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Das Licht. Es war immer wieder das Licht. Es kam wie ein weißer Schaum vom Horizont hereingeflogen, zwischen dem tiefen Blau des Meeres und dem helleren des Himmels; es kam herangeflogen, atemlos und tiefster Atem zugleich, Leuchten und Reflex in einem, einfaches uraltes Glück, so hell zu sein, so zu schimmern, so ohne alle Substanz zu schweben...

Wie es hinter ihrem Kopf steht, dachte Ravic. Wie eine Glorie ohne Farbe! Weite ohne Perspektive. Wie es über die Schultern fließt! Milch aus Kanaan, Seide aus Strahlen gesponnen! Niemand ist nackt in diesem Licht. Die Haut fängt es, strahlt es zurück, wie die Felsen das Meer draußen, Lichtschaum, durchsichtige Verwirrung, dünnstes Kleid aus hellstem Nebel...

»Wie lange sind wir jetzt hier?« fragte Joan.

»Acht Tage.«

»Es ist wie acht Jahre, findest du nicht?«

»Nein«, sagte Ravic. »Es ist wie acht Stunden. Acht Stunden und dreitausend Jahre. Da, wo du jetzt stehst, stand genauso, vor dreitausend Jahren, eine junge Etruskerin — und der Wind kam ebenso von Afrika herüber und jagte das Licht vor sich her über das Meer.« Joan hockte sich neben ihn auf den Felsen. »Wann müssen wir wieder zurück nach Paris?« »Das wird sich heute abend im Kasino zeigen.« »Haben wir gewonnen?«

»Nicht genug.«

»Du spielst, als ob du immer gespielt hättest. Vielleicht hast du. Ich weiß ja nichts von dir. Wie kam es, daß der Croupier dich begrüßte wie einen reichen Munitionsfabrikanten?«

»Er verwechselte mich mit einem Munitionsfabrikanten.«

»Das ist nicht wahr. Du kanntest ihn doch auch wieder.«

»Es war höflicher, so zu tun.«

»Wann warst du das letztemal hier?«

»Ich weiß es nicht. Irgendwann vor vielen Jahren. Wie braun du schon bist! Du solltest immer braun sein.«

»Dann müßte ich immer hier leben.«

»Möchtest du das?«

»Nicht immer. Aber ich möchte immer so leben, wie ich hier lebe.«

Sie warf ihr Haar zurück über die Schultern. »Du findest das sicher sehr oberflächlich — wie?«

»Nein«, sagte Ravic.

Sie lächelte und drehte sich zu ihm herum. »Ich weiß, daß es oberflächlich ist, Liebster, aber, mein Gott, wir haben viel zuwenig Oberflächlichkeit in unserem verdammten Leben gehabt! Krieg, Hunger und Umsturz haben wir genug gehabt, und Revolutionen und Inflationen — aber nie ein bißchen Sicherheit und Leichtigkeit und Ruhe und Zeit. Und nun sagst du noch, daß wieder ein Krieg kommen wird. Unsere Eltern haben es wahrhaftig einfacher gehabt als wir, Ravic.« »Ja.« »Man hat nur das eine, kurze Leben, und es geht dahin...«

Sie legte die Hände auf den warmen Felsen. »Ich bin nicht viel wert, Ravic. Ich mache mir nichts daraus, in einer historischen Zeit zu leben. Ich will glücklich sein, und es soll nicht alles so schwer und schwierig sein. Weiter nichts.«

»Wer möchte das nicht, Joan?«

»Du auch?«

»Natürlich.«

Dieses Blau, dachte Ravic. Dieses fast farblose Blau am Horizont, wo der Himmel in die See taucht, und dann dieser Sturm, tiefer und tiefer das Meer und den Zenit hinauf, bis in diese Augen, die hier blauer sind als je in Paris.

»Ich wollte, wir könnten es«, sagte Joan.

»Wir tun es ja — im Augenblick.«

»Ja, im Augenblick; für ein paar Tage; aber dann gehen wir wieder nach Paris zurück; in diesen Nachtklub, in dem sich nichts ändert; in dieses Leben in diesem schmutzigen Hotel...«

»Du übertreibst. Dein Hotel ist nicht schmutzig. Meines ist ziemlich schmutzig, bis auf mein Zimmer.«

Sie stützte die Arme auf. Der Wind flog durch ihr Haar. »Morosow sagt, du wärest ein wunderbarer Arzt. Schade, daß das mit dir so ist. Du könntest sonst viel Geld verdienen. Gerade als Chirurg. Professor Durant...«

»Wie kommst du denn zu dem?«

»Er kommt manchmal in die Scheherazade. Rene, der Oberkellner, sagt, unter zehntausend Frank rührt er keinen Finger.«

»René ist gut informiert.«

»Und er macht manchmal zwei, drei Operationen an einem Tag. Er hat ein herrliches Haus, einen Packard...«

Sonderbar, dachte Ravic. Das Gesicht verändert sich nicht. Es ist eher noch hinreißender als vorher, während sie diesen jahrtausendealten Weiberunsinn daherredet. Sie sieht aus wie eine seeäugige Amazone, während sie mit dem Brutinstinkt Bankiersideale predigt. Aber hat sie nicht recht? Hat so viel Schönheit nicht immer recht? Und alle Entschuldigungen der Welt?

Er sah das Motorboot in einer Welle Gischt herankommen; er rührte sich nicht; er wußte, weshalb es kam. »Da kommen deine Freunde«, sagte er.

»Wozu?« Joan hatte das Boot längst gesehen. — »Wieso meine Freunde?« fragte sie. »Es sind doch viel eher deine Freunde. Sie haben dich früher gekannt als mich.«

»Zehn Minuten früher.«

»Jedenfalls früher.«

Ravic lachte. »Gut, Joan.«

»Ich brauche nicht zu gehen. Das ist ganz einfach. Ich werde nicht gehen.«

»Natürlich nicht.«

Ravic streckte sich auf dem Felsen aus und schloß die Augen. Die Sonne wurde sofort eine warme, goldene Decke. Er wußte, was kommen würde.

»Wir sind nicht besonders höflich«, sagte Joan nach einer Weile. — »Das sind Verliebte nie.«

»Die beiden sind unseretwegen gekommen. Sie wollen uns abholen. Wenn wir nicht fahren wollen, könntest du wenigstens hinuntergehen und es ihnen sagen.«

»Gut.« Ravic öffnete halb die Augen. »Machen wir es kürzer. Geh du hinunter und sage, ich muß arbeiten, und fahre mit. Genau wie gestern.«

»Arbeiten — das klingt doch merkwürdig. Wer arbeitet hier? Warum fährst du nicht einfach mit? Die beiden mögen dich sehr gern. Sie waren gestern schon enttäuscht, daß du nicht kamst.«

»O Gott.« Ravic öffnete die Augen ganz. »Wozu lieben alle Frauen diese idiotischen Konversationen? Du möchtest fahren, ich habe kein Boot, das Leben ist kurz, wir sind nur ein paar Tage hier, wozu soll ich mit dir Generosität spielen und dich zwingen zu tun, was du ohnehin tun wirst, nur damit du dich besser fühlst?«

»Du brauchst mich nicht zu zwingen. Ich kann es selbst tun.«

Sie sah ihn an. Ihre Augen waren von derselben strahlenden Intensität; nur ihr Mund war eine Sekunde verzogen — es war ein Ausdruck, der so rasch das Gesicht überflog, daß Ravic glauben konnte, sich geirrt zu haben. Aber er wußte, er hatte sich nicht geirrt.

Das Meer schlug klatschend gegen die Felsen am Landungssteg. Es spritzte hoch, und der Wind trug einen Schwall glitzernden Wassers herüber. Ravic spürte ihn auf der Haut wie ein kurzes Frösteln. »Das war deine Welle«, sagte Joan. »Wie in der Geschichte, die du mir in Paris erzählt hast.« »Hast du dir das gemerkt?«

»Ja. Aber du bist kein Felsen. Du bist ein Betonblock.«

Sie ging zum Bootshafen hinunter, und auf ihren schönen Schultern lag der ganze Himmel. Es schien, als trüge sie ihn. Sie hatte ihre Entschuldigung. Sie würde in dem weißen Boot sitzen, ihr Haar würde in dem Wind fliegen, und ich bin ein Idiot, daß ich nicht mitfahre, dachte Ravic. Aber ich tauge noch nicht für diese Rolle. Auch das ein törichter Hochmut aus vergessenen Zeiten, eine Don Quichotterie; doch was bleibt uns, als das? Blühende Feigenbäume in den Mondnächten, die Philosophie Senecas’ und Sokrates’, ein Violinkonzert Schumanns und das frühere Wissen als andere um den Verlust.

Er hörte die Stimme Joans von unten. Dann hörte er das dumpfe Donnern des Motors. Er richtete sich auf. Sie würde im Heck sitzen. Irgendwo draußen im Meer lag eine Insel mit einem Kloster. Manchmal krähten Hähne von dort herüber. — Wie rot die Sonne durch die Augenlider schien! Die sanften Wiesen der Kindheit, rot von den Blumen erwartungsvollen Blutes. Das alte Wiegenlied des Meeres. Die Glocken von Vineta. Das zauberhafte Glück des Nichtdenkens.

Er schlief rasch ein.

Nachmittags holte er den Wagen aus der Garage. Es war ein Talbot, den Morosow in Paris für ihn gemietet hatte. Er war mit Joan darin gekommen.

Ravic fuhr die Küste entlang. Der Tag war sehr klar und fast überhell. Er fuhr die mittlere Corniche nach Nizza und Monte Carlo und dann nach Ville-Franche. Er liebte den alten, kleinen Hafen und saß eine Zeitlang vor einem der Bistros am Kai. Er schlenderte durch die Anlagen vor dem Casino in Monte Carlo und über den Selbstmörderfriedhof hoch über dem Meer; er suchte ein Grab und stand lange davor und lächelte. Er fuhr durch die engen Straßen des alten Nizza und über die Plätze mit den Monumenten in der neuen Stadt; dann fuhr er zurück nach Cannes und über Cannes hinaus bis dahin, wo die Felsen rot wurden und die Fischerdörfer biblische Namen bekamen.

Er vergaß Joan. Er vergaß sich selbst. Er öffnete sich einfach dem klaren Tag, diesem Dreiklang aus Sonne, Meer und Land, der eine Küste blühen machte, während die Bergwege darüber noch voll Schnee lagen. Über Frankreich hing der Regen, über Europa brauste der Sturm — aber diese schmale Küste schien von all dem nichts zu wissen. Sie schien vergessen zu sein; das Leben hatte noch einen anderen Puls hier; und während das Land hinter ihr schon grau vom Nebel der Not, der Vorahnung und der Gefahr, schien hier die Sonne, und sie war heiter, und in ihrem Leuchten sammelte sich der letzte Schaum einer sterbenden Welt.

Ein bißchen Motten- und Mückentanz um das letzte Licht — belanglos wie jeder Mückentanz; töricht wie die leichte Musik von den Cafés her — eine überflüssig gewordene Welt, wie Schmetterlinge im Oktober, den Frost schon in den kleinen Sommerherzen, so tanzte, schwätzte, flirtete, liebte, betrog und gaukelte das noch ein wenig, bevor die Sensen und die großen Winde kamen.

Ravic wendete den Wagen in St. Raphael. Der kleine, viereckige Hafen war voll von Segeln und Motorbooten. Die Cafés am Kai hatten bunte Sonnenschirme herausgestellt. Braungebrannte Frauen hockten an den Tischen. Wie man das wieder kannte, dachte Ravic. Das leichte zärtliche Bild des Lebens. Die heitere Versuchung, das Loslassen, das Spiel — wie man das wieder kannte, mochte es auch noch so lange her sein. Man hatte es auch einmal gelebt, das Falterdasein, und geglaubt, es sei genug. Der Wagen schoß aus der Kehre heraus über die Straße, in den glühenden Sonnenuntergang hinein.

Er kam zum Hotel und fand eine Nachricht von Joan. Sie hatte angerufen und hinterlassen, sie käme nicht zum Essen zurück. Er ging zum Eden Roc hinunter. Es waren wenige Leute zum Diner da. Die meisten waren in Juan les Pins und Cannes. Er setzte sich an die Brüstung der Terrasse, die wie ein Schiffsdeck auf die Felsen gebaut war. Unten schäumte die Brandung. Die Wogen kamen dunkel-rot und grünblau aus dem Sonnenuntergang, wechselten zu hellerem Goldrot und Orange und nahmen dann die Dämmerung auf ihren schlanken Rücken und zerschellten sie zu farbigem Zwielichtschaum an den Felsen.

Ravic saß lange auf der Terrasse. Er fühlte sich kühl und tief allein. Er war klar und sah ohne jede Emotion, was kommen würde. Er wußte, daß er es noch für eine Weile verhindern konnte; es gab Tricks und Schachzüge. Er kannte sie, und er wußte, daß er sie nicht gebrauchen würde. Es war schon zu weit dafür. Tricks waren etwas für kleine Affären; hier gab es nur eines: es zu bestehen, es ehrlich zu bestehen, ohne sich zu belügen und ohne sich zu drücken.

Ravic schob das Glas mit dem klaren, leichten Wein der Provence gegen das Licht. Eine kühle Nacht, eine meerumrauschte Terrasse, der Himmel voll von dem Gelächter des Sonnenabschieds und den Glocken der fernen Sterne — und kühl in mir ein Scheinwerfer, dachte er, der hineingreift in die stummen Monate der Zukunft und über sie gleitet und sie wieder im Dunkel läßt, und ich weiß es, schmerzlos noch, aber ich weiß auch, es wird nicht schmerzlos bleiben, und mein Leben ist wieder einmal wie ein Glas in meiner Hand, durchsichtig, voll vom fremden Wein, der nicht darin bleiben kann, weil er abgestanden werden würde, abgestandener Essig verdorbener Lust.

Es würde nicht bleiben. Es war viel zuviel Anfang in diesem anderen Leben, als daß es schon bleiben konnte.

Unschuldig und ohne Rücksicht, wie eine Pflanze zum Licht, wandte es sich der Versuchung und der bunten Vielfalt eines leichteren Daseins zu. Es wollte Zukunft — und alles, was er ihm geben konnte, war etwas schäbige Gegenwart. Noch war nichts geschehen. Das war auch nicht nötig. Alles entschied sich immer lange vorher. Man wußte es nur nicht und hielt nur das spektakulöse Ende für die Entscheidung, die längst, Monate vorher, lautlos gefallen war.

Ravic trank sein Glas aus. Der leichte Wein schien ihm anders zu schmecken als vorher. Er füllte das Glas noch einmal und trank wieder. Der Wein hatte wieder den alten, flockig hellen Geschmack.

Er stand auf und fuhr nach Cannes zum Casino.

Er spielte ruhig und mit kleinen Einsätzen. Er spürte immer noch die Kühle in sich und wußte, daß er gewinnen konnte, solange sie anhielt. Er spielte die letzten Zwölf, das Quadrat der Siebenundzwanzig und die Siebenundzwanzig. Nach einer Stunde hatte er dreitausend Frank gewonnen. Er verdoppelte die Einsätze auf das Quadrat und spielte die Vier dazu.

Er sah Joan, als sie hereinkam. Sie war umgezogen und mußte gleich, nachdem er das Hotel verlassen hatte, zurückgekommen sein. Sie war mit den beiden Männern, die sie im Motorboot abgeholt hatten. Er kannte sie als Le Clerq, einen Belgier, und Nugent, einen Amerikaner. Joan sah sehr schön aus. Sie trug ein weißes Abendkleid mit großen grauen Blumen. Er hatte es für sie am Tage vor der Abreise gekauft. Sie hatte einen Schrei ausgestoßen und sich darauf gestürzt. »Woher weißt du so viel von Abendkleidern?« hatte sie gefragt. »Es ist viel besser als meines.« Und mit einem zweiten Blick: »Auch teurer.« Vogel, dachte er, noch auf meinen Ästen, aber die Flügel schon bereit zum Fliegen.

Der Croupier schob ihm eine Anzahl Chips zu. Das Quadrat hatte gewonnen. Er zog den Gewinn ein und ließ den Einsatz stehen. Joan ging zu den Bakkarat-Tischen. Er wußte nicht, ob sie ihn gesehen hatte. Einige Leute, die nicht spielten, sahen ihr nach. Sie ging immer, als ginge sie gegen einen leichten Wind und als wäre nichts da, wohin sie wollte. Sie wandte den Kopf und sagte etwas zu Nugent — und Ravic fühlte plötzlich in seinen Händen den Drang, die Chips wegzustoßen, sich selbst wegzustoßen von dem grünen Tisch, aufzustehen, Joan mitzunehmen, rasch durch die Leute, Türen, fort auf eine Insel, diese Insel am Horizont von Antibes vielleicht, fort von allem, um sie abzuschließen und zu behalten.

Er setzte neu. Die Sieben war herausgekommen. Inseln isolieren nicht. Und die Unruhe des Herzens war nicht zu begrenzen; man verlor am leichtesten, was man im Arme hielt — nie, was man verließ. Die Kugel rollte langsam. Die Zwölf.

Er setzte wieder.

Als er aufblickte, blickte er gerade in Joans Augen. Sie stand an der anderen Seite des Tisches und sah ihn an. Er nickte ihr zu und lächelte. Sie starrte ihn an. Er deutete auf das Roulette und zuckte die Achseln. Die Neunzehn kam heraus.

Er machte seine Einsätze und sah wieder auf. Joan war nicht mehr da. Er bezwang sich und blieb sitzen. Er nahm eine Zigarette aus dem Pack, das neben ihm lag. Einer der Diener gab ihm Feuer. Es war ein kahlköpfiger Mann mit einem Bauch, in Uniform. »Andere Zeiten heute«, sagte er.

»Ja«, sagte Ravic. Er kannte den Mann nicht.

»War anders neunundzwanzig...«

»Ja...«

Ravic wußte nicht mehr, ob er 1929 in Cannes gewesen war oder ob der Mann nur so daherredete. Er sah, daß die Vier herausgekommen war; ohne daß er es gesehen hatte, und versuchte, sich mehr zu konzentrieren. Aber es erschien ihm plötzlich albern, daß er spielte mit ein paar Frank, um einige Tage länger bleiben zu können. Wozu das schon? Wozu war er überhaupt hierhergekommen? Es war eine verdammte Schwäche, weiter nichts. Das fraß langsam, lautlos sich ein, und man merkte es erst, wenn man sich anspannen wollte und zerbrach. Morosow hatte recht gehabt. Der beste Weg, eine Frau zu verlieren, war, ihr ein Leben zu zeigen, das man ihr nur ein paar Tage bieten konnte. Sie würde versuchen, es wiederzubekommen — aber mit jemand anderem, der dazu fähig war, es ihr dauernd zu verschaffen. Ich werde ihr sagen, daß es aufhören muß, dachte er. Ich werde mich in Paris von ihr trennen, bevor es zu spät ist.

Er überlegte, ob er an einem anderen Tisch weiterspielen sollte. Aber er hatte plötzlich keine Lust mehr. Man sollte nicht etwas im Kleinen tun, was man einmal im Großen getan hatte. Er sah sich um. Joan war nicht zu sehen. Er ging in die Bar und trank einen Kognak. Dann ging er zum Parkplatz, um den Wagen zu holen und eine Stunde herumzufahren.

Als er den Wagen anließ, sah er Joan kommen. Er stieg aus. Sie kam rasch heran. »Wolltest du ohne mich nach Hause fahren?« fragte sie.

»Ich wollte eine Stunde durch die Berge fahren und zurückkommen.«

»Du lügst! Du wolltest nicht wiederkommen! Du wolltest mich hierlassen mit diesen Idioten!«

»Joan«, sagte Ravic. »Du wirst gleich behaupten, daß ich schuld bin, daß du mit diesen Idioten zusammen bist.«

»Das bist du auch! Ich bin doch nur aus Ärger ins Boot gegangen. Weshalb warst du nicht im Hotel, als ich zurückkam?«

»Du warst doch mit deinen Idioten zum Essen verabredet.« Sie stutzte eine Sekunde. »Das habe ich nur getan, weil du nicht da warst, als ich zurückkam.«

»Gut, Joan«, sagte Ravic. »Wir wollen nicht weiter darüber reden. Hast du Spaß gehabt?«

»Nein.«

Sie stand vor ihm, atmend, erregt, heftig, im blauen Dunkel der weichen Nacht; der Mond war in ihrem Haar, und ihre Lippen waren so dunkelrot in dem bleichen, kühnen Gesicht, als wären sie fast schwarz. Es war Februar 1939, und in Paris würde das Unabwendbare beginnen, langsam, kriechend, mit all den kleinen Lügen und Demütigungen und Zwisten; er wollte sie verlassen, bevor es kam, und noch waren sie hier, und es waren nicht mehr viele Tage.

»Wo willst du hinfahren?« fragte sie.

»Nirgendwohin. Nur so herum.«

»Ich fahre mit dir.«

»Was werden deine Idioten denken?«

»Nichts. Ich habe mich schon verabschiedet. Habe gesagt, daß du auf mich wartest.«

»Nicht schlecht«, sagte Ravic. »Du bist ein Kind mit Überlegung. Warte, bis ich das Verdeck zugemacht habe.«

»Laß es offen. Mein Mantel ist warm genug. Und laß uns langsam fahren. Vorbei an all den Cafés, in denen Leute sitzen, die nichts zu tun haben, als glücklich zu sein und keine Argumente zu haben.«

Sie glitt in den Sitz neben ihn und küßte ihn. »Ich bin zum erstenmal an der Riviera, Ravic«, sagte sie. »Habe Erbarmen! Ich bin zum erstenmal mit dir wirklich zusammen, und die Nächte sind nicht mehr kalt, und ich bin glücklich.«

Er fuhr den Wagen aus dem dichten Verkehr heraus, am Carlton Hotel vorbei und in die Richtung nach Juan les Pins. »Zum ersten Male«, wiederholte sie. »Zum ersten Male, Ravic. Und ich weiß alles, was du antworten könntest, und es hat nichts damit zu tun.« Sie lehnte sich an ihn und legte den Kopf an seine Schulter. »Vergiß, was heute war! Denk nicht einmal mehr darüber nach! Du fährst wunderbar Auto, weißt du das? Was du da eben gemacht hast, war großartig. Die Idioten haben es auch gesagt. Sie haben gestern gesehen, was du mit dem Wagen anstellen kannst. Du bist unheimlich. Du hast keine Vergangenheit. Man weiß nichts von dir. Ich weiß schon hundertmal mehr aus dem Leben der Idioten als aus deinem. Glaubst du, daß ich irgendwo einen Calvados bekommen kann? Nach all den Aufregungen heute nacht brauche ich einen. Es ist schwer, mit dir zu leben.«

Der Wagen fuhr die Straße entlang wie ein niedrig fliegender Vogel. »Ist das zu schnell?« fragte Ravic.

»Nein. Fahr schneller. So, daß es durch und durch geht wie der Wind durch einen Baum. Wie die Nacht saust. Ich bin durchlöchert von Liebe. Ich kann durch mich hindurchsehen vor Liebe. Ich liebe dich so, daß mein Herz sich ausbreitet wie eine Frau in einem Kornfeld vor einem Mann, der sie ansieht. Mein Herz will sich auf die Erde legen. Auf eine Wiese. Es will liegen und fliegen. Es ist verrückt. Es liebt dich, wenn du Auto fährst. Laß uns nie zurückgehen nach Paris. Laß uns einen Juwelenkoffer stehlen oder ein Bankdepot und diesen Wagen und nie wiederkommen.«

Ravic hielt vor einer kleinen Bar. Das Grollen des Motors schwieg, und weich und sehr weither kam plötzlich das tiefe Atemholen des Meeres. »Komm«, sagte er. »Hier gibt es deinen Calvados. Wieviel hast du schon gehabt?«

»Zuviel. Deinetwegen. Außerdem konnte ich auf einmal das Gerede der Idioten nicht mehr anhören.«

»Warum bist du dann nicht zu mir gekommen?«

»Ich bin zu dir gekommen.«

»Ja, als du dachtest, ich ginge fort. Hast du etwas zu essen gehabt?«

»Nicht viel. Ich bin hungrig. Hast du gewonnen?«

»Ja.«

»Dann laß uns ins teuerste Restaurant fahren und Kaviar essen und Champagner trinken und so sein wie unsere Eltern vor all diesen Kriegen, sorglos und sentimental und ohne Angst, hemmungslos und voll schlechten Geschmacks, mit Tränen, Mond, Oleander, Geigen, Meer und Liebe! Ich will glauben, daß wir Kinder haben werden und einen Park und ein Haus und du einen Paß und eine Zukunft, und ich habe eine große Karriere deinetwegen aufgegeben, und wir lieben uns noch nach zwanzig Jahren und sind eifersüchtig, und du findest immer noch, daß ich schön bin, und ich kann nicht schlafen, wenn du eine Nacht nicht im Hause bist und...«

Er sah die Tränen über ihr Gesicht strömen. Sie lächelte.

»Das gehört alles dazu, Liebster — alles zu dem schlechten Geschmack.«

»Komm«, sagte er. »Wir fahren zum Château Madrid. Das liegt in den Bergen, und da sind russische Zigeuner, und du sollst alles haben, was du willst.«

Es war früher Morgen. Das Meer tief unten war grau und ohne Wellen. Der Himmel hatte keine Wolken und keine Farbe. Am Horizont hob sich ein schmaler Silberstreifen aus dem Wasser. Es war so still, daß sie sich atmen hörten. Sie waren die letzten Gäste gewesen. Die Zigeuner waren vor ihnen in einem alten Ford die Serpentinen hinuntergefahren. Die Kellner in Citroëns. Der Koch zum Einkaufen in einem sechssitzigen Delahaye aus dem Jahre 1929.

»Das ist schon der Tag«, sagte Ravic. »Irgendwo auf der anderen Seite ist es jetzt immer noch Nacht. Einmal wird es Flugzeuge geben, mit denen man sie einholen kann. Sie werden so schnell sein, wie die Erde sich dreht. Wenn du mich dann um vier Uhr nachts liebst, können wir es für immer vier Uhr sein lassen; wir fliegen einfach mit der Zeit um die Erde, und die Stunde steht still.«

Joan lehnte sich an ihn. »Ich kann mir nicht helfen. Es ist schön! Es ist hinreißend schön. Du kannst lachen...«

»Es ist schön, Joan.«

Sie sah ihn an. »Wo ist das Flugzeug, von dem du sprachst? Wir werden alt sein, Liebster, wenn es erfunden wird. Und ich will nicht alt werden. Du?«

»Ja.«

»Wirklich?«

»So alt wie möglich.«

»Warum?«

»Ich will sehen, was aus diesem Planeten noch wird.«

»Ich will nicht alt werden.«

»Du wirst nicht alt werden. Das Leben wird über dein Gesicht hingehen, das wird alles sein, und es wird schöner werden. Alt ist man nur, wenn man nicht mehr fühlt.«

»Nein, wenn man nicht mehr liebt.«

Ravic antwortete nicht. Verlassen, dachte er. Dich verlassen! Was habe ich da vor ein paar Stunden in Cannes nur gedacht?

Sie rührte sich in seinem Arm. »Jetzt ist das Fest vorbei, und ich gehe nach Hause mit dir, und wir schlafen zusammen. Wie schön das alles ist! Wie schön ist es, wenn man ganz lebt und nicht nur mit einem Stück von sich. Wenn man voll ist bis zum Rande und still, weil es nichts mehr gibt, das hinein kann. Komm, laß uns nach Hause fahren, in unser geborgtes Zuhause, in dieses weiße Hotel, das aussieht wie ein Gartenhaus.«

Der Wagen glitt fast ohne Gas die Serpentinen hinunter. Es wurde langsam heller. Die Erde roch nach Tau. Ravic löschte die Scheinwerfer aus. Als sie Corniche passierten, kamen ihnen Wagen mit Blumen und Gemüse entgegen. Sie waren auf dem Wege nach Nizza. Später überholten sie eine Kompanie Spahis. Sie hörten die Pferde trappeln durch das Summen des Motors. Es klang hell und beinahe künstlich auf der Makadamstraße. Die Gesichter der Reiter waren dunkel unter den Burnussen.

Ravic sah Joan an. Sie lächelte ihm zu. Ihr Gesicht war blaß und verwacht und fragiler als sonst. Es schien ihm schöner als jemals vorher in seiner zärtlichen Müdigkeit, an diesem zauberhaften, dunkelstillen Morgen, vor dem das Gestern weit versunken war und der noch keine Stunde hatte; er schwebte und war noch ohne Zeit, voll Gelassenheit und ohne Furcht und Frage.

Die Bucht von Antibes kam in großem Bogen auf sie zu. Es wurde immer heller. Vor dem aufblauenden Tag standen die eisengrauen Schatten von vier Kriegsschiff en: drei Zerstörer und ein Kreuzer. Sie mußten über Nacht eingelaufen sein. Niedrig und drohend und lautlos standen sie vor dem zurückweichenden Himmel. Ravic sah auf Joan. Sie war an seiner Schulter eingeschlafen.