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Der Junge schrie nicht. Er starrte die Ärzte nur an. Er war noch so verstört, daß er den Schmerz nicht fühlte. Ravic warf einen Blick auf das zerschmetterte Bein. »Wie alt ist er?« fragte er die Mutter.
»Was?« fragte die Frau verständnislos.
»Wie alt ist er?«
Die Frau mit dem Kopftuch bewegte die Lippen. »Sein Bein!« sagte sie. »Sein Bein! Es war ein Lastauto.«
Ravic horchte das Herz ab. »Ist er einmal krank gewesen, früher?«
»Sein Bein!« sagte die Frau.
»Es ist doch sein Bein!«
Ravic richtete sich auf. Das Herz schlug rasch wie ein Vogelherz, aber es war nichts Alarmierendes zu hören. Er mußte den Jungen, der abgezehrt und rachitisch aussah, während der Narkose beobachten. Er mußte sofort anfangen. Das zerrissene Bein war voll Straßenschmutz.
»Wird nun das Bein abgenommen?« fragte der Junge.
»Nein«, sagte Ravic, ohne es zu glauben.
»Es ist besser, Sie nehmen es ab, anstatt daß es steif wird.«
Ravic sah aufmerksam in das altkluge Gesicht. Es war noch kein Zeichen von Schmerz darin. »Wir werden sehen«, sagte er. »Wir müssen dich jetzt einschläfern. Es ist sehr einfach. Du brauchst keine Angst zu haben. Sei ganz ruhig.«
»Einen Augenblick, mein Herr. Die Nummer ist FO 2019. Wollen Sie das aufschreiben für meine Mutter?«
»Was? Was, Jeannot?« fragte die Mutter aufgeschreckt.
»Ich habe mir die Nummer gemerkt. Die Nummer des Autos. FO 2019. Ich sah sie dicht vor mir. Es war rotes Licht. Der Fahrer war schuld.« Der Junge begann mühsam zu atmen. »Die Versicherung muß zahlen. Die Nummer...«
»Ich habe sie aufgeschrieben«, sagte Ravic. »Sei ruhig. Ich habe alles aufgeschrieben.« Er winkte Eugenie, mit der Narkose anzufangen.
»Meine Mutter muß zur Polizei gehen. Die Versicherung muß zahlen.« Dicke Schweißperlen standen so plötzlich auf dem Gesicht, als hätte es darauf geregnet. »Wenn Sie das Bein abnehmen, zahlt sie mehr... als wenn es... steif bleibt...«
Die Augen versanken in blauschwarzen Ringen, die aus der Haut hervortraten wie schmutzige Teiche. Der Junge stöhnte und versuchte, rasch noch etwas zu sagen. »Meine Mutter... versteht nicht... Sie... helfen...« Er konnte nicht mehr. Er fing an zu brüllen, als hocke in ihm ein gemartertes Tier.
»Was macht die Welt draußen, Ravic?« fragte Kate Hegström.
»Wozu wollen Sie das wissen, Kate? Denken Sie lieber an etwas Erfreulicheres.«
»Ich habe das Gefühl, daß ich schon seit Wochen hier bin. Alles andere ist weit fort, wie versunken.«
»Lassen Sie es ruhig eine Weile versunken bleiben.«
»Nein. Ich fürchte sonst, daß dieses Zimmer die letzte Arche ist und daß unter dem Fenster schon die Sintflut kommt. Was ist draußen los, Ravic?«
»Nichts Neues, Kate. Die Welt fährt eifrig fort, ihren Selbstmord vorzubereiten und sich gleichzeitig darüber hinwegzutäuschen.«
»Gibt es Krieg?«
»Daß es Krieg gibt, weiß jeder.Was man noch nicht weiß, ist wann. Jeder wartet auf ein Wunder.« Ravic lächelte. »Ich habe noch nie so viele wundergläubige Staatsmänner gesehen wie augenblicklich in Frankreich und England. Und noch nie so wenige wie in Deutschland.«
Sie lag eine Zeitlang still. »Daß das möglich ist...«, sagte sie dann.
»Ja — es scheint so unmöglich, daß es eines Tages geschehen wird. Eben deshalb, weil man es für unmöglich hielt und sich deshalb nicht schützte. Haben Sie Schmerzen, Kate?«
»Nicht so viel, daß ich es nicht aushalten kann.« Sie schob das Kissen unter ihrem Kopf zurecht. »Ich möchte fort von dem allem, Ravic.«
»Ja...«, erwiderte er ohne Überzeugung. »Wer möchte das nicht?«
»Wenn ich hier ’rauskomme, will ich nach Italien gehen. Nach Fiesole. Ich habe da ein stilles, altes Haus mit einem Garten. Da will ich eine Zeitlang bleiben. Es wird noch kühl sein. Eine blasse, heitere Sonne. Mittags die ersten Eidechsen auf der Südmauer. Abends die Glocken von Florenz. Und nachts der Mond und die Sterne hinter den Zypressen. Es sind Bücher in dem Haus, und es ist da ein großer, steinerner Kamin mit Holzbänken darin. Man kann am Kamin vor dem Feuer sitzen. Die eisernen Feuerböcke sind so gemacht, daß sie einen Halter tragen, in den man sein Glas stellen kann. Der rote Wein wird so gewärmt. Keine Menschen. Nur ein altes Ehepaar, das Ordnung hält.«
Sie blickte Ravic an. »Schön«, sagte er. »Ruhe, ein Feuer, Bücher und Frieden. Früher galt so etwas als Bürgerlichkeit. Heute ist es der Traum von einem verlorenen Paradies.«
Sie nickte. »Ich will eine Zeitlang da bleiben. Ein paar Wochen. Vielleicht auch einige Monate. Ich weiß es nicht. Ich will ruhig werden. Und dann werde ich wiederkommen und nach Amerika zurückgehen.«
Ravic hörte, wie auf dem Korridor Tabletts mit dem Abendessen vorübergetragen wurden. Ein paar Schüsseln klapperten. »Gut, Kate«, sagte er.
Sie zögerte. »Kann ich noch ein Kind haben, Ravic?«
»Nicht sofort. Sie müssen erst viel kräftiger werden.«
»Das meine ich nicht. Kann ich es irgendwann? Nach dieser Operation. Ist nicht...«
»Nein«, sagte Ravic. »Wir haben nichts herausgeschnitten.«
Sie atmete tief. »Das wollte ich wissen.«
»Es wird aber noch lange dauern, Kate. Ihr ganzer Organismus muß sich erst ändern.«
»Es macht nichts, wie lange es dauern wird.« Sie strich sich das Haar zurück. Der Stein auf ihrer Hand funkelte in der Dämmerung. »Es ist lächerlich, daß ich das frage, wie? Gerade jetzt.«
»Nein. Das kommt oft vor. Öfter als man glaubt.«
»Ich habe genug von allem hier, plötzlich. Ich will zurückgehen und heiraten, richtig, altmodisch, und Kinder haben und ruhig sein und Gott loben und das Leben lieben.«
Ravic blickte aus dem Fenster. Ein wildes Abendrot stand über den Dächern. Die Lichtreklamen ertranken darin wie blutlose Farbenschatten.
»Es muß Ihnen albern erscheinen, nach allem, was Sie von mir kennen«, sagte Kate Hegström hinter ihm.
»Nein, gar nicht. Gar nicht, Kate.«
Joan Madou kam um vier Uhr nachts. Ravic erwachte, als er die Tür hörte. Er hatte geschlafen und nicht auf sie gewartet. Er sah sie in der Türöffnung stehen. Sie versuchte, einen Armvoll riesiger Chrysanthemen hindurchzuzwängen. Er sah ihr Gesicht nicht. Er sah nur ihre Gestalt und die großen, hellen Dolden der Blumen. »Was ist denn das?« sagte er. »Ein Wald von Chrysanthemen. Was um Himmels willen soll das bedeuten?«
Joan brachte die Blumen durch die Tür und warf sie mit einem Schwung auf das Bett. Die Blüten waren feucht und kühl, und die Blätter rochen stark nach Herbst und Erde. »Geschenke«, sagte sie. »Seit ich dich kenne, fange ich an, Geschenke zu bekommen.«
»Nimm sie weg. Ich bin noch nicht tot. Unter Blumen zu liegen — Chrysanthemen noch dazu —, das gute alte Bett des Hotels International sieht ja aus wie ein Sarg.«
»Nein!« Joan raffte mit einer heftigen Bewegung die Blumen zusammen und warf sie auf den Boden. »Sprich nicht so! Nie!« Ravic sah sie an. Er hatte vergessen gehabt, wie sie sich kennengelernt hatten. »Vergiß es!« sagte er. »Ich habe mir nichts dabei gedacht.«
»Sprich nie wieder so. Auch nicht im Scherz. Versprich es mir.«
Ihre Lippen zitterten. »Aber Joan...«, sagte er. »Erschreckt es dich wirklich so?«
»Ja. Es ist mehr als Erschrecken. Ich weiß nicht, was.«
Ravic stand auf. »Ich werde nie wieder Witze darüber machen. Bist du nun zufrieden?«
Sie nickte an seiner Schulter. »Ich weiß nicht, was es ist. Ich kann es einfach nicht ertragen. Es ist, als ob eine Hand aus dem Dunkeln nach mir greife. Es ist Angst — besinnungslose Angst, als warte es irgendwo auf mich.« Sie schmiegte sich an ihn. »Laß es nicht zu.«
Ravic hielt sie fest in seinem Arm. »Nein — ich lasse es nicht zu.«
Sie nickte wieder. »Du kannst es doch...«
»Ja«, sagte er mit einer Stimme voll Trauer und Hohn und dachte an Kate Hegström. »Ich kann es, natürlich kann ich es...«
Sie rührte sich in seinem Arm. »Ich war gestern hier...«
Ravic regte sich nicht. »Warst du?«
»Ja.«
Er schwieg. Wie da etwas verwehte! Wie kindisch er gewesen war! Warten oder Nichtwarten — wozu das alles? Ein törichtes Spiel mit jemand, der nicht spielte.
»Du warst nicht da...«
»Nein.«
»Ich weiß, ich sollte dich nicht fragen, wo du warst...«
»Nein.«
Sie löste sich von ihm. »Ich möchte baden«, sagte sie mit veränderter Stimme. »Ich bin kalt. Kann ich das noch? Oder weckt das das Hotel auf?«
Ravic lächelte. »Frag nicht nach den Konsequenzen, wenn du etwas tun willst. Sonst tust du es nie.«
Sie sah ihn an. »In kleinen Dingen soll man schon fragen. In großen nie.«
»Auch richtig.«
Sie ging ins Badezimmer und ließ das Wasser ein. Ravic setzte sich ans Fenster und zog eine Schachtel Zigaretten hervor. Über den Dächern draußen stand der rötliche Widerschein der Stadt, in dem lautlos der Schnee wirbelte. Ein Taxi kläffte durch die Straßen. Die Chrysanthemen schimmerten bleich auf dem Fußboden. Auf dem Sofa lag eine Zeitung. Er hatte sie abends mitgebracht. — Kämpfe an der tschechischen Grenze, Kämpfe in China, ein Ultimatum, ein gestürztes Kabinett. Er nahm die Zeitung und schob sie unter die Blumen.
Joan kam aus dem Badezimmer. Sie war warm und hockte sich auf den Boden neben ihn, zwischen die Blumen. »Wo warst du gestern nacht?« fragte sie.
Er reichte ihr eine Zigarette herüber. »Willst du es wirklich wissen?«
»Ja.«
Er zögerte. »Ich war hier«, sagte er dann, »und wartete auf dich. Ich glaubte, du würdest nicht mehr kommen, und da bin ich fortgegangen.«
Joan wartete. Ihre Zigarette glühte in der Dunkelheit auf und erlosch wieder.
»Das ist alles«, sagte Ravic.
»Bist du trinken gegangen?«
»Ja...«
Joan drehte sich um und sah ihn an. »Ravic«, sagte sie, »bist du wirklich deswegen fortgegangen?«
»Ja.«
Sie legte die Arme auf seine Knie. Er fühlte ihre Wärme durch seinen Mantel. Es war ihre Wärme und die Wärme des Mantels, der ihm bekannter war, als manche Jahre seines Lebens, und es erschien ihm plötzlich, als gehörten beide schon lange zusammen und als wäre Joan von irgendwoher aus seinem Leben zurückgekehrt.
»Ravic, ich bin doch jeden Abend zu dir gekommen. Du mußtest doch wissen, daß ich gestern auch kommen würde. Bist du nicht fortgegangen, weil du mich nicht sehen wolltest?«
»Nein.«
»Du kannst es mir ruhig sagen, wenn du mich nicht sehen willst.«
»Ich würde es dir sagen.«
»War es nicht das?«
»Nein, es war wirklich nicht das.«
»Dann bin ich glücklich.«
Ravic sah sie an. »Was sagst du da?«
»Ich bin glücklich«, wiederholte sie.
Er schwieg eine Weile. »Weißt du auch, was du sagst?« fragte er dann.
»Ja.«
Der matte Lichtschein von draußen spiegelte sich in ihren Augen. »Man soll so etwas nicht leichtfertig sagen, Joan.«
»Ich sage es auch nicht leichtfertig.«
»Glück«, sagte Ravic. »Wo fängt es an, und wo hört es auf?«
Sein Fuß stieß an die Chrysanthemen. Glück, dachte er. Die blauen Horizonte der Jugend. Die goldhelle Balance des Lebens, Glück! Mein Gott, wo war das geblieben?
»Es fängt mit dir an und hört mit dir auf«, sagte Joan. »Das ist doch ganz einfach.«
Ravic erwiderte nichts. Was redete sie da, dachte er. »Du wirst mir gleich noch sagen, daß du mich liebst«, sagte er dann.
»Ich liebe dich.«
Er machte eine Bewegung. »Du kennst mich doch kaum.«
»Was hat das damit zu tun?«
»Viel. Lieben — das ist jemand, mit dem man alt werden will.«
»Davon weiß ich nichts. Es ist jemand, ohne den man nicht leben kann. Das weiß ich.«
»Wo ist der Calvados?«
»Auf dem Tisch. Ich hole ihn dir. Bleib sitzen.«
Sie brachte die Flasche und ein Glas und stellte sie auf den Boden zwischen die Blumen. »Ich weiß, daß du mich nicht liebst«, sagte sie.
»Dann weißt du mehr als ich.«
Sie sah rasch auf. »Du wirst mich lieben.«
»Gut. Darauf wollen wir trinken.«
»Warte.« Sie füllte das Glas und trank es aus. Dann goß sie es wieder voll und reichte es ihm. Er nahm es und hielt es einen Augenblick. Dies alles ist nicht wahr, dachte er.
Ein halber Traum in der verwelkenden Nacht. Worte, im Dunkeln gesprochen — wie können sie schon wahr sein? Wirkliche Worte brauchen viel Licht. »Woher weißt du das alles so genau?« fragte er.
»Weil ich dich liebe.«
Wie sie mit dem Wort umgeht, dachte Ravic. Ohne Bedenken, wie mit einer leeren Schüssel. Sie füllt sie mit irgend etwas und nennt es Liebe. Was hat man schon alles hineingefüllt! Angst vor dem Alleinsein, Aufregung an einem andern Ich, Steigerung des Selbstgefühls, schimmernde Spiegelung der Phantasie! Aber wer weiß es wirklich? Ist das, was ich gesagt habe vom Altwerden, nicht das Törichtste von allem? Hat sie nicht viel mehr recht mit ihrer Unbedenklichkeit? Und wozu sitze ich hier in einer Winternacht zwischen Krieg und Krieg wie ein Schulmeister und spalte Worte? Wozu wehre ich mich, anstatt mich ungläubig hineinzustürzen?
»Wozu wehrst du dich?« fragte Joan.
»Was?«
»Wozu wehrst du dich?« wiederholte sie.
»Ich wehre mich nicht — wogegen sollte ich mich wehren?«
»Ich weiß es nicht. Irgend etwas in dir ist verschlossen, und du willst nichts und niemand hineinlassen.«
»Komm«, sagte Ravic. »Gib mir noch etwas zu trinken.«
»Ich bin glücklich, und ich möchte, daß du auch glücklich bist. Ich bin ganz glücklich. Ich wache auf mit dir, und ich gehe schlafen mit dir. Ich weiß nichts anderes. Mein Kopf ist aus Silber, wenn ich an uns denke, und manchmal wie eine Violine. Die Straßen sind voll von uns wie von Musik, und ab und zu reden Menschen hinein, und wie im Film gleiten Bilder vorbei, aber die Musik bleibt. Sie bleibt immer.«
Vor ein paar Wochen noch warst du unglücklich, dachte Ravic, und kanntest mich nicht. Ein leichtes Glück! Er trank das Glas Calvados aus. »Warst du oft glücklich?« fragte er.
»Nicht oft .«
»Aber manchmal. Wann war dein Kopf das letztemal aus Silber?«
»Wozu fragst du das?«
»Um etwas zu fragen. Ohne Grund.«
»Ich habe es vergessen. Ich will es auch nicht mehr wissen. Es war anders.«
»Es ist immer anders.«
Sie lächelte ihm zu. Ihr Gesicht war hell und offen wie eine Blume mit wenigen Blütenblättern, die nichts versteckt. »Vor zwei Jahren«, sagte sie. »Es dauerte nicht lange. In Mailand.«
»Warst du damals allein?«
»Nein. Ich war schon mit jemand anderem. Er war sehr unglücklich und eifersüchtig und verstand es nicht.«
»Natürlich nicht.«
»Du würdest es verstehen. Er machte furchtbare Szenen.« Sie rückte sich zurecht, zog ein Kissen vom Sofa und schob es hinter den Rücken. Dann lehnte sie sich gegen das Sofa. »Er beschimpfte mich. Ich sei eine Hure und untreu und undankbar. Es war nicht wahr. Ich war ihm treu, solange ich ihn liebte. Er verstand nicht, daß ich ihn nicht mehr liebte.«
»Das versteht man nie.«
»Doch, du würdest es verstehen. Aber ich werde dich auch immer lieben. Du bist anders, und alles ist anders mit uns. Er wollte mich töten.« Sie lachte. »Immer wollen sie einen töten. Ein paar Monate später wollte mich der andere töten. Sie tun das nie. Du würdest mich nie töten wollen.«
»Höchstens mit Calvados«, sagte Ravic. »Gib mir die Flasche mal her. Die Unterhaltung wird gottlob menschlicher. Vor ein paar Minuten war ich ziemlich erschrokken.«
»Weil ich dich liebe?«
»Wir wollen nicht wieder davon anfangen. Das ist wie Spazierengehen in Reifrock und Perücke. Wir sind zusammen — für kurz oder lang, wer weiß das? Wir sind zusammen, das ist genug. Wozu brauchen wir dann ein Etikett?«
»Für kurz oder lang gefällt mir nicht. Aber das sind ja nur Worte. Du wirst mich nicht verlassen. Das sind auch nur Worte, und du weißt es.«
»Natürlich. Hat dich schon einmal jemand verlassen, den du liebtest?«
»Ja.« Sie sah ihn an. »Einer verläßt doch immer. Manchmal ist der andere schneller.«
»Und was hast du getan?«
»Alles!« Sie nahm das Glas aus seiner Hand und trank den Rest aus. »Alles! Aber es hat nichts genutzt. Ich war entsetzlich unglücklich.«
»Lange?«
»Eine Woche.«
»Das ist nicht lange.«
»Es ist eine Ewigkeit, wenn man wirklich unglücklich ist. Ich war so, mit allem, was ich bin, unglücklich, daß nach einer Woche alles erschöpft war. Mein Haar war unglücklich, meine Haut, mein Bett, meine Kleider sogar. Ich war so voll Unglück, daß nichts sonst existierte. Und wenn nichts anderes existiert, fängt Unglück an, kein Unglück mehr zu sein — weil nichts mehr da ist, womit man es vergleichen kann. Dann ist es nur noch völlige Erschöpfung. Und dann ist es vorbei. Man fängt langsam wieder an zu leben.«
Sie küßte seine Hand. Er fühlte die weichen, behutsamen Lippen. »Was denkst du?« fragte sie.
»Nichts«, sagte er. »Nichts, als daß du von einer wilden Unschuld bist. Völlig korrupt und überhaupt nicht. Das Gefährlichste auf der Welt. Gib mir mal das Glas. Ich will auf meinem Freund Morosow, den Kenner des menschlichen Herzens, trinken.«
»Ich mag Morosow nicht. Können wir nicht auf etwas anderes trinken?«
»Natürlich magst du ihn nicht. Er hat gute Augen. Laß uns auf dich trinken.«
»Auf mich?«
»Ja, auf dich.«
»Ich bin nicht gefährlich«, sagte Joan. »Ich bin gefährdet, aber nicht gefährlich.«
»Das gehört dazu, daß du das glaubst. Dir wird nie etwas passieren. Salute!«
»Salute. Aber du verstehst mich nicht.«
»Wer will schon verstehen? Daher kommen alle Mißverstandnisse der Welt. Gib mir die Flasche herüber.«
»Du trinkst soviel. Wozu willst du so viel trinken?«
»Joan«, sagte Ravic. »Es wird der Tag kommen, da du sagen wirst: zuviel! Du trinkst zuviel, wirst du sagen und glauben, daß du nur mein Bestes willst. In Wirklichkeit wirst du nur meine Ausflüge in eine Zone verhüten wollen, die du nicht kontrollieren kannst. Salute! Wir zelebrieren heute. Wir sind der Pathetik, die wie eine Wolke drohend vor dem Fenster stand, glorreich entkommen. Wir haben sie mit der Pathetik totgeschlagen. Salute!«
Er fühlte, wie sie zuckte. Sie richtete sich halb auf, stützte sich mit den Händen auf den Boden und sah ihn an. Ihre Augen waren weit geöffnet, der Bademantel war von der Schulter geglitten, das Haar war in den Nacken geworfen, und sie hatte im Dunkel etwas von einer hellen, sehr jungen Löwin. »Ich weiß«, sagte sie ruhig. »Du lachst mich aus. Ich weiß es, und ich mache mir nichts daraus. Ich fühle, daß ich lebe; ich fühle es mit allem, was ich bin, mein Atem ist anders, und mein Schlaf ist nicht mehr tot, meine Gelenke haben wieder Sinn, und meine Hände sind nicht mehr leer, und es ist mir ganz gleich, was du darüber denkst und was du darüber sagst, ich lasse mich fliegen und lasse mich laufen, und ich werfe mich hin, ohne Gedanken, und ich bin glücklich und habe weder Vorsicht noch Angst, es zu sagen, auch wenn du lachst und mich verspottest...«
Ravic schwieg eine Weile. »Ich verspotte dich nicht«, sagte er dann. »Ich verspotte mich, Joan...«
Sie lehnte sich an ihn. »Warum? Da ist etwas hinter deiner Stirn, das nicht will. Warum?«
»Da ist nichts, was nicht will. Ich bin nur langsamer als du.«
Sie schüttelte den Kopf. »Es ist nicht nur das. Es ist da etwas, das allein bleiben will. Ich fühle es. Es ist wie eine Barriere.«
»Da ist keine Barriere, da sind nur fünfzehn Jahre mehr Leben, als du hast. Nicht jedermanns Leben ist ein Haus, das ihm gehört und das er mit den Möbeln der Erinnerung immer reicher dekoriert. Mancher lebt in Hotels, in vielen Hotels. Die Jahre klappen hinter ihm zusammen wie Hoteltüren — und das einzige, was bleibt, ist ein bißchen Courage und kein Bedauern.«
Sie antwortete eine Zeitlang nicht. Er wußte nicht, ob sie ihm zugehört hatte. Er sah aus dem Fenster und spürte den tiefen Glanz des Calvados ruhig in seinen Adern. Das Klopfen der Pulse schwieg und wurde zu einer ausgebreiteten Stille, in der die Maschinengewehre der rastlos dahintickenden Zeit schwiegen. Der Mond hob sich verschwommen und rot über die Dächer, wie die Kuppel einer halb in die Wolken verschwundenen Moschee, die langsam aufstieg, während die Erde im Schneetreiben versank.
»Ich weiß«, sagte Joan, die Hände auf seinen Knien und ihr Kinn auf die Hände gestützt, »es ist töricht, wenn ich dir diese Dinge von mir von früher erzähle. Ich könnte schweigen oder könnte lügen, aber ich will es nicht.Warum soll ich dir nicht alles sagen, was in meinem Leben war, und warum soll ich mehr daraus machen? Ich will lieber weniger daraus machen, denn es ist nur noch lächerlich jetzt für mich, und ich verstehe es nicht mehr, und du sollst lachen darüber und meinetwegen auch über mich.«
Ravic sah sie an. Ihre Knie preßten die großen, weißen Blüten gegen die Zeitung, die er unter die Chrysanthemen geschoben hatte. Eine sonderbare Nacht, dachte er. Irgendwo wird jetzt geschossen, und Menschen werden gejagt und eingesperrt und gequält und gemordet, und ein Stück friedliche Welt wird zertreten, und man ist da und weiß es und ist hilflos, und in den hellen Bistros summt es von Leben, niemand kümmert sich, Menschen gehen ruhig schlafen, und ich sitze hier mit einer Frau zwischen bleichen Chrysanthemenblüten und einer Flasche Calvados, und der Schatten der Liebe steigt auf, schaudernd, fremd und traurig, einsam auch sie, vertrieben aus den sicheren Gärten der Vergangenheit, scheu und wild und rasch, als hätte sie kein Recht…
»Joan«, sagte er langsam und wollte etwas ganz anderes sagen. »Es ist schön, daß du da bist.«
Sie sah ihn an.
Er nahm ihre Hände. »Du verstehst, was das heißt? Mehr als tausend Worte...«
Sie nickte. Ihre Augen waren plötzlich voll Tränen. »Es heißt gar nichts«, sagte sie. »Ich weiß es.«
»Das ist nicht richtig«, erwiderte Ravic und wußte, daß es richtig war.
»Nein. Gar nichts. Du mußt mich lieben, Liebster, das ist alles.«
Er antwortete nicht.
»Du mußt mich lieben«, wiederholte sie. »Sonst bin ich verloren.«
Verloren ..., dachte er. Wie schnell sie das sagt! Wer wirklich verloren ist, spricht nicht mehr.