ihre Adresse nicht geben, nicht wahr?«
»Nein«, sagte Ravic, der sich geschlagen fühlte.
»Das dachte ich mir.« Die Boucher sah jetzt wirklich aus wie eine ungeheure, vollgefressene Katze. »Au revoir, Monsieur! Überlegen Sie mein Angebot. Ich habe schon öfter daran gedacht, einen Refugié-Arzt hinzuzuziehen.«
Ravic lächelte. Er wußte, weshalb. Einen Refugié-Arzt hatte sie vollkommen in der Hand. Wenn irgendwann einmal etwas passierte, war er der Schuldige. »Ich werde darüber nachdenken«, sagte er. »Au revoir, Madame!«
Er ging den dunklen Korridor entlang. Hinter einer der Türen hörte er jemand stöhnen. Er nahm an, daß die Zimmer wie Kojen eingerichtet waren, mit Betten. Die Frauen blieben ein paar Stunden dort liegen, bevor sie nach Hause wankten.
Im Vorzimmer saß ein schlanker Mann mit einem gestutzten Schnurrbärtchen und olivfarbener Haut. Er betrachtete Ravic aufmerksam. Neben ihm saß Roger. Er hatte eine zweite Flasche des alten Kognaks auf dem Tisch. Unwillkürlich suchte er sie zu verstecken, als er Ravic sah. Dann grinste er und ließ die Hand fallen. »Bonsoir, docteur«, sagte er und zeigte ein fleckiges Gebiß. Er schien an der Tür gelauscht zu haben.
»Bonsoir, Roger.« Es schien Ravic angemessen, familiär zu sein. Innerhalb einer halben Stunde hatte das unverwüstliche Weib dadrinnen ihn aus einem offenen Feind nahezu in einen Komplicen verwandelt. Da war es danach direkt eine Erlösung, nicht zu formell zu Roger zu sprechen, der plötzlich, nach all dem, etwas erstaunlich Menschliches hatte.
Unten auf der Treppe begegneten ihm zwei Mädchen. Sie suchten an den Türen herum. »Mein Herr«, fragte die eine dann mit einem Entschluß.
»Wohnt Madame Boucher hier im Hause?«
Ravic zögerte. Aber was hatte es für einen Zweck, etwas zu sagen? Es würde nichts nützen. Sie würden doch gehen. Er konnte ihnen ja auch nichts anderes angeben. »Im dritten Stock. Es ist ein Schild an der Tür.«
Das Leuchtzifferblatt der Uhr schimmerte wie eine winzige, geborgte Sonne durch das Dunkel. Es war fünf Uhr morgens. Joan hätte um drei Uhr kommen sollen. Möglich, daß sie noch kam. Möglich auch, daß sie zu müde gewesen und gleich in ihr Hotel gegangen war.
Ravic legte sich zurück, um weiter zu schlafen. Aber er schlief nicht ein. Er lag lange und blickte auf die Decke, auf der das rote Band der Leuchtreklame vom Dach schräg gegenüber in regelmäßigen Abständen entlanglief. Er fühlte sich leer und wußte nicht warum. Es war, als ob die Wärme seines Körpers langsam durch die Haut tropfte, irgendwohin, und als ob sein Blut sich anlehnen wollte, an etwas, das nicht da war, und als ob es fiel und fiel in ein sanftes Nirgendwo. Er kreuzte die Hände hinter dem Kopf und lag still. Er wußte jetzt, daß er wartete. Und er wußte, daß nicht nur sein Bewußtsein auf Joan Madou wartete, daß seine Hände und seine Adern und eine sonderbare, fremde Zärtlichkeit in ihm warteten.
Er stand auf, zog seinen Morgenmantel an und setzte sich ans Fenster. Er fühlte die Wärme der weichen Wolle auf seiner Haut. Der Mantel war alt; er hatte ihn durch viele Jahre mitgeschleppt. Er hatte in ihm auf der Flucht geschlafen; er hatte in den kalten Nächten Spaniens, wenn er todmüde aus dem Lazarett in seine Baracke zurückkam, sich in ihm gewärmt, Juana, zwölf Jahre alt, mit Augen, die achtzig Jahre alt waren, war unter ihm in einem zerschossenen Hotel Madrids gestorben — mit dem einzigen Wunsch, einmal ein Kleid aus so weicher Wolle zu besitzen und zu vergessen, wie man ihre Mutter vergewaltigt und ihren Vater zu Tode getrampelt hatte.
Er blickte sich um. Das Zimmer, ein paar Koffer, ein paar Sachen, eine Handvoll zerlesener Bücher — ein Mann braucht wenige Dinge, um zu leben. Es war gut, sich nicht an viele zu gewöhnen, wenn das Leben unruhig war. Man hatte sie immer wieder zu verlassen, oder sie wurden genommen. Man mußte jeden Tag aufbrechen können. Das war der Grund, weshalb er allein gelebt hatte; wenn man unterwegs war, sollte man nichts haben, was einen festhalten konnte. Nichts, was das Herz bewegte. Das Abenteuer — aber nicht mehr.
Er sah auf das Bett. Das verwühlte, blasse Leinen. Es machte nichts, daß er wartete. Er hatte oft auf Frauen gewartet. Aber er fühlte, daß er anders gewartet hatte — einfach, klar und brutal. Manchmal auch mit der anonymen Zärtlichkeit, die die Begierde umsilberte — aber lange nicht mehr so wie heute. Es war da etwas in ihn hineingeschlichen, auf das er nicht geachtet hatte. Regte es sich da wieder? Bewegte es sich? Wie lange war das her? Rief da nicht schon wieder etwas aus der Vergangenheit, aus blauen Tiefen; wehte es nicht bereits wie ein Hauch von Wiesen, voll von Pfefferminz, eine Pappelreihe am Horizont, der Geruch von Wäldern im April? Er wollte es nicht mehr. Er wollte es nicht besitzen. Er wollte nicht besessen werden.
Er war unterwegs.
Er stand auf und begann sich anzuziehen. Man mußte unabhängig bleiben. Alles begann mit kleinen Abhängigkeiten. Man achtete nicht darauf — und plötzlich hing man im Netz der Gewohnheit. Gewohnheit, für die es viele Namen gab — Liebe war eine davon. Man sollte sich an nichts gewöhnen. Nicht einmal an einen Körper.
Er schloß die Tür nicht ab. Wenn Joan Madou kam, würde sie ihn nicht finden. Sie konnte bleiben, wenn sie wollte. Er überlegte eine Sekunde, ob er einen Zettel hinterlassen sollte. Aber er wollte nicht lügen, und er wollte ihr auch nicht sagen, wohin er ging.
Er kam gegen acht Uhr morgens zurück. Er war durch die kalte Laternenfrühe gegangen und hatte sich klar und entspannt gefühlt. Aber als er vor dem Hotel stand, spürte er die Spannung wieder.
Joan war nicht da. Ravic erklärte sich, daß er nichts anderes erwartet hatte. Aber das Zimmer erschien ihm leerer als sonst. Er sah sich um und suchte nach einem Zeichen, ob sie dagewesen sei. Er fand nichts.
Er klingelte dem Mädchen. Sie kam nach einer Weile. »Ich möchte Frühstück haben«, sagte er.
Sie sah ihn an. Sie sagte nichts. Er wollte sie auch nichts fragen. »Kaffee und Croissants, Eve.«
»Sehr wohl, Herr Ravic.«
Er sah das Bett an. Wenn Joan gekommen war, konnte man nicht gut erwarten, daß sie sich in ein zerwühltes, leeres Bett legte. Sonderbar, wie tot alles wurde, was mit dem Körper zu tun hatte, wenn es nicht mehr seine Wärme hatte — ein Bett, Wäsche, sogar ein Bad. Es wurde abstoßend, wenn es die Wärme verlor.
Er zündete sich eine Zigarette an. Sie konnte angenommen haben, er wäre zu einem Patienten gerufen worden. Aber dann hätte er einen Zettel hinterlassen können. Er fand sich plötzlich idiotisch. Er hatte unabhängig sein wollen und war nur rücksichtslos gewesen. Rücksichtslos und albern wie ein Achtzehnjähriger, der sich selbst etwas beweisen will. Es war mehr Abhängigkeit darin, als wenn er gewartet hätte.
Das Mädchen brachte das Frühstück. »Soll ich das Bett machen?« fragte es.
»Warum jetzt?«
»Wenn Sie noch schlafen wollen. Es schläft sich besser in einem frischen Bett.«
Sie sah ihn ausdruckslos an.
»War jemand hier?« fragte er.
»Ich weiß es nicht. Ich bin erst um sieben gekommen.«
»Eve«, sagte Ravic. »Wie fühlt man sich, wenn man jeden Morgen ein Dutzend Betten von fremden Leuten machen muß?«
»Es geht, Herr Ravic. Solange die Herrschaften weiter nichts wollen. Aber es sind immer einige da, die mehr wollen. Dabei sind die Bordelle doch so billig in Paris.«
»Morgens kann man nicht ins Bordell gehen, Eve. Und morgens fühlen sich manche Gäste besonders stark.«
»Ja, besonders die alten.« Sie zuckte die Schultern. »Man verliert das Trinkgeld, wenn man es nicht tut, das ist alles. Einige beschweren sich auch hinterher jeden Augenblick — daß das Zimmer nicht sauber sei oder daß man frech wäre. Aus Wut natürlich. Man kann nichts dagegen tun. So ist das Leben.«
Ravic zog einen Geldschein hervor. »Machen wir uns heute das Leben etwas einfacher, Eve. Kaufen Sie sich einen Hut dafür. Oder eine Wolljacke.«
Eves Augen belebten sich. »Danke, Herr Ravic. Der Tag fängt gut an. Soll ich dann das Bett später machen?«
»Ja.«
Sie sah ihn an. »Die Dame ist eine sehr interessante Dame«, sagte sie. »Die Dame, die jetzt immer kommt.«
»Noch ein Wort, und ich nehme Ihnen den Schein wieder ab.« Ravic schob Eve zur Tür hinaus. »Die alten Erotiker warten schon auf Sie. Enttäuschen Sie sie nicht.«
Er setzte sich an den Tisch und aß. Das Frühstück schmeckte ihm nicht besonders. Er stand auf und aß stehend. Es schmeckte besser.
Die Sonne kam rot über die Dächer. Das Hotel erwachte. Der alte Goldberg im Stock unter ihm begann sein Morgenkonzert. Er hustete und krächzte, als hätte er sechs Lungen. Der Emigrant Wiesenhoff öffnete sein Fenster und pfiff einen Parademarsch. Im Stock darüber rauschte Wasser. Türen klappten. Nur bei den Spaniern war alles still. Ravic reckte sich. Die Nacht war vorbei. Die Korruption der Dunkelheit war vorüber. Er beschloß, ein paar Tage allein zu bleiben.
Draußen riefen die Zeitungsjungen die Morgennachrichten aus. — Zwischenfälle an der tschechischen Grenze. Deutsche Truppen an der Sudetenlinie. Der Pakt von München in Gefahr.