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Andre Durant war ehrlich entrüstet. »Man kann mit Ihnen nicht mehr arbeiten«, erklärte er.

Ravic zuckte die Achseln. Er wußte von Veber, daß Durant zehntausend Frank für die Operation bekam. Wenn er nicht vorher abmachte, was er haben wollte, würde Durant ihm zweihundert Frank schicken. Er hatte es das letztemal auch getan.

»Eine halbe Stunde vor der Operation. Ich hätte das von Ihnen nie erwartet, Doktor Ravic.«

»Ich auch nicht«, sagte Ravic.

»Sie wissen, daß Sie sich auf meine Generosität stets verlassen konnten. Ich verstehe nicht, weshalb Sie jetzt so geschäftlich sind. Es ist mir peinlich, in diesem Augenblick, wo der Patient weiß, daß wir sein Leben in der Hand halten, über Geld zu reden.«

»Mir nicht«, erwiderte Ravic.

Durant sah ihn eine Weile an. Sein faltiges Gesicht mit dem weißen Knebelbart zeigte Würde und Indignation. Er rückte an der goldenen Brille. »Was haben Sie denn gedacht?« fragte er widerstrebend.

»Zweitausend Frank.«

»Was?« Durant wirkte, als sei er erschossen worden, und glaubte es noch nicht. »Lächerlich«, sagte er dann kurz.

»Schön«, sagte Ravic. »Sie können ja leicht noch jemand andern finden. Nehmen Sie Binot; er ist ausgezeichnet.«

Er griff nach seinem Mantel. Durant starrte ihn an. In seinem würdigen Gesicht arbeitete es. »Warten Sie doch«, sagte er, als Ravic seinen Hut nahm. »Sie können mich doch nicht einfach so sitzenlassen! Warum haben Sie mir das nicht gestern gesagt?«

»Gestern waren Sie auf dem Lande und nicht zu erreichen.«

»Zweitausend Frank! Wissen Sie, daß ich das nicht einmal verlangen werde? Der Patient ist mein Freund, dem ich nur meine Auslagen berechnen kann.«

Andre Durant sah aus wie der liebe Gott in Kinderbüchern. Er war siebzig Jahre alt, ein leidlicher Diagnostiker, aber ein schwacher Operateur. Seine glänzende Praxis gründete sich hauptsächlich auf die Arbeit seines früheren Assistenten Binot, dem es vor zwei Jahren gelungen war, sich endlich selbständig zu machen. Seitdem benutzte Durant Ravic für seine schwierigen Operationen. Ravic machte die kleinsten Schnitte und arbeitete so, daß die Narben kaum sichtbar blieben. Durant war ein ausgezeichneter Bordeauxkenner, ein beliebter Gast auf eleganten Partys, und seine Patienten kamen meistens daher.

»Hätte ich das gewußt«, murmelte er.

Er wußte es immer. Das war die Ursache dafür, daß er vor größeren Operationen ein oder zwei Tage in seinem Haus auf dem Lande war. Er wollte vermeiden, vor der Operation über den Preis zu reden. Nachher war es einfacher — er konnte dann Hoffnung auf das nächstemal machen —, und das nächstemal war es dann wieder dasselbe. Diesmal war Ravic, zu Durants Überraschung, nicht im letzten Moment, sondern eine halbe Stunde vor der angesetzten Zeit zur Operation erschienen und hatte ihn erwischt, bevor der Patient eingeschläfert war. Es gab so keine Möglichkeit, das als Grund zu benutzen, um die Diskussion abzukürzen.

Die Schwester steckte den Kopf in die Tür. »Sollen wir mit der Narkose anfangen, Herr Professor?«

Durant schaute sie an; dann beschwörend und mit Menschlichkeit Ravic.

Ravic schaute menschlich, aber fest zurück.

»Was meinen Sie, Herr Doktor Ravic?« fragte Durant.

»Die Entscheidung liegt bei Ihnen, Professor.«

»Eine Minute, Schwester. Wir sind uns noch nicht ganz klar über den Verlauf.« Die Schwester zog sich zurück. Durant wandte sich an Ravic. »Was nun?« fragte er vorwurfsvoll.

Ravic steckte die Hände in die Taschen. »Verschieben Sie die Operation auf morgen — oder um eine Stunde, und nehmen Sie Binot.«

Binot hatte zwanzig Jahre fast alle Operationen Durants gemacht und war dabei zu nichts gekommen, weil Durant ihn systematisch von fast jeder Möglichkeit, etwas selbständig zu werden, abgeschnitten und ihn stets als besseren Handlanger gekennzeichnet hatte. Er haßte Durant und würde mindestens fünftausend Frank verlangen, das wußte Ravic. Durant wußte es auch.

»Doktor Ravic«, sagte er. »Unser Beruf sollte nicht in geschäftliche Diskussionen ausarten.«

»Das finde ich auch.«

»Warum überlassen Sie es nicht meiner Diskretion, die Sache zu regeln? Sie waren doch bisher stets zufrieden.«

»Nie«, sagte Ravic.

»Das haben Sie mir niemals gesagt.«

»Weil es wenig Zweck gehabt hätte. Außerdem hat es mich nicht sehr interessiert. Diesmal interessiert es mich. Ich brauche das Geld.«

Die Schwester kam wieder herein. »Der Patient ist unruhig, Herr Professor.«

Durant starrte Ravic an. Ravic starrte zurück. Es war schwer, einem Franzosen Geld zu entreißen, das wußte er. Schwerer als einem Juden. Ein Jude sieht das Geschäft, ein Franzose nur das Geld, das er hergeben soll.

»Eine Minute, Schwester«, sagte Durant. »Nehmen Sie Puls, Blutdruck und Temperatur.«

»Das habe ich schon.«

»Dann fangen Sie mit der Narkose an.«

Die Schwester ging. »Also gut«, sagte Durant mit einem Entschluß. »Ich werde Ihnen tausend geben.«

»Zweitausend«, korrigierte Ravic.

Durant ging nicht darauf ein. Er fuhr über seinen weißen Knebelbart. »Hören Sie, Ravic«, sagte er dann mit Wärme. »Als Refugié, der nicht praktizieren darf...«

»Dürfte ich auch bei Ihnen nicht operieren«, sagte Ravic ruhig. Er wartete jetzt nur noch auf die traditionelle Erklärung, daß er dankbar zu sein hätte, im Lande geduldet zu werden.

Aber Durant verzichtete darauf. Er sah, daß er nicht weiterkam, und die Zeit drängte. »Zweitausend«, sagte er so bitter, als sei das Wort eine Banknote, die ihm aus der Kehle flatterte. »Ich werde aus meiner eigenen Tasche zahlen müssen. Ich dachte, Sie würden sich erinnern, was ich für Sie getan habe.«

Er wartete. Sonderbar, dachte Ravic, daß Blutsauger so gern moralisch werden. Dieser alte Gauner mit der Rosette der Ehrenlegion im Knopfloch wirft mir vor, daß ich ihn ausnütze, anstatt sich zu schämen. Und er glaubt es sogar noch.

»Also zweitausend«, sagte Durant endlich. »Zweitausend«, wiederholte er. Es war, als sagte er Heimat, lieber Gott, grüne Spargel, junge Rebhühner, alter St. Emilion. Dahin! »Können wir jetzt anfangen?«

Der Mann hatte einen fetten Spitzbauch und dünne Arme und Beine. Ravic wußte zufällig, wer er war. Er hieß Leval und war ein Beamter, zu dessen Ressort die Angelegenheiten der Emigranten gehörten. Veber hatte es ihm erzählt, als besonderen Witz.

Leval war ein Name, den jeder Refugié im International kannte. Ravic machte rasch den ersten Schnitt. Die Haut öffnete sich wie ein Buch. Er klammerte sie fest und sah auf das gelbliche Fett, das ihm entgegenquoll. »Wir werden ihn als Gratiszugabe ein paar Pfund leichter machen. Er kann sie sich dann wieder anfressen«, sagte er zu Durant.

Durant antwortete nicht. Ravic entfernte die Fettlager, um zu dem Muskel vorzudringen. Da liegt er nun, der kleine Gott der Refugiés, dachte er. Der Mann, der Hunderte von Schicksalen in seiner Hand hält, in dieser weißen Patschhand, die jetzt leblos daliegt. Der Mann, der den alten Professor Meyer ausgewiesen hat, Meyer, der nicht mehr die Kraft hatte, noch einmal den Kreuzweg zu beginnen, und der sich am Tage vor seiner Ausweisung schlicht in seinem Schrank im Hotel International erhängte. In seinem Schrank, weil nirgends sonst ein Haken war. Er konnte es; er war so leicht vom Hungern, daß der Haken, der für Kleider bestimmt war, hielt. Es war auch nicht mehr als ein Bündel Kleider mit etwas erwürgtem Leben darin, was das Mädchen morgens fand. Hätte dieser Spitzbauch hier Erbarmen gehabt, würde Meyer noch leben. »Klammer«, sagte er. »Tupfer.«

Er schnitt weiter. Die Präzision des scharfen Messers. Die Sensation eines klaren Schnittes. Die Bauchgrube. Die weißen Ringwürmer der Eingeweide. Der da lag, mit offenem Bauch, hatte auch seine moralischen Prinzipien. Er hatte menschliches Bedauern für Meyer, aber er hatte auch etwas, das er seine nationale Pflicht nannte. Immer war ein Schirm da, sich dahinter zu verstecken; ein Vorgesetzter, der wieder einen Vorgesetzten hatte; Orders, Anweisungen, Pflichten, Befehle — und schließlich das vielköpfige Monster Moral. Notwendigkeit, harte Wirklichkeit, Verantwortung und sonstwie genannt — immer war ein Schirm da, die einfachen Gesetze der Menschlichkeit zu umgehen.

Da war die Gallenblase, verrottet und krank. Hunderte von Tournedos Rossini, von Trips à la mode de Caën, canards presses und fetten Saucen, zusammen mit schlechter Laune und einigen Litern von gutem Bordeaux hatten das geschafft. Der alte Meyer hatte solche Sorgen nicht gehabt. Wenn man jetzt schlecht schnitt, zu weit schnitt, zu tief schnitt — würde dann in einer Woche ein besserer Mann in dem muffig nach Akten und Motten riechenden Zimmer sitzen, wo zitternde Emigranten die Entscheidung über Tod und Leben erwarteten? Ein besserer — vielleicht auch ein schlechterer. Dieser besinnungslose, sechzig Jahre alte Körper hier auf dem Tisch unter den grellen Lampen, hielt sich zweifellos für human. Er war bestimmt ein freundlicher Vater, ein guter Gatte — aber im Moment, wo er sein Büro betrat, verwandelte er sich in einen Tyrannen, der sich hinter den Phrasen: Wir können doch nicht... und: Wo sollte es hinführen, wenn... versteckte. Frankreich wäre nicht zugrunde gegangen, wenn Meyer eine bescheidene Mahlzeit am Tage weiter verzehrt hätte — wenn die Witwe Rosenthal weiter auf ihren erschlagenen Sohn hätte warten dürfen in einer Dienstbotenkammer des International — wenn der lungenkranke Weißwarenhändler Stallmann nichts sechs Monate im Gefängnis wegen illegalen Grenzübertritts gesessen hätte und nur herauskam, um zu sterben, bevor er zur Grenze abgeschoben werden konnte.

Gut. Der Schnitt war gut. Nicht zu tief, nicht zu weit. Katgut. Der Knoten. Die Gallenblase. Er zeigte sie Durant. Sie glänzte speckig im weißen Licht. Er warf sie in den Eimer. Weiter. Warum nähte man in Frankreich mit Reverdins? Raus mit der Klemme! Der warme Bauch eines Durchschnittsbeamten mit einem Gehalt von 30 000 bis 40 000 Frank jährlich. Wie konnte er da zehntausend für die Operation bezahlen? Wo verdiente er den Rest? Dieser Spitzbauch hatte auch einmal mit Murmeln gespielt. Das war eine gute Naht. Stich bei Stich. Zweitausend Frank steht immer auf dem Gesicht Durants, obschon man seinen Spitzbart nicht mehr sieht. Es steht in den Augen. Jedes Auge tausend Frank. Liebe verdirbt den Charakter. Hätte ich sonst diesen Rentier ausgepreßt und seinen Glauben an die göttliche Weltordnung der Ausbeutung erschüttert? Morgen wird er salbungsvoll am Bett des Spitzbauchs sitzen und Dankessprüche für seine Arbeit entgegennehmen. Vorsichtig, da war noch eine Klammer! Der Spitzbauch ist eine Woche in Antibes für Joan und mich. Eine Woche Licht im Aschenregen der Zeit. Ein blaues Stück Himmel, bevor das Gewitter kommt. Nun den Saum der Bauchdecke. Extra fein, für die zweitausend Frank. Ich sollte eine Schere mit einnähen als Andenken an Meyer. Das sausende, weiße Licht. Warum denkt man nur so viel durcheinander? Zeitungen wahrscheinlich, Radio. Das endlose Geplärr der Lügner und Feiglinge. Dekonzentration durch Wortlawinen. Konfuse Gehirne. Offen für jeden demagogischen Dreck. Nicht mehr gewohnt, das harte Brot der Erkenntnis zu kauen. Zahnlose Gehirne. Blödsinn. So, das ist auch fertig. Jetzt noch die Schlabberhaut. In ein paar Wochen kann er dann wieder zitternde Refugiés ausweisen.Vielleicht wird er auch milder ohne Gallenblase. Wenn er nicht stirbt. So was stirbt mit achtzig, geehrt, mit Selbstrespekt und stolzen Enkeln. Fertig. Weg mit ihm!

Ravic zog die Handschuhe von den Händen und die Maske vom Gesicht. Der hohe Beamte glitt auf lautlosen Rädern aus dem Operationsraum. Ravic blickte ihm nach. Wenn du das wüßtest, Leval! dachte er. Daß deine hochlegale Galle mir illegalem Flüchtling ein paar äußerst illegale Tage an der Riviera bescheren wird!

Er begann sich zu waschen. Neben ihm wusch Durant sich langsam und methodisch die Hände. Die Hände eines alten Mannes mit hohem Blutdruck. Während er sich die Finger sorgfältig rieb, kaute er im Rhythmus mit dem Unterkiefer langsam und mahlend, als zerriebe er Korn. Wenn er aufhörte zu reiben, hörte er auch auf zu kauen. Wenn er wieder begann, setzte das Kauen ebenfalls wieder ein. Er wusch sich diesmal besonders langsam und lange. Er will die zweitausend Frank noch ein paar Minuten länger behalten, dachte Ravic.

»Worauf warten Sie noch?« fragte Durant nach einer Weile.

»Auf Ihren Scheck.«

»Ich werde Ihnen das Geld schicken, wenn der Patient bezahlt. Das wird einige Wochen sein, nachdem er aus der Klinik entlassen ist.«

Durant begann sich die Hände abzutrocknen. Dann griff er nach einer Flasche Eau de Cologne d’Orsay und rieb sich damit ein. »Sie trauen mir doch wohl so viel — wie?« fragte er.

Gauner, dachte Ravic. Will noch ein bißchen Demütigung herausquetschen. »Sie sagten doch, daß der Patient ein Freund von Ihnen sei, der Ihnen nur die Unkosten bezahle.«

»Ja...«, erwiderte Durant unverbindlich.

»Nun... die Unkosten sind ein paar Frank für Material und die Schwestern. Die Klinik gehört Ihnen. Wenn Sie hundert Frank für alles rechnen... die können Sie abziehen und mir später geben.«

»Die Unkosten, Doktor Ravic«, erklärte Durant und richtete sich auf, »sind leider bedeutend höher, als ich dachte. Die zweitausend Frank für Sie gehören mit dazu. Infolgedessen muß ich sie dem Patienten auch aufrechnen.« Er schnupperte an seinen Händen nach dem Eau de Cologne. »Sie sehen...«

Er lächelte. Seine gelben Zähne bildeten einen lebendigen Kontrast zu seinem schneeweißen Bart. Als hätte jemand im Schnee gepißt, dachte Ravic. Immerhin, zahlen wird er. Veber wird mir das Geld daraufhin geben. Ich werde diesem alten Bock den Gefallen nicht tun, ihn jetzt noch darum zu bitten.

»Schön«, sagte er. »Wenn es so schwierig für Sie ist, dann schicken Sie es mir später.«

»Es ist nicht schwierig für mich. Obschon Ihre Forderung plötzlich und überraschend war. Es ist der Ordnung halber.«

»Gut, dann machen wir es der Ordnung halber; es ist dasselbe.«

»Es ist absolut nicht dasselbe.«

»Der Effekt ist derselbe«, sagte Ravic. »Und nun entschuldigen Sie mich. Ich möchte einen Schnaps trinken, Adieu.«

»Adieu«, sagte Durant überrascht.

Kate Hegström lächelte. »Warum kommen Sie nicht mit, Ravic?«

Sie stand vor ihm, schlank, sicher, auf hohen Beinen, die Hände in den Taschen ihres Mantels. »Die Forsythien müssen jetzt schon blühen in Fiesole. Gelbes Feuer die Gartenmauer entlang. Ein Kamin, Bücher, Frieden.«

Ein Lastwagen donnerte draußen über das Pflaster. Die Glasrahmen der Bilder in dem kleinen Empfangsraum der Klinik klirrten. Es waren Fotografien der Kathedrale von Chartres.

»Die Stille nachts. Weit weg von allem«, sagte Kate Hegström. »Würden Sie das nicht lieben?« »Ja. Aber ich würde es vielleicht nicht aushalten.« »Warum nicht?« »Stille ist nur gut, wenn man selbst still ist.« »Ich bin nicht still.« »Sie wissen, was Sie wollen. Das ist fast dasselbe.« »Wissen Sie das nicht?« »Ich will nichts.« Kate Hegström knöpfte ihren Mantel langsam zu. »Was ist das nun, Ravic? Glück oder Verzweiflung?«

Er lächelte ungeduldig- »Beides, wahrscheinlich. Beides, wie fast immer. Man soll nicht zuviel darüber nachdenken.«

»Was soll man denn?«

»Sich freuen.«

Sie sah ihn an. »Dazu braucht man niemand anders«, sagte sie. »Dazu braucht man immer jemand anders.« Er schwieg. Was rede ich da, dachte er. Reisegerede. Abschiedsverlegenheit, sanftes Pastorengeschwätz. »Nicht für die kleinen Glücke, von denen Sie einmal sprachen«, sagte er. »Die blühen überall, wie Veilchen um ein niedergebranntes Haus. Wer nichts erwartet, wird nicht enttäuscht — das ist eine gute Basis. Alles, was dann kommt, ist schon ein bißchen dazu.« »Es ist gar nichts«, erwiderte Kate Hegström. »Es ist nur so, wenn man im Bett liegt und vorsichtig denkt. Nicht mehr, wenn man herumgehen kann. Man verliert es dann wieder. Man will mehr.«

Ein schräger Strahl Licht vom Fenster fiel quer über ihr Gesicht. Es ließ ihre Augen im Schatten; nur ihr Mund blühte einsam darin auf.

»Haben Sie einen Arzt in Florenz?« fragte Ravic.

»Nein. Brauche ich einen?«

»Es kann immer noch eine Kleinigkeit vorkommen. Irgend etwas. Es ist beruhigender für mich, wenn ich weiß, daß Sie einen Arzt drüben haben.«

»Ich fühle mich sehr wohl. Und wenn etwas passieren sollte, kann ich ja zurückkommen.«

»Natürlich. Es ist auch nur eine Vorsicht. Es gibt in Florenz einen guten Arzt: Professor Fiola. Wollen Sie das behalten? Fiola.«

»Ich werde es vergessen. Es ist doch nicht wichtig, Ravic.«

»Ich werde ihm schreiben. Er wird sich um Sie kümmern.«

»Aber warum? Mir fehlt ja nichts.«

»Professionelle Vorsicht, Kate. Weiter nichts. Ich werde ihm schreiben, er möchte Sie anrufen.«

»Meinetwegen.« Sie nahm ihre Handtasche. »Adieu, Ravic. Ich gehe. Vielleicht fahre ich von Florenz gleich nach Cannes und von da mit der ›Conte di Savoya‹ nach New York. Sollten Sie einmal in Amerika sein, dann werden Sie eine Frau in einem Landhaus mit einem Mann und Kindern und Pferden und Hunden finden. Die Kate Hegström, die Sie kannten, lasse ich hier. Sie hat ein kleines Grab in der Scheherazade. Trinken Sie ab und zu hinüber, wenn Sie hingehen.«

»Gut. Mit Wodka.«

»Ja. Mit Wodka.« Sie stand unschlüssig in der Dämmerung des Zimmers. Der Streifen Licht fiel jetzt hinter sie auf eine der Fotografien von Chartres. Den Hochaltar mit dem Kreuz. »Sonderbar«, sagte sie. »Ich sollte froh sein. Ich bin es nicht...«

»Das ist so mit jedem Abschied, Kate. Sogar mit dem von der Verzweiflung.«

Sie stand vor ihm, zaudernd, voll sanften Lebens, entschlossen und etwas traurig. »Das einfachste bei einem Abschied ist immer, zu gehen«, sagte Ravic. »Kommen Sie, ich bringe Sie hinaus.«

»Ja.«

Die Luft war milde und feucht. Wie angeglühtes Eisen hing der Himmel tief zwischen den Dächern. »Ich werde Ihnen ein Taxi holen, Kate.«

»Nein. Ich will bis zur Ecke gehen. Ich finde da eines. Es ist fast das erstemal, daß ich wieder draußen bin.«

»Wie ist es?«

»Wie Wein.«

»Soll ich Ihnen nicht doch ein Taxi holen?«

»Nein. Ich will gehen.«

Sie blickte die nasse Straße entlang. Dann lachte sie. »In irgendeinem Winkel ist immer noch ein bißchen Angst. Gehört das auch dazu?«

»Ja. Das gehört dazu.«

»Adieu, Ravic.«

»Adieu, Kate.«

Sie stand noch eine Sekunde, als wollte sie etwas sagen. Dann ging sie die Stufen hinab, mit vorsichtigen Schritten, schmal, noch geschmeidig, die Straße entlang, in den veilchenfarbenen Abend und ihren Untergang. Sie sah sich nicht mehr um.

Ravic ging zurück. Als er an dem Zimmer vorbeikam, in dem Kate Hegström gelegen hatte, hörte er Musik. Erstaunt blieb er stehen. Er wußte, daß noch kein neuer Patient da war.

Vorsichtig öffnete er die Tür und sah die Schwester, die vor einem Grammophon kniete. Sie fuhr zusammen, als sie Ravic hörte, und sprang auf. Das Grammophon spielte eine alte Platte: »Le dernier valse«.

Das Mädchen strich sich das Kleid glatt. »Miß Hegström hat mir das Grammophon geschenkt«, sagte sie. »Es ist ein amerikanischer Apparat. Man kann ihn hier nicht kaufen. Nirgendwo in Paris. Es ist der einzige hier. Ich habe ihn rasch einmal probiert. Er spielt fünf Platten automatisch.«

Sie glühte vor Stolz. »Er ist mindestens dreitausend Frank wert. Und all die Platten dazu. Es sind sechsundfünfzig. Außerdem ist noch ein Radio drin. Das nennt man Glück.«

Glück, dachte Ravic. Schon wieder. Hier war es ein Grammophon. Er blieb stehen und hörte zu. Die Geige flog wie eine Taube über dem Orchester auf, klagend und sentimental. Es war einer der Schmachtfetzen, die manchmal mehr ans Herz griffen als alle Nokturnen von Chopin. Ravic sah sich um. Das Bett abgedeckt und die Matratze hochgestellt. Die Wäsche lag in einem Haufen neben der Tür. Die Fenster standen offen. Der Abend starrte ironisch herein. Ein verwehter Geruch von Parfüm und die ausklingenden Akkorde eines Salonwalzers waren das, was von Kate Hegström zurückgeblieben war.

»Ich kann nicht alles auf einmal mitnehmen«, sagte die Schwester. »Es ist zu schwer. Ich werde erst den Apparat mitnehmen und dann noch zweimal gehen und die Platten holen. Vielleicht auch dreimal. Es ist wunderbar. Man könnte ein Café damit aufmachen.«

»Gute Idee«, sagte Ravic. »Seien Sie vorsichtig, damit Sie nichts zerbrechen.«