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Ravic erwachte sehr langsam. Er lag noch eine Zeitlang in dem sonderbaren Zwielicht von Traum und Wirklichkeit — der Traum war noch da, blasser und fetzenhafter —, und gleichzeitig wußte er schon, daß er träumte. Er war im Schwarzwald, in der Nähe der deutschen Grenze, auf einer kleinen Bahnstation. Ein Wasserfall lärmte in der Nähe. Der Geruch der Tannen kam von den Bergen. Es war Sommer, und das Tal war voll vom Geruch von Harz und Wiesen. Die Schienen der Bahn blinkten rot in der Abendsonne — als wäre ein Zug, aus dem Blut tropfte, über sie gefahren.Was mache ich hier? dachte Ravic. Was mache ich hier in Deutschland? Ich bin doch in Frankreich. Ich bin doch in Paris. Er glitt über eine weiche, schillernde Woge, die ihn mehr mit Schlaf überschüttete. Paris... da zerfloß es schon, war nur noch im Nebel, versank. Er war nicht in Paris. Er war in Deutschland. Weshalb war er nur noch einmal hierhergekommen?
Er ging über den kleinen Bahnhof. Der Schaffner stand neben dem Zeitungsstand. Er las den »Völkischen Beobachter« und war ein Mann mittleren Alters mit einem dicken Gesicht und sehr blonden Augenbrauen. »Wann geht der nächste Zug?« fragte Ravic.
Der Schaffner sah ihn träge an. »Wohin wollen Sie denn?«
Ravic spürte plötzlich eine Welle heißen Schreckens.Wo war er? Wie hieß der Ort? Wie hieß die Station? Sollte er Freiburg sagen? Verflucht, weshalb wußte er nicht, wo er war? Er blickte den Bahnsteig entlang. Kein Ortsschild. Nirgendwo ein Name. Er lächelte. »Ich bin auf Urlaub«, sagte er.
»Wohin wollen Sie denn?« fragte der Schaffner.
»Ich fahre so umher. Ich bin hier aufs Geratewohl ausgestiegen. Es gefiel mir vom Fenster her. Jetzt gefällt es mir nicht mehr. Ich kann keine Wasserfälle leiden. Jetzt will ich weiter.«
»Wohin wollen Sie denn? Sie müssen doch wissen, wohin Sie wollen?«
»Ich muß übermorgen in Freiburg sein. Bis dahin habe ich Zeit. Es macht mir Spaß, so herumzufahren, ohne Ziel.«
»Diese Linie führt nicht nach Freiburg«, sagte der Schaffner und sah ihn an.
Was mache ich da für Unsinn? dachte Ravic. Weshalb frage ich überhaupt? Weshalb warte ich nicht einfach? Wie komme ich hierher? »Ich weiß«, sagte er. »Ich habe ja noch Zeit genug. Gibt es hier irgendwo einen Kirsch? Echten Schwarzwälder Kirsch?«
»Drüben in der Stationswirtschaft«, sagte der Schaffner und sah ihn immer noch an.
Ravic ging langsam über den Perron. Seine Schritte hallten auf dem Zement unter dem offenen Dach der Station. Im Warteraum erster und zweiter Klasse sah er zwei Männer sitzen. Er fühlte ihre Blicke in seinem Rücken. Ein paar Schwalben flogen unter dem Bahnhofsdach entlang. Er tat, als ob er sie beobachtete, und sah aus den Augenwinkeln nach dem Schaffner. Der faltete die Zeitung zusammen. Dann folgte er Ravic. Ravic ging in die Wirtschaft. Der Raum roch nach Bier. Niemand war da. Er verließ die Kneipe wieder. Der Schaffner stand draußen. Er sah Ravic herauskommen und ging in den Warteraum. Ravic ging rascher. Er hatte sich verdächtig gemacht, das wußte er plötzlich. An der Ecke des Gebäudes sah er sich um. Niemand war auf dem Bahnsteig. Eilig ging er zwischen der Gepäckabfertigung und dem leeren Gepäckschalter durch. Er duckte sich unter der Gepäckrampe vorbei, auf der ein paar Milchkannen standen, und kroch unter dem Fenster entlang, hinter dem ein Telegraf tickte, bis er die andere Seite des Gebäudes erreichte. Vorsichtig sah er sich um. Dann überschritt er schnell die Schienen und lief über eine blühende Wiese dem Tannenwald zu. Die staubigen Kronen des Löwenzahns flogen auf, während er durch die Wiese lief. Als er bei den Tannen anlangte, sah er den Schaffner und die beiden Männer auf dem Perron stehen. Der Schaffner deutete auf ihn, und die beiden Männer fingen an zu laufen. Er sprang zurück und drückte sich durch die Tannen. Die nadligen Zweige schlugen ihm ins Gesicht. Er machte einen großen Bogen und stand still, um nicht zu verraten, wo er war. Er hörte die Männer durch die Tannen brechen und lief weiter. Alle Augenblikke lauschte er. Manchmal hörte er nichts; dann war alles nur Warten. Dann wieder knackte es, und er kroch auch weiter, auf der Erde jetzt, um weniger Lärm zu machen. Er ballte die Fäuste und hielt den Atem an, wenn er lauschte. Er spürte wie einen Krampf den Wunsch, aufzuspringen und davonzustürmen — aber damit hätte er verraten, wo er war. Er konnte sich nur bewegen, wenn die andern es auch taten. Er lag in einem Dickicht zwischen blauen Leberblümchen. Hepatica tribola, dachte er. Hepatica tribola, das Leberblümchen. Der Wald schien ohne Ende zu sein. Es knackte jetzt überall. Er spürte, wie ihm der Schweiß aus allen Poren brach, als regne sein Körper. Und plötzlich gaben seine Beine in den Knien nach, als wären die Gelenke weich geworden. Er versuchte aufzustehen, aber er sank ein. Der Boden war wie Morast. Er blickte unter sich. Der Boden war hart. Es waren die Beine. Sie waren aus Gummi. Jetzt hörte er die Verfolger dichter. Sie kamen direkt auf ihn zu. Er riß sich hoch, aber er sank wieder in den Gummiknien ein. Er zerrte an den Beinen, er watete weiter, mühselig, und hörte näher und näher das Knacken hinter sich, dann schien der Himmel auf einmal blau durch das Geäst, eine Lichtung tat sich auf, er wußte, er war verloren, wenn er nicht schnell hinüberlaufen konnte, er zerrte und zerrte und drehte sich um und sah hinter sich ein Gesicht, hämisch lächelnd, Haakes Gesicht, er sank und sank, wehrlos, hilflos, er erstickte, er riß an der einsinkenden Brust mit den Händen, er stöhnte...
Stöhnte er? Wo war er? Er spürte seine Hände an seinem Hals. Sie waren naß. Sein Hals war naß. Seine Brust war naß. Sein Gesicht war naß. Er öffnete die Augen. Er wußte immer noch nicht ganz, wo er war, im Morast des Tannendickichts oder sonstwo. Er wußte noch nichts von Paris. Ein weißer Mond hing an einem Kreuz über einer unbekannten Welt. Ein bleiches Licht hing wie ein gemordeter Heiligenschein hinter einem dunklen Kreuz. Ein weißes, totes Licht schrie lautlos an einem fahlen, eisenfarbenen Himmel. Der volle Mond hinter dem Holzkreuz des Fensters in einem Zimmer im Hotel International in Paris. Ravic richtete sich auf. Was war das nur gewesen? Ein Eisenbahnzug voll Blut, triefend von Blut, rasend durch einen Sommerabend, über blutige Schienen — der hundertmal geträumte Traum, wieder in Deutschland zu sein, umstellt, verfolgt, gehetzt von den Schergen eines blutigen Regimes, das den Mord legalisiert hatte — wie oft war das schon so gewesen! Er starrte in den Mond, der der Welt die Farben aussaugte mit seinem geborgten Licht. Die Träume, voll vom Grauen der Konzentrationslager, voll von starren Gesichtern erschlagener Freunde, voll vom tränenlosen, versteinerten Schmerz der Überlebenden, voll vom schweren Abschied und einem Alleinsein, das schon jenseits aller Klage war — am Tage gelang es, die Barriere zu bilden, den Wall, der höher war als die Augen — in schweren, langen Jahren hatte man ihn langsam gebaut, die Wünsche mit Zynismus erwürgt, die Erinnerungen mit Härte begraben und eingestampft, alles von sich heruntergerissen bis zum Namen, die Gefühle zementiert — und wenn irgendwann trotzdem einmal das blasse Gesicht der Vergangenheit in einer unbewachten Stunde süß, geisterhaft und rufend aufstieg, hatte man es in Alkohol bis zur Besinnungslosigkeit ersäuft . Am Tage — aber in den Nächten war man immer noch ausgeliefert, die Bremsen der Disziplin lösten sich, und der Karren begann zu rutschen, hinter dem Horizont des Bewußtseins stieg es wieder auf, aus Gräbern brach es hervor, der gefrorene Krampf löste sich, die Schatten kamen, das Blut dampfte, die Wunden tropften, und der schwarze Sturm fegte über alle Bollwerke und Barrikaden! Vergessen — das war leicht, solange die Laterne des Willens die Welt beleuchtete; aber wenn sie erlosch und das Geräusch der Würmer hörbar wurde, wenn eine zerstörte Welt wie ein untergegangenes Vineta aus den Fluten emporstieg und wieder lebte — das war etwas anderes. Man konnte sich den schweren, bleiernen Rausch antrinken. Abend für Abend, der auch das alles niederschlug — man konnte die Nächte zu Tagen machen und die Tage zu Nächten — man träumte anders am Tage, nicht in dieser Verlorenheit, hinausgeworfen aus allem, wie nachts. Hatte er es nicht getan? Wie oft war er erst, wenn das Morgengrauen durch die Straßen kroch, ins Hotel zurückgegangen? Oder hatte gewartet, in den Katakomben, mit jedem, der mit ihm trinken wollte, bis dann Morosow kam, aus der Scheherazade, und der mit ihm weitertrank unter den künstlichen Palmen, wo nur die Uhr in dem fensterlosen Raum zeigte, wie weit das Licht draußen war? Saufen im Unterseeboot war das gewesen. Es war einfach, den Kopf zu schütteln und zu finden, man solle vernünftiger sein. Aber verdammt, es war nicht einfach! Ein Leben war ein Leben; es war nichts wert und alles; man konnte es wegwerfen, das war auch einfach. Aber warf man damit nicht auch die Rache weg, und warf man damit nicht auch das weg, was verhöhnt, bespuckt und lächerlich gemacht, täglich und stündlich, ungefähr so hieß wie Glaube an Menschlichkeit und Menschheit, trotz allem? Ein leeres Leben — das warf man nicht weg wie eine leere Patrone! Es war immer noch gut genug, um zu kämpfen, wenn die Zeit dafür kam und wenn es gebraucht werden konnte. Nicht aus persönlichen Gründen, nicht einmal aus Rache, so bluttief Rache auch war, noch aus Egoismus und auch nicht aus altruistischen Gründen, so wichtig es auch sein würde, diese Welt um eine Raddrehung aus Blut und Schutt vorwärts schieben zu helfen — aus nichts anderm zum Schluß, als daß man kämpfte, einfach kämpfte und wartete auf seine Chance zum Kämpfen, solange man noch atmete. Aber das Warten fraß, und vielleicht war es hoffnungslos, und dazu kam noch die geheime Furcht, daß man, wenn es endlich soweit war, schon zu zermürbt sein konnte, zu zerfressen, zu faul vom Warten, zu müde in den Zellen, um noch mitmarschieren zu können! Zerstampfte man darum nicht alles in Vergessenheit, was an den Nerven fressen konnte, löschte man es nicht aus, wirksam und hart, mit Sarkasmus und Ironie, sogar mit Gegensentimentalität, mit der Flucht in einen andern Menschen, in ein fremdes Ich? Bis dann doch wieder einmal die brutale Ohnmacht kam, wenn man dem Schlaf ausgeliefert war und den Gespenstern. —
Der Mond kroch feist unter das Fensterkreuz. Es war kein angenagelter Heiligenschein mehr — er war ein fetter, obszöner Voyeur, der in Kammern und Betten stierte. Ravic war jetzt ganz wach. Es war noch ein ziemlich harmloser Traum gewesen. Er kannte andre. Aber es war lange her, daß er überhaupt geträumt hatte. Er dachte nach — es war fast die ganze Zeit her, seit er nicht mehr allein schlief.
Er fühlte neben das Bett. Die Flasche stand nicht da. Sie stand seit einiger Zeit nicht mehr da. Sie stand auf dem Tisch in der Ecke des Zimmers. Er zögerte einen Moment. Es war nicht nötig zu trinken. Er stand auf und ging auf nackten Füßen zum Tisch. Er fand ein Glas, entkorkte die Flasche und trank. Es war der Rest des alten Calvados. Er hielt das Glas gegen das Fenster. Der Mond machte es zu einem Opal. Schnaps sollte nicht im Licht stehen, dachte er. Weder in der Sonne noch im Mond. Verwundete Soldaten, die eine Nacht im Vollmond draußen gelegen hatten, waren schwächer als nach anderen Nächten. Er schüttelte den Kopf und trank das Glas aus. Dann goß er sich ein neues ein. Als er aufblickte, bemerkte er, daß Joan die Augen geöffnet hatte und ihn ansah. Er hielt inne. Er wußte nicht, ob sie wach war und ihn wirklich sah.
»Ravic«, sagte sie.
»Ja...«
Sie zuckte, als erwache sie jetzt erst. »Ravic«, sagte sie mit einer anderen Stimme. »Ravic — was machst du da?«
»Ich trinke etwas.«
»Aber warum...« Sie richtete sich auf. »Was ist los?« fragte sie verwirrt.
»Was ist passiert?«
»Nichts.«
Sie strich sich die Haare zurück. »Mein Gott«, sagte sie, »habe ich mich erschrocken!«
»Das wollte ich nicht. Ich dachte, du würdest weiterschlafen.«
»Du standest plötzlich so da — in der Ecke — ganz anders.«
»Das tut mir leid, Joan. Ich glaubte nicht, daß du aufwachen würdest.«
»Ich spürte, daß du nicht mehr da warst. Es war kalt. Wie ein Wind. Ein kaltes Erschrecken. Und dann standest du plötzlich da. Ist etwas passiert?«
»Nein, nichts. Gar nichts, Joan. Ich bin aufgewacht und wollte etwas trinken.«
»Gib mir auch einen Schluck.«
Ravic füllte das Glas und ging zum Bett hinüber. »Du siehst jetzt aus wie ein Kind«, sagte er.
Sie nahm das Glas mit beiden Händen und trank. Sie trank langsam und sah ihn über das Glas hinweg an. »Weshalb bist du aufgewacht?« fragte sie.
»Ich weiß nicht. Ich glaube, es war der Mond.«
»Ich hasse den Mond.«
»Du wirst ihn nicht hassen in Antibes.«
Sie setzte das Glas ab. »Fahren wir wirklich?«
»Ja, wir fahren.«
»Fort aus diesem Nebel und Regen?«
»Ja — fort aus diesem verdammten Nebel und Regen.«
»Gib mir noch ein Glas.«
»Willst du nicht schlafen?«
»Nein. Es ist zu schade, zu schlafen. Man versäumt zu viel Leben durch Schlafen. Gib mir ein Glas. Ist es der gute? Wir wollten ihn doch mitnehmen.« »Man soll nichts mitnehmen.« Sie sah ihn an. »Nie?« »Nie.«
Ravic ging zum Fenster und zog die Vorhänge zu. Sie schlossen nur halb. Das Mondlicht fiel durch die Öffnung wie in einen Lichtschacht und teilte das Zimmer in zwei Hälften diffuser Dunkelheit. »Warum kommst du nicht ins Bett?« fragte Joan.
Ravic stand neben dem Sofa auf der anderen Seite der Mondhelle. Er sah Joan undeutlich im Bett sitzen. Ihr Haar hing mattglänzend über ihren Nacken. Sie war nackt. Zwischen ihr und ihm strömte das kalte, nicht irgendwohin strömende, nur in sich selbst strömende Licht wie zwischen zwei dunklen Ufern. In das Viereck des Zimmers, voll vom warmen Geruch des Schlafes, strömte es hinein einen endlosen Weg durch schwarzen, luftlosen Äther, gebrochenes Licht, aufgeprallt auf einen fernen, toten Stern und magisch verwandelt aus warmem Sonnenglanz in das bleierne, kalte Strömen — es strömte und strömte und stand doch still und füllte das Zimmer nie.
»Warum kommst du nicht?« fragte Joan.
Ravic ging durch das Zimmer, durch das Dunkel und das Licht und wieder durch das Dunkel, es waren wenige Schritte, aber es schien ihm weit.
»Hast du die Flasche mitgebracht?«
»Ja.«
»Willst du das Glas? Wie spät ist es?«
Ravic sah auf das kleine Zifferblatt der Uhr mit den phosphoreszierenden Zahlen. »Ungefähr fünf Uhr.«
»Fünf. Es könnte auch drei sein. Oder sieben. Nachts steht die Zeit still. Nur die Uhren gehen.«
»Ja. Und trotzdem geschieht alles nachts. Oder deshalb.«
»Was?«
»Das, was am Tage dann sichtbar wird.«
»Mach mir keine Angst. Du meinst, eigentlich schon vorher, wenn man schläft ?«
»Ja.«
Sie nahm ihm das Glas aus der Hand und trank. Sie war sehr schön, und er fühlte, daß er sie liebte. Sie war nicht schön wie eine Statue oder wie ein Bild; sie war schön wie eine Wiese, über die der Wind weht. Es war das Leben, das in ihr klopfte und das sie geheimnisvoll aus dem Zusammenprall zweier Zellen, aus einem Nichts in einem Schoß, so geformt hatte, wie sie war. Es war dasselbe, unbegreifliche Rätsel, daß in einem winzigen Samenkorn schon der ganze Baum war, versteinert, mikroskopisch, aber da, vorher bestimmt, Wipfel schon und Frucht und schon der Blütenschauer aller Aprilmorgen in ihm — und daß aus einer Liebesnacht und einem bißchen Schleim, der sich traf, ein Gesicht wurde, Schultern und Augen, gerade diese Augen und Schultern, und daß sie da waren, irgendwo verstreut, unter Millionen von Menschen, irgendwo auf der Welt, und dann stand man in einer Novembernacht am Pont de l’Alma in Paris, und sie kamen auf einen zu...
»Warum nachts?« fragte Joan.
»Weil«, sagte Ravic, »komm nahe zu mir, Geliebte, wiedergeschenkt aus den Abgründen des Schlafes, zurückgekommen von den Mondwiesen des Ungefährs — weil die Nacht und der Schlaf Verräter sind. Weißt du noch, wie wir einschliefen, in dieser Nacht, einer dicht neben dem andern, wir waren uns so nahe, wie Menschen sich nur nahe sein können. Unsere Stirnen, unsere Haut, unsere Gedanken, unser Atem berührten sich, vermischten sich — und dann langsam begann der Schlaf zwischen uns zu sickern, grau, farblos, ein paar Flecken erst, dann mehr, wie Aussatz fiel es auf unsere Gedanken, in unser Blut, es tropfte und tropfte aus dem Unbewußten Blindheit in uns hinein — und dann plötzlich war jeder von uns allein, wir trieben einsam irgendwo herum auf dunklen Kanälen, ausgeliefert an unbekannte Mächte und jede gestaltlose Drohung. Als ich aufwachte, sah ich dich. Du schliefst. Du warst immer noch weit fort. Du warst mir gänzlich entglitten. Du wußtest nichts mehr von mir. Du warst irgendwo, wohin ich dir nicht folgen kann.« Er küßte ihre Hand.
»Wie kann Liebe vollkommen sein, wenn ich dich jede Nacht schon an den Schlaf verliere?«
»Ich lag dicht bei dir. Neben dir. In deinem Arm.«
»Du warst in einem unbekannten Land. Du warst neben mir, aber du warst weiter fort, als wenn du auf dem Sirius gewesen wärest. Wenn du am Tage fort bist, so ist das nichts — ich weiß alles über den Tag. Aber wer weiß etwas über die Nacht?«
»Ich war bei dir.«
»Du warst nicht bei mir. Du lagst nur neben mir. Wer weiß je, wie er zurückkommt aus dem Land ohne Kontrolle? Verwandelt, ohne es zu wissen.«
»Du auch.«
»Ja, ich auch«, sagte Ravic. »Und nun gib mir das Glas wieder. Während ich Unsinn rede, trinkst du.«
Sie reichte ihm das Glas hinüber. »Gut, daß du aufgewacht bist, Ravic. Gesegnet sei der Mond. Ohne ihn hätten wir geschlafen und nichts voneinander gewußt. Oder in einen von uns wäre der Keim des Abschieds geworfen worden, während wir wehrlos waren. Und er wäre langsam und unsichtbar gewachsen und gewachsen, bis er eines Tages durchgebrochen wäre.«
Sie lachte leise. Ravic sah sie an. »Du nimmst das nicht besonders ernst, wie?«
»Nein. Du?«
»Nein. Aber es ist etwas daran. Deshalb nehmen wir es nicht ernst. Darin ist der Mensch groß.«
Sie lachte wieder. »Ich habe keine Angst davor. Ich vertraue auf unsere Körper. Die wissen besser, was sie wollen, als das, was in unserem Kopf nachts herumspukt.«
Ravic trank sein Glas aus. »Gut«, sagte er. »Auch richtig.«
»Wie wäre es, wenn wir diese Nacht nicht mehr schliefen?«
Ravic hob die Flasche gegen den Silberschacht des Mondlichts. Sie war noch ein Drittel voll. »Nicht mehr viel«, sagte er. »Aber wir können es versuchen.«
Er stellte sie auf den Tisch neben dem Bett. Dann drehte er sich um und sah Joan an. »Du siehst aus, wie alle Wünsche eines Mannes und noch einer mehr, den er nicht gewußt hat.«
»Gut«, sagte sie. »Wir wollen jede Nacht aufwachen, Ravic. Nachts bist du anders als am Tage.«
»Besser?«
»Anders. Nachts bist du überraschend. Du kommst immer irgendwo her, von wo man nichts weiß.« »Tagsüber nicht?« »Nicht immer. Manchmal.« »Schönes Bekenntnis«, sagte Ravic. »Vor ein paar Wochen hättest du mir das nicht gesagt.« »Nein. Damals kannte ich dich auch noch weniger.« Er blickte auf. Es war nicht der Schatten von Doppeldeutigkeit in ihrem Gesicht. Sie meinte es einfach so und fand es ganz natürlich. Sie wollte ihn weder verletzen noch etwas Besonderes sagen. »Das kann gut werden«, sagte er.
»Warum?«
»In ein paar weiteren Wochen wirst du mich noch besser kennen, und ich werde noch weniger überraschend sein.« »Genau wie ich«, sagte Joan und lachte. »Du nicht.« — »Warum nicht?« »Das hat seinen Grund in fünfzigtausend Jahren Biologie. Die Liebe macht die Frau scharfsinnig und den Mann konfus.« »Liebst du mich?« »Ja.« »Du sagst das viel zuwenig.« Sie dehnte sich. Wie eine satte Katze, dachte Ravic. Wie eine satte Katze, die ihres Opfers sicher ist. »Manchmal könnte ich dich aus dem Fenster werfen«, sagte er.
»Warum tust du es nicht?«
Er sah sie an.
»Könntest du es?« fragte sie.
Er antwortete nicht. Sie legte sich in die Kissen zurück. »Jemand zerstören, weil man ihn liebt? Ihn töten, weil man ihn zu sehr liebt?«
Ravic griff nach der Flasche. »Mein Gott«, sagte er. »Womit habe ich das verdient? Nachts aufzuwachen, um so was anhören zu müssen?«
»Ist es nicht wahr?«
»Ja. Für drittklassige Poeten und Frauen, denen es nicht passiert.«
»Für die, die es tun, auch.«
»Meinetwegen.«
»Könntest du es?«
»Joan«, sagte Ravic. »Laß dieses Geschwätz. Ich tauge nicht für solche Spekulationen. Ich habe schon zu viele Menschen getötet. Als Amateur und als Professionalist. Als Soldat und als Arzt. Das gibt einem Verachtung, Gleichgültigkeit und Respekt für das Leben. Mit Töten löscht man nicht viel aus. Wer oft getötet hat, tötet nicht mehr aus Liebe. Man macht den Tod dadurch lächerlich und klein. Und der Tod ist nie klein und lächerlich. Er geht Frauen auch nichts an; er ist eine Sache unter Männern.«
Er schwieg eine Zeitlang.
»Was reden wir da?« sagte er dann und beugte sich über sie. »Bist du nicht mein Glück ohne Wurzel? Mein Wolken-und Scheinwerferglück? Komm, laß dich küssen! Nie war das Leben so kostbar wie heute — wo es so wenig gilt.«