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»Haben Sie das Bein abgenommen?« fragte Jeannot.
Sein schmales Gesicht war blutlos und weiß wie eine alte Hauswand. Die Sommersprossen stachen so dunkel daraus hervor, als gehörten sie nicht dazu und wären mit Farbe übergesprenkelt. Der Beinstumpf lag unter einem Drahtkorb, über den die Decke gebreitet war.
»Hast du Schmerzen?« fragte Ravic.
»Ja. Im Fuß. Der Fuß tut sehr weh. Ich habe die Schwester gefragt. Der alte Drache will es mir nicht sagen.«
»Dein Bein ist amputiert«, sagte Ravic.
»Über dem Knie oder unter dem Knie?«
»Zehn Zentimeter darüber. Das Knie war zerschmettert und nicht zu retten.«
»Gut«, sagte Jeannot. »Das gibt ungefähr zehn Prozent mehr bei der Versicherung. Sehr gut. Ein künstliches Bein ist ein künstliches Bein, über oder unter dem Knie. Aber fünfzehn Prozent mehr sind etwas, was man jeden Monat in die Tasche stecken kann.« Er zögerte einen Augenblick. »Besser, Sie sagen es meiner Mutter vorläufig nicht. Sehen kann sie es ja nicht mit diesem Papageienkäfig über dem Stumpf da.«
»Wir werden ihr nichts sagen, Jeannot.«
»Die Versicherung muß eine Rente fürs Leben zahlen. Das stimmt doch, nicht wahr?«
»Ich glaube.«
Das käsige Gesicht verzog sich zu einer Grimasse. »Die werden staunen. Ich bin dreizehn Jahre alt. Die werden lange zahlen müssen. Wissen Sie schon, welche Versicherung es ist?«
»Noch nicht. Aber wir haben die Nummer des Autos. Du hast sie dir ja gemerkt. Die Polizei war schon hier. Sie will dich vernehmen. Du schliefst noch heute morgen. Sie will heute abend wiederkommen.«
Jeannot dachte nach. »Zeugen«, sagte er dann. »Es ist wichtig, daß wir Zeugen haben. Haben wir welche?«
»Ich glaube, deine Mutter hat zwei Adressen. Sie hatte die Zettel in der Hand.«
Der Junge wurde unruhig. »Sie wird sie verlieren. Wenn sie sie nur nicht schon verloren hat. Sie wissen, wie alte Leute sind. Wo ist sie jetzt?«
»Deine Mutter hat die Nacht über bis heute mittag an deinem Bett gesessen. Dann haben wir sie wegschicken können. Sie wird bald wiederkommen.«
»Hoffentlich hat sie sie noch. Die Polizei...« Er machte eine schwache Geste mit der abgezehrten Hand. »Gauner«, murmelte er. »Alles Gauner. Stecken mit den Versicherungen zusammen. Aber wenn man gute Zeugen hat... wann kommt sie zurück?«
»Bald. Reg dich nicht auf deswegen. Es wird schon in Ordnung sein.«
Jeannot bewegte den Mund, als kaue er an etwas. »Manchmal zahlen sie das Geld auch auf einen Schlag aus. Als Abfindung. Statt einer Rente. Wir könnten ein Geschäft damit anfangen, Mutter und ich.«
»Ruh dich jetzt aus«, sagte Ravic. »Du kannst darüber noch immer nachdenken.«
Der Junge schüttelte den Kopf. »Doch«, sagte Ravic. »Du mußt frisch sein, wenn die Polizei kommt.«
»Ja, richtig. Was soll ich denn machen?«
»Schlafen.« — »Aber dann...«
»Man wird dich schon wecken.«
»Rotes Licht. Es war bestimmt rotes Licht.«
»Bestimmt. Und nun versuche, etwas zu schlafen. Da ist eine Klingel, wenn du etwas brauchst.«
»Doktor...«
Ravic drehte sich um.
»Wenn alles klappt...« Jeannot lag in seinen Kissen, und etwas wie ein Lächeln ging über sein altkluges, verkrampftes Gesicht... »Manchmal hat man doch Glück, was?«
Der Abend war feucht und warm. Zerrissene Wolken zogen niedrig über die Stadt. Vor dem Restaurant Fouquet’s waren runde Koksöfen aufgestellt. Ein paar Tische und Stühle standen darum herum. An einem Morosow. Er winkte Ravic zu. »Komm, trink was mit mir.«
Ravic setzte sich zu ihm. »Wir sitzen zuviel in Zimmern«, erklärte Morosow. »Ist dir das schon mal aufgefallen?«
»Du nicht. Du stehst ja dauernd auf der Straße vor der Scheherazade.«
»Knabe, laß deine armselige Logik. Ich bin abends eine Art zweibeiniger Tür zur Scheherazade, aber kein Mensch im Freien. Wir sitzen zuviel in Zimmern, sage ich. Wir denken zuviel in Zimmern. Wir leben zuviel in Zimmern. Wir verzweifeln zuviel in Zimmern. Kann man im Freien verzweifeln?«
»Und wie!« sagte Ravic.
»Nur weil man zuviel in Zimmern lebt. Nicht, wenn man es gewohnt ist. Man verzweifelt anständiger in einer Landschaft als in einem Zimmer-Appartement mit Küche. Auch komfortabler. Widersprich nicht! Widerspruch zeigt abendländische Enge des Geistes. Wer will schon recht haben? Ich habe heute meinen freien Abend und will das Leben spüren. Wir trinken übrigens auch zuviel in Zimmern.«
»Wir pissen auch zuviel in Zimmern.«
»Bleib mir mit deiner Ironie vom Leibe. Die Fakten des Daseins sind simpel und trivial. Erst unsere Phantasie gibt ihnen Leben. Sie macht aus den Wäschepfählen der Tatsachen Flaggenmaste der Träume. Habe ich recht?«
»Nein.«
»Selbstverständlich nicht. Will ich auch gar nicht.«
»Natürlich hast du recht.«
»Gut, Bruder. Wir schlafen auch zuviel in Zimmern. Wir werden Möbelstücke. Die Steinhäuser haben unser Rückgrat gebrochen. Wir sind wandelnde Sofas, Toilettentische, Kassenschränke, Mietkontrakte, Gehaltsempfänger, Kochtöpfe und Wasserklosetts geworden.«
»Richtig. Wandelnde Parteiprogramme, Munitionsfabriken, Blindenanstalten und Irrenhäuser.«
»Unterbrich mich nicht dauernd. Trink, schweige und lebe, du Mörder mit dem Skalpell. Sieh, was aus uns geworden ist! Soviel ich weiß, hatten nur die alten Griechen Götter für das Trinken und die Lebenslust: Bacchus und Dionysos. Wir haben dafür Freud, Minderwertigkeitskomplexe und die Psychoanalyse — Angst vor zu großen Worten in der Liebe und viel zu große Worte in der Politik. Ein trauriges Geschlecht?« Morosow blinzelte.
Ravic blinzelte. »Alter, braver Zyniker mit Träumen«, sagte er.
Morosow grinste. »Elender Romantiker ohne Illusion — für eine kurze Zeit auf Erden Ravic genannt.«
»Für eine sehr kurze Zeit. Was Namen anbelangt, ist dieses bereits mein drittes Leben. Ist das polnischer Wodka?«
»Estnischer. Von Riga. Der beste. Schenk dir ein — und dann laß uns ruhig hier sitzen und auf die schönste Straße der Welt starren und diesen milden Abend loben und gelassen der Verzweiflung in die Schnauze spucken.«
Die Feuer in den Koksöfen knackten. Ein Mann mit einer Violine stellte sich am Rand des Bürgersteiges auf und begann »Auprès de ma blonde« zu spielen. Die Vorübergehenden stießen ihn an. Der Bogen kratzte, aber der Mann spielte weiter, als wäre er allein. Es klang dürr und leer. Die Violine schien zu frieren. Zwei Marokkaner gingen zwischen den Tischen umher und boten Teppiche aus greller Kunstseide an.
Die Zeitungsjungen kamen mit den letzten Ausgaben vorbei. Morosow kaufte den »Paris Soir« und den »Intransigeant«. Er überflog die Überschriften und schob dann die Zeitung beiseite. »Falschmünzer«, knurrte er. »Hast du schon mal bemerkt, wie wir im Zeitalter der Falschmünzer leben?«
»Nein. Ich dachte, wir lebten im Zeitalter der Konserven.«
»Konserven? Wieso?«
Ravic zeigte auf die Zeitungen. »Wir brauchen nicht mehr zu denken. Alles ist vorgedacht, vorgekaut, vorgefühlt. Konserven. Nur aufzumachen. Dreimal am Tage ins Haus geliefert. Nichts mehr selbst zu ziehen, wachsen zu lassen, auf dem Feuer der Fragen, des Zweifels und der Sehnsucht zu kochen. Konserven.« Er grinste. »Wir leben nicht leicht, Boris. Nur billig.«
»Wir leben als Falschmünzer.« Morosow hob die Zeitungen hoch. »Sieh dir das an. Ihre Waffenfabriken bauen sie, weil sie Frieden wollen; ihre Konzentrationslager, weil sie die Wahrheit lieben; Gerechtigkeit ist der Deckmantel für jede Parteiraserei; politische Gangster sind Erlöser, und Freiheit ist das große Wort für alle Gier nach Macht. Falsches Geld! Falsches geistiges Geld! Die Lüge der Propaganda. Küchenmacchiavellismus. Der Idealismus in den Händen der Unterwelt. Wenn sie noch wenigstens ehrlich wären...« Er knüllte die Blätter zusammen und warf sie fort.
»Wir lesen auch zuviel Zeitungen in Zimmern«, sagte Ravic.
Morosow lachte. »Natürlich. Im Freien braucht man sie, um Feuer...«
Er hielt inne. Ravic saß nicht mehr neben ihm. Er war aufgesprungen und drängte sich durch die Menge vor dem Café in der Richtung zur Avenue George V.
Morosow saß nur eine Sekunde überrascht da. Dann zog er Geld aus der Tasche, warf es in einen der Porzellanuntersätze unter den Gläsern und folgte Ravic. Er wußte nicht, was los war, aber er folgte ihm auf alle Fälle, um dazusein, wenn er ihn brauchte. Er sah keine Polizei. Auch nicht, daß ein Zivildetektiv hinter Ravic her war. Der Bürgersteig war gepackt voll von Menschen. Gut für ihn, dachte Morosow. Wenn ein Polizist ihn wiedererkannt hat, kann er leicht entwischen. Er sah ihn erst wieder, als er die Avenue George V. erreichte. Der Verkehr wechselte gerade, und die gestauten Wagenreihen schössen vorwärts. Ravic versuchte trotzdem, die Straße zu überqueren. Ein Taxi fuhr ihn fast um. Der Chauffeur tobte. Morosow packte Ravic von hinten am Arm und riß ihn zurück. »Bist du verrückt?« schrie er. »Willst du Selbstmord begehen? Was ist los?«
Ravic antwortete nicht. Er starrte zur anderen Seite hinüber. Der Verkehr war sehr dicht. Wagen schob sich an Wagen, vier Reihen tief. Es war unmöglich, durchzukommen. Ravic stand am Rande des Trottoirs, vorgebeugt und starrte hinüber.
Morosow schüttelte ihn. »Was ist los? Polizei?«
»Nein.« Ravic ließ die Augen nicht von den gleitenden Wagen.
»Was denn? Was denn, Ravic?«
»Haake...«
»Was?« Morosows Augen verengten sich. »Wie sieht er aus? — Rasch!«
»Grauer Mantel...«
Der schrille Pfiff des Verkehrspolizisten kam von der Mitte der Champs-Elysées her. Ravic stürzte los, zwischen den letzten Wagen hindurch. Ein dunkelgrauer Mantel — das war alles, was er wußte. Er überquerte die Avenue George V. und die Rue de Bassano. Es gab plötzlich Dutzende von grauen Mänteln. Er fluchte und drängte sich weiter, so rasch er konnte. An der Rue de Galilée war der Verkehr gestoppt. Er überquerte sie eilig und schob sich rücksichtslos vorwärts durch die Menschenmasse, weiter die Champs-Elysées entlang. Er kam an die Rue de Presbourg, er lief über die Kreuzung weiter und stand plötzlich still: Vor ihm lag der Place de l’Etoile, riesig, verwirrend, voll Verkehr, mit Straßenmündungen nach allen Seiten. Vorbei! Hier war nichts mehr zu finden.
Er kehrte um, langsam, aufmerksam die Gesichter in der Menge immer noch beobachtend — aber die Aufregung schlug um. Er fühlte sich plötzlich leer. Er hatte sich wieder getäuscht — oder Haake war ihm zum zweitenmal entschlüpft. Aber konnte man sich zweimal täuschen? Konnte jemand zweimal vom Erdboden verschwinden? Da waren noch die Seitenstraßen. Haake konnte abgebogen sein. Er blickte die Rue de Presbourg entlang. Wagen, Wagen, und Menschen, Menschen. Die geschäftigste Stunde des Abends. Es hatte keinen Zweck, sie noch zu durchsuchen. Wieder zu spät.
»Nichts?« fragte Morosow, der ihm entgegenkam.
Ravic schüttelte den Kopf. »Ich sehe wahrscheinlich wieder einmal Gespenster.«
»Hast du ihn erkannt?«
»Ich glaubte es. Eben noch. Jetzt... ich weiß überhaupt nichts mehr.«
Morosow sah ihn an. »Es gibt viele Gesichter, die sich ähnlich sehen.«
»Ja, und manche, die man nie vergißt.«
Ravic blieb stehen. »Was willst du denn machen?« fragte Morosow.«
»Ich weiß es nicht. Was soll ich schon machen?«
Morosow starrte auf die Menschenmenge.
»Verdammtes Pech! Gerade um diese Zeit. Geschäft sschluß. Alles voll...«
»Ja...«
»Und dazu noch dieses Licht! Halbdunkel. Hast du ihn genau gesehen?«
Ravic antwortete nicht.
Morosow nahm ihn am Arm. »Hör zu«, sagte er. »Weiter hier durch die Straßen und Querstraßen zu rennen, hat keinen Zweck mehr. Wenn du in einer bist, wirst du glauben, er sei gerade in der nächsten. Keine Chance. Laß uns zurückgehen zu Fouquet’s. Das ist der richtige Platz. Von da kannst du besser beobachten, als wenn du herumläufst.Wenn er zurückkommen sollte, mußt du ihn von da sehen.«
Sie setzten sich an einen Tisch, der am Rande stand und frei nach allen Seiten war. Sie saßen lange da. »Was willst du machen, wenn du ihn treffen solltest?« fragte Morosow schließlich. »Weißt du das schon?«
Ravic schüttelte den Kopf.
»Denk darüber nach. Besser, du weißt es vorher. Es hat keinen Zweck, überrascht zu werden und Dummheiten zu machen. Besonders nicht in deiner Lage. Du willst doch nicht für Jahre ins Gefängnis.«
Ravic sah auf. Er antwortete nicht. Er sah Morosow nur an.
»Mir wäre es auch egal«, sagte Morosow. »Mit mir. Aber es ist mir nicht egal mit dir. Was hättest du getan, wenn er es jetzt gewesen wäre und du ihn erwischt hättest drüben an der Ecke?«
»Ich weiß es nicht, Boris. Ich weiß es wirklich nicht.«
»Du hast nichts bei dir, wie?«
»Nein.«
»Wenn du ihn angefallen hättest, ohne Überlegung, wäret ihr in einer Minute getrennt gewesen. Du wärest jetzt auf der Polizei, und er hätte wahrscheinlich nur ein paar blaue Flecken, das weißt du, wie?«
»Ja.« Ravic starrte auf die Straße.
Morosow dachte nach. »Du hättest höchstens versuchen können, ihn an einer Kreuzung unter die Autos zu stoßen. Aber das wäre auch unsicher gewesen. Er hätte mit ein paar Schrammen davonkommen können.«
»Ich werde ihn nicht unter ein Auto stoßen.« Ravic starrte auf die Straße.
»Das weiß ich. Ich werde es auch nicht tun.«
Morosow schwieg eine Weile. »Ravic«, sagte er dann. »Wenn er es war und wenn du ihn triffst, dann mußt du todsicher sein, das weißt du? Du hast nur eine einzige Chance.« »Ja, das weiß ich.« Ravic starrte weiter auf die Straße.
»Wenn du ihn sehen solltest, folge ihm. Nichts anderes. Folge ihm nur. Finde heraus, wo er wohnt. Weiter nichts. Alles andere kannst du später überlegen. Laß dir Zeit. Mach keinen Unsinn, hörst du?«
»Ja«, sagte Ravic abwesend und starrte auf die Straße.
Ein Pistazienverkäufer kam an den Tisch. Ihm folgte ein Junge mit künstlichen Mäusen. Er ließ sie auf der Marmorplatte tanzen und auf seinem Ärmel emporlaufen. Der Geigenspieler erschien zum zweitenmal. Er spielte jetzt »Parlez moi d’amour« und trug einen Hut. Eine alte Frau mit syphilitischer Nase bot Veilchen an.
Morosow sah auf seine Uhr. »Acht«, sagte er. »Zwecklos, weiter zu warten, Ravic. Wir sitzen schon über zwei Stunden hier. Der Mann kommt um diese Zeit nicht mehr zurück. Jeder Mensch in Frankreich ißt im Augenblick irgendwo zu Abend.«
»Geh ruhig, Boris. Wozu sollst du überhaupt mit mir hier ’rumsitzen?«
»Das hat nichts zu tun. Ich kann mit dir hier sitzen, solange wir wollen. Aber ich will nicht, daß du dich verrückt machst. Es ist sinnlos, daß du hier noch stundenlang wartest. Die Wahrscheinlichkeit, ihn zu treffen, ist jetzt überall gleich. Im Gegenteil: Sie ist jetzt sogar größer in jedem Restaurant, in jedem Nachtklub, in jedem Bordell.«
»Ich weiß, Boris.«
Morosow legte seine große, behaarte Hand auf Ravics Arm. »Ravic«, sagte er. »Hör mich an. Wenn du den Mann treffen sollst, wirst du ihn treffen — und wenn nicht, dann kannst du Jahre auf ihn warten. Du weißt, was ich meine. Halte deine Augen offen — überall. Und sei auf alles vorbereitet. Aber sonst lebe so, als hättest du dich geirrrt. Wahrscheinlich hast du das auch. Das ist das einzige, was du tun kannst. Du machst dich sonst kaputt. Ich habe das auch schon gehabt. Vor ungefähr zwanzig Jahren. Glaubte alle Augenblicke, einen der Henker meines Vaters zu sehen; Halluzinationen.« Er trank sein Glas aus. »Verdammte Halluzinationen. Und jetzt komm mit mir. Wir wollen irgendwo essen gehen.«
»Geh du essen, Boris. Ich komme später.«
»Willst du hier sitzen bleiben?«
»Nur noch einen Augenblick. Ich gehe dann zum Hotel. Habe da noch etwas zu tun.«
Morosow sah ihn an. Er wußte, was Ravic im Hotel wollte. Aber er wußte auch, daß er nichts mehr tun konnte. Dies ging Ravic allein an. »Gut«, sagte er. »Ich bin bei der ›Mère Marie‹. Später im ›Bubilshki‹. Ruf mich an oder komm.« Er hob seine buschigen Augenbrauen. »Und riskiere nichts. Sei kein unnötiger Held! Und kein verdammter Idiot. Schieße nur, wenn du bestimmt entkommen kannst. Dies ist kein Kinderspiel und kein Gangsterfilm.«
»Das weiß ich, Boris, sei unbesorgt.«
Ravic ging zum Hotel International und von da gleich zurück. Unterwegs kam er am Hotel Milan vorbei. Er sah auf die Uhr. Es war halb neun.
Er konnte Joan noch zu Hause treffen.
Sie kam ihm entgegen. »Ravic«, sagte sie überrascht. »Du kommst hierher?«
»Ja...«
»Du bist noch nie hiergewesen, weißt du das? Seit damals, als du mich abgeholt hast.«
Er lächelte abwesend. »Es ist wahr, Joan, wir führen ein sonderbares Leben.«
»Ja. Wie die Maulwürfe oder Fledermäuse. Oder Eulen. Wir sehen uns nur, wenn es dunkel ist.«
Sie ging mit langen, weichen Schritten im Zimmer hin und her. Sie trug einen dunkelblauen Dressinggown, der wie der eines Mannes geschnitten und mit einem Gürtel fest um die Hüften gezogen war. Auf dem Bett lag das schwarze Abendkleid, das sie in der Scheherazade brauchte. Sie war sehr schön und unendlich weit weg.
»Mußt du nicht gehen, Joan?«
»Noch nicht. Erst in einer halben Stunde. Dies ist meine beste Zeit. Die Stunde, bevor ich fort muß. Du siehst, was ich dann habe. Kaffee und alle Zeit der Welt. Und nun bist du sogar da. Ich habe auch Calvados.«
Sie brachte die Flasche. Er nahm sie und stellte sie ungeöffnet auf den Tisch. Dann nahm er behutsam ihre Hände.
»Joan«, sagte er.
Das Licht in ihren Augen erlosch. Sie stand dicht vor ihm. »Sag mir nur gleich, was es ist...«
»Warum? Was soll es sein?«
»Irgend etwas. Wenn du so bist, ist es immer irgend etwas. Bist du deshalb gekommen?«
Er fühlte, daß ihre Hände von ihm wegstrebten. Sie bewegte sich nicht. Auch ihre Hände bewegten sich nicht. Es war nur, als ob in ihnen sich etwas fortzöge von ihm. »Du kannst heute abend nicht kommen, Joan. Heute nicht und vielleicht morgen und einige Tage nicht.«
»Mußt du in der Klinik bleiben?«
»Nein. Es ist etwas anderes. Ich kann nicht darüber sprechen. Aber es ist etwas, das nichts mit dir und mir zu tun hat.«
Sie stand eine Weile regungslos. »Gut«, sagte sie dann.
»Du verstehst es?«
»Nein. Aber wenn du es sagst, wird es richtig sein.«
»Du bist nicht böse?«
Sie sah ihn an. »Mein Gott, Ravic«, sagte sie. »Wie könnte ich dir jemals für etwas böse sein?«
Er blickte auf. Ihm war, als hätte eine Hand sich fest auf sein Herz gelegt. Joan hatte ohne Absicht gesagt, was sie gesagt hatte, aber sie hätte nicht mehr tun können, um ihn zu treffen. Er gab nur wenig auf das, was sie in den Nächten stammelte und flüsterte; es war vergessen, wenn der Morgen grau vor dem Fenster rauchte. Er wußte, daß die Hingerissenheit in den Stunden, wenn sie neben ihm hockte oder lag, ebensoviel Hingerissenheit über sie selbst war, und er nahm es als Rausch und leuchtende Konfession der Stunde, aber nie mehr als das. Jetzt zum erstenmal, wie ein Flieger, der durch einen Riß glänzender Wolken, auf denen das Licht Verstecken spielt, unten plötzlich die Erde grün und braun und glänzend erblickt, sah er mehr. Er sah unter Hingerissenheit Hingabe, unter Rausch Gefühl, unter dem Geklirr der Worte einfaches Vertrauen. Er hatte Mißtrauen, Fragen und Verständnislosigkeit erwartet — aber nicht dieses. Es waren immer die kleinen Dinge, die Aufschluß gaben, nie die großen. Die großen lagen zu nahe der dramatischen Geste und der Verführung zur Lüge.
Ein Raum. Ein Hotelraum. Ein paar Koffer, ein Bett, Licht, vor dem Fenster die schwarze Öde der Nacht und der Vergangenheit — und ein helles Gesicht hier mit grauen Augen und hohen Brauen und dem kühnen Schwung des Haares — Leben, biegsames Leben, ihm offen zugewandt, wie ein Oleanderbusch dem Licht — da war es, da stand es, wartend, schweigend, ihm zurufend: Nimm mich! Halte mich! Hatte er nicht einmal, vor langer Zeit, gesagt: Ich werde dich schon halten?
Er stand auf. »Gute Nacht, Joan.«
»Gute Nacht, Ravic.«
Er saß vor dem Café Fouquet’s. Er saß an demselben Tisch wie vorher. Er saß Stunde um Stunde da, vergraben in der Finsternis der Vergangenheit, in der nur ein einziges schwaches Licht brannte: die Hoffnung auf Rache.
Man hatte ihn im August 1933 verhaftet. Er hatte zwei Freunde, die von der Gestapo gesucht wurden, vierzehn Tage bei sich verborgen gehalten und ihnen dann geholfen, zu fliehen. Einer davon hatte ihm 1917, vor Bixschoote in Flandern, das Leben gerettet und ihn, als er langsam verblutend im Niemandsland lag, unter gedecktem Maschinengewehrfeuer zurückgeholt. Der zweite war ein jüdischer Schriftsteller, den er seit Jahren kannte. Man brachte ihn zum Verhör; man wollte wissen, in welcher Richtung beide geflohen wären, was für Papiere sie hätten und wer ihnen unterwegs behilflich sein würde. Haake hatte ihn verhört. Nach der ersten Ohnmacht hatte er versucht, Haake mit seinem Revolver zu erschießen oder ihn zu erschlagen. Er sprang in eine krachende, rote Dunkelheit hinein. Es war ein sinnloser Versuch gegen vier bewaffnete, kräftige Leute gewesen. Drei Tage lang tauchte dann aus Ohnmacht, langsamem Erwachen, rasenden Schmerzen immer wieder das kühle, lächelnde Gesicht Haakes auf. Drei Tage dieselben Fragen — drei Tage derselbe Körper, zerschlagen, fast unfähig, mehr zu leiden. Und dann, am Nachmittag des dritten Tages, brachte man die Frau. Sie wußte von nichts. Man zeigte ihn ihr, damit sie aussagen solle. Sie war ein luxuriöses, schönes Geschöpf, das ein spielerisches, belangloses Leben geführt hatte. Er erwartete, daß sie schreien und zusammenbrechen würde. Sie war nicht zusammengebrochen. Sie war auf die Henker losgefahren. Sie hatte tödliche Worte gesagt.
Tödlich für sie, und sie wußte es. Haake hatte nicht mehr gelächelt. Er hatte das Verhör abgebrochen. Am nächsten Tage hatte er Ravic erklärt, was mit ihr geschehen würde im Konzentrationslager für Frauen, wenn er nicht gestehen würde. Ravic hatte nicht geantwortet. Haake hatte ihm dann erklärt, was vorher mit ihr geschehen würde. Ravic hatte nichts gestanden, weil nichts zu gestehen war. Er hatte Haake zu überzeugen versucht, daß die Frau nichts wissen konnte. Er hatte ihm gesagt, daß er sie oberflächlich kannte. Daß sie wenig mehr in seinem Dasein bedeutete als ein schönes Bild. Daß er sie nie zu irgend etwas ins Vertrauen hätte ziehen können. Alles war wahr gewesen. Haake hatte nur gelächelt. Drei Tage später war die Frau tot. Sie hatte sich im Konzentrationslager für Frauen erhängt. Einen Tag darauf brachte man einen der Flüchtlinge wieder. Es war der jüdische Schriftsteller. Als Ravic ihn sah, kannte er ihn nicht wieder, selbst an der Stimme nicht. Es dauerte noch eine Woche unter Haakes Verhör, bis er ganz tot war. Dann kam für ihn selbst das Konzentrationslager. Das Hospital. Die Flucht aus dem Hospital.
Der Mond stand silbern über dem Arc de Triomphe. Die Laternen die Champs-Elysées hinauf wehten im Wind. Das mächtige Licht spiegelte sich in den Gläsern auf dem Tisch. Unwirklich, diese Gläser, dieser Mond, diese Straße, diese Nacht und diese Stunde, die mich anweht, fremd und vertraut, als wäre sie schon einmal dagewesen, in einem anderen Leben, auf einem anderen Stern — unwirklich diese Erinnerungen an Jahre, die vergangen sind, versunken, lebendig und tot zugleich, die nur noch in meinem Gehirn phosphoreszieren und sich zu Worten versteint haben — und unwirklich dieses, das durch das Dunkel meiner Adern rollt, ohne Ruhe, 37,6 Grad warm, etwas salzig schmeckend, vier Liter Geheimnis und Weitertreiben, Blut, Spiegelung in Ganglienzellen, unsichtbarer Storeraum im Nichts, Gedächtnis genannt, Stern um Stern, Jahr um Jahr hochwerfend, das eine hell, das andere blutig wie der Mars über der Rue de Berry und manches düster schimmernd und voll Flecken — der Himmel der Erinnerung, unter der die Gegenwart unruhig ihr konfuses Wesen trieb.
Das grüne Licht der Rache. Die Stadt, leise schwimmend im späten Mondlicht und dem Sausen der Automobilmotoren.
Häuserreihen, lang, endlos sich dehnend, Fensterreihen, und hinter sie gepackt Bündel von Schicksalen, straßenweit. Herzklopfen von Millionen Menschen, unaufhörliches Herzklopfen, wie von einem millionenfältigen Motor, langsam, langsam die Straße des Lebens entlang, mit jedem Klopfen einen geringen Millimeter näher dem Tode zu.
Er stand auf. Die Champs-Elysées waren fast leer. Ein paar Huren lungerten an den Ecken herum. Er ging die Straße herunter, an der Rue Pierre Charron, der Rue Marbeuf, der Rue de Marignan vorüber, bis zum Rond Point und zurück bis zum Arc de Triomphe. Er stieg über die Ketten und stand vor dem Grab des Unbekannten Soldaten. Die kleine, blaue Lampe flackerte im Schatten. Ein verwelkender Kranz lag davor. Er überquerte den Etoile und ging zu dem Bistro, vor dem er Haake zuerst gesehen zu haben glaubte. Ein paar Chauffeure saßen darin. Er setzte sich an das Fenster, wo er damals gesessen hatte, und trank einen Kaffee. Die Straße draußen war leer. Die Chauffeure unterhielten sich über Hitler. Sie fanden ihn lächerlich und prophezeiten ihm ein rasches Ende, wenn er sich an die Maginotlinie wagen sollte. Ravic starrte auf die Straße. Wozu sitze ich hier noch, dachte er. Ich könnte überall in Paris sitzen: die Chance ist gleich. Er sah auf die Uhr. Es war kurz vor drei. Zu spät. Haake — wenn er es war — würde um diese Zeit nicht mehr auf der Straße herumlaufen.
Er sah draußen eine Hure herumschlendern. Sie blickte durch das Fenster hinein und ging weiter. Wenn sie zurückkommt, gehe ich, dachte er. Die Hure kam zurück. Er ging nicht. Wenn sie noch einmal wiederkommt, gehe ich bestimmt, beschloß er. Haake ist dann nicht in Paris. Die Hure kam zurück. Sie winkte ihm mit dem Kopf und ging vorüber. Er blieb sitzen. Sie kam noch einmal zurück. Er ging nicht.
Der Kellner stellte die Stühle auf den Tisch. Die Chauffeure zahlten und verließen das Bistro. Der Kellner drehte das Licht über der Theke aus. Der Raum sank in schmutzige Dämmerung. Ravic sah sich um. »Zahlen«, sagte er.
Draußen war es windiger und kälter geworden. Die Wolken zogen höher und rascher. Er kam an Joans Hotel vorbei und blieb stehen. Alle Fenster waren dunkel, bis auf eines, in dem eine Lampe hinter den Vorhängen schimmerte. Es war Joans Zimmer. Er wußte, daß sie es haßte, in ein dunkles Zimmer zu kommen. Sie hatte das Licht brennen lassen, weil sie heute nicht zu ihm kam. Er blickte auf und begriff sich plötzlich nicht mehr. Wozu hatte er sie nicht sehen wollen? Die Erinnerung an jene Frau war längst verschollen; nur die Erinnerung an ihren Tod war geblieben.
Und das andere? Was hatte das mit ihr zu tun? Was hatte es sogar mit ihm selbst noch zu tun? War er nicht ein Narr, daß er einer Täuschung nachjagte, dem Reflex einer verknäuelten, schwarzen Erinnerung, einer finsteren Reaktion — daß er wieder zu wühlen begann in den Schlacken toter Jahre, aufgerührt durch einen Zufall, eine verfluchte Ähnlichkeit — daß er ein Stück verfaulter Vergangenheit, eine Schwäche kaum verheilter Neurose wieder aufbrechen ließ und alles dadurch in Gefahr brachte, was er in sich aufgebaut hatte, und den einzigen Menschen, in all dem Gleiten, der ihm verbunden war? Was hatte das eine mit dem andern zu tun? Hatte er sich das nicht selbst immer wieder gelehrt? Wie wäre er sonst entkommen? Und wo wäre er sonst geblieben?
Er spürte, wie das Blei in seinen Gliedern schmolz. Er atmete tief. Der Wind kam mit raschen Stößen die Straßen entlang. Er blickte wieder auf das erleuchtete Fenster. Da war jemand, dem er etwas bedeutete, jemand, für den er wichtig war, jemand, dessen Gesicht sich veränderte, wenn es ihn sah — und er hatte es einer verzerrten Illusion, dem ungeduldig abweisenden Hochmut einer blassen Rachehoffnung opfern wollen...
Was wollte er denn? Wozu wehrte er sich? Wozu hob er sich auf? Das Leben hielt sich ihm hin, und er machte Einwendungen. Nicht, weil es zuwenig — weil es zuviel war. Mußte erst das blutige Gewitter der Vergangenheit über ihn hinweggehen, damit er das erkennen konnte? Er bewegte die Schultern. Herz, dachte er. Herz! Wie es sich öffnete! Wie es sich bewegte! Fenster, dachte er, einsames, leuchtendes Fenster in der Nacht, Widerschein eines anderen Lebens, das sich ungestüm ihm entgegengeworfen hatte, offen, bereit, bis auch er sich öffnete. Die Flamme der Lust, das Elmsfeuer der Zärtlichkeit, das helle, rasche Wetterleuchten des Blutes — man kannte das, man kannte alles, man kannte so viel, daß man glaubte, nie wieder würde die weiche, goldene Verwirrung das Gehirn überschwemmen können —, und dann stand man plötzlich in einer Nacht vor einem drittklassigen Hotel, und es stieg wie Rauch aus dem Asphalt, und man spürte es, als käme von der andern Seite der Erde, von blauen Kokosinseln, die Wärme eines tropischen Frühlings, filtere sich durch Ozeane, Korallengründe, Lava und Dunkelheit und stiege jäh auf in Paris, in der schäbigen Rue de Poncelet, mit dem Duft von Hibiskus und Mimosen, in einer Nacht voll Rache und Vergangenheit, unwiderstehlich, unwidersprechlich, rätselhafte Erlösung des Gefühls...
Die Scheherazade war voller Menschen. Joan saß an einem Tisch mit einigen Leuten. Sie sah Ravic sofort. Er blieb an der Tür stehen. Das Lokal schwamm in Rauch und Musik. Sie sagte etwas zu den Leuten am Tisch und kam rasch auf ihn zu. »Ravic...«
»Hast du hier noch zu tun?«
»Warum?«
»Ich will dich mitnehmen.«
»Aber du sagtest doch...«
»Das ist vorbei. Hast du hier noch etwas zu tun?«
»Nein. Ich muß nur denen drüben sagen, daß ich gehe.« »Tu es schnell — ich warte draußen im Taxi auf dich.« »Ja.« Sie blieb stehen. »Ravic...« Er sah sie an. »Bist du meinetwegen zurückgekommen?« fragte sie.
Er zögerte eine Sekunde. »Ja«, sagte er dann leise in das atmende Gesicht hinein, das sich ihm hinhielt. »Ja. Joan. Deinetwegen. Nur deinetwegen!«
Sie machte eine rasche Bewegung. »Komm«, sagte sie dann. »Laß uns gehen! Was kümmern uns diese Leute hier noch.«
Das Taxi fuhr die Rue de Liège entlang. »Was war, Ravic?« »Nichts.« »Ich hatte Angst.« »Vergiß es. Es war nichts.« Joan sah ihn an. »Ich dachte, du kämest nie wieder.« Er beugte sich über sie. Er fühlte, wie sie zitterte. »Joan«, sagte er. »Denk an nichts und frage nichts. Siehst du die Laternenlichter und die tausend bunten Schilder da draußen? Wir leben in einer sterbenden Zeit, und diese Stadt bebt von Leben. Wir sind losgerissen von allem und haben nur noch unsere Herzen. Ich war auf einer Mondlandschaft, und ich bin wiedergekommen, und du bist da und bist das Leben. Frage nichts mehr. Es gibt mehr Geheimnisse in deinem Haar als in tausend Fragen. Da, vor uns ist die Nacht, ein paar Stunden und eine Ewigkeit, bis der Morgen an das Fenster dröhnt. Daß Menschen sich lieben, ist alles; ein Wunder und das Selbstverständlichste, was es gibt, das habe ich heute gefühlt, als die Nacht in einen Blütenbusch zerschmolz und der Wind nach Erdbeeren roch, und ohne Liebe ist man nur ein Toter auf Urlaub, nichts als ein paar Daten und ein zufälliger Name, und man kann ebensogut sterben...«
Das Licht der Laterne flog durch das Fenster des Taxis wie die kreisenden Scheinwerfer eines Leuchtturms durch die Dunkelheit einer Schiffskabine. Joans Augen waren abwechselnd sehr durchsichtig und sehr schwarz in dem bleichen Gesicht. »Wir sterben nicht«, flüsterte sie in Ravics Armen.
»Nein. Nicht wir. Nur die Zeit. Die verdammte Zeit. Sie stirbt immer. Wir leben. Wir leben immer. Wenn du erwachst, ist es Frühling, und wenn du einschläfst, ist es Herbst, und tausendmal dazwischen ist es Winter und Sommer, und wenn wir uns genug lieben, sind wir ewig und unzerstörbar wie der Herzschlag und der Regen und der Wind, und das ist viel. Wir siegen in Tagen, Geliebte, und wir verlieren in Jahren, aber wer will es wissen, und wen kümmert es? Die Stunde ist das Leben. Der Augenblick am nächsten der Ewigkeit, deine Augen schimmern, der Sternstaub tropft durch die Unendlichkeit, Götter vergreisen, aber dein Mund ist jung, das Rätsel zittert zwischen uns, das Du und Ich, Ruf und Antwort, aus den Abenden, aus den Dämmerungen, aus den Entzückungen aller Liebenden, gekeltert aus fernsten Brunstschreien zum goldenen Sturm, den unendlichen Weg von der Amöbe zu Ruth und Esther und Helena und Aspasia, zu blauen Madonnen in Kapellen am Wege, von Kriechen und Tier zu dir und mir...«
Sie lag in seinem Arm, regungslos, mit blassem Gesicht und so hingegeben, daß sie fast abweisend erschien — und er beugte sich über sie und sprach und sprach —, und es war ihm im Anfang, als sähe ihm jemand über die Schultern, ein Schatten, und spräche lautlos, mit einem undeutlichen Lächeln, mit, und er beugte sich tiefer und fühlte, wie sie ihm entgegenkam, und noch war es da, und dann nicht mehr.