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Ravic kam vom Bahnhof. Er war müde und schmutzig.
Er hatte dreizehn Stunden in einem heißen Zug hinter sich mit Leuten, die nach Knoblauch stanken, Jägern mit Hunden, Frauen mit Hühner- und Taubenkörben auf dem Schoß. Und vorher drei Monate an der Grenze...
Es blinkte in der Dämmerung. Er sah auf. Es blinkte, als ständen Spiegelpyramiden rund um den Rond Point und würfen sich das graue letzte Mailicht zu.
Er blieb stehen und sah schärfer hin. Es waren Spiegelpyramiden. Sie standen überall hinter den Tulpenbeeten in gespenstischer Wiederholung. »Was ist denn das?« fragte er den Gärtner, der neben ihm ein Beet ausgeworfener Erde glättete.
»Spiegel«, antwortete der Gärtner, ohne aufzublicken.
»Das sehe ich. Das letztemal, als ich hier war, war das noch nicht da.«
»Lange nicht hier gewesen?«
»Drei Monate.«
»Ah, drei Monate! Das hier haben sie in den letzten zwei Wochen gemacht. Für den König von England. Kommt zu Besuch. Kann er sein Gesicht dann drin abspiegeln.«
»Schauderhaft«, sagte Ravic.
»Natürlich«, sagte der Gärtner, ohne erstaunt zu sein.
Ravic ging weiter. Drei Monate — drei Jahre — drei Tage — was war die Zeit? Nichts und alles. Daß die Kastanien jetzt blühten — und damals hatten sie noch keine Blätter gehabt, daß Deutschland wieder einmal seine Verträge gebrochen und die gesamte Tschechoslowakei besetzt hatte, daß in Genf der Emigrant Josef Blumenthal sich in einem Anfall hysterischen Gelächters vor dem Palast des Völkerbundes erschossen hatte, daß irgendwo in seiner Brust noch der Rest einer Lungenentzündung stach, die er in Beifort unter dem Namen Günther überstanden hatte, und daß er jetzt wieder hier war, an einem Abend, weich wie eine Frauenbrust — es war alles fast ohne Überraschung. Man nahm, wie man vieles nahm, mit der fatalistischen Gelassenheit, die die einzige Waffe der Hilflosigkeit war. Der Himmel blieb überall derselbe, immer derselbe, über Mord und Haß und Opfer und Liebe — die Bäume blühten ahnungslos in jedem Jahr wieder, die pflaumenblaue Dämmerung wechselte und kam und ging, unbekümmert um Pässe, Verrat, Trostlosigkeit und Hoffnung. Es war gut, wieder in Paris zu sein. Es war gut, zu gehen, langsam zu gehen, diese Straße entlang im silbergrauen Licht, ohne zu denken; es war gut, diese Stunde zu haben, noch voll Aufschub, voll sanften Verschwimmens, an der Grenze, wo fernste Trauer und zartestes Immerwieder-Glück, einfach noch am Leben zu sein, sich horizonthaft mischten — diese Stunde ersten Ankommens, bevor man wieder getroffen wurde von Messern und Pfeilen — dieses seltene Kreaturgefühl, diesen Atem, der weit ging und von weit her kam, dieses Wehen, noch ohne Fühlen, die Straße des Herzens entlang, vorüber an den trüben Feuern der Tatsachen, an den Nagelkreuzen des Gewesenen und an den Stachelhaken des Kommenden, die Zäsur, das Schweigen im Schwingen, der Augenblick Pause, offenstes und geschlossenstes Sein, milder Takt Ewigkeit im Vergänglichsten der Welt…
Morosow saß im Palmenraum des »International«. Er hatte eine Karaffe Wein vor sich. »Hallo, Boris, alter Knabe«, sagte Ravic. »Ich scheine im richtigen Augenblick wiederzukommen. Ist das Vouvray?«
»Immer noch. Vierunddreißiger dieses Mal. Etwas süßer und voller. Gut, daß du wieder da bist. Drei Monate, was?«
»Ja. Länger als sonst.«
Morosow setzte eine altmodische Tischklingel in Bewegung. Sie läutete wie eine Ministrantenglocke in einer Dorfkirche. Die Katakomben hatten nur elektrisches Licht, keine elektrischen Klingeln. »Wie heißt du jetzt?« fragte Morosow.
»Immer noch Ravic. Ich habe den Namen bei der Polizei nicht benutzt. Hieß da Wozzek, Neumann, Günther. Eine Kaprice. Wollte Ravic nicht aufgeben. Gefällt mir als Name.«
»Sie haben nicht herausgekriegt, daß du hier wohnst, was?«
»Natürlich nicht.«
»Klar. Hätten sonst bestimmt eine Razzia gemacht. Dann kannst du ja wieder hier wohnen. Dein Zimmer ist frei.«
»Weiß die Alte, was los war?«
»Nein, niemand. Ich habe gesagt, du wärest nach Rouen gefahren. Deine Sachen sind in meiner Bude.«
Das Mädchen kam mit dem Tablett. »Clarisse, bringen Sie Herrn Ravic ein Glas«, sagte Morosow.
»Ach, Herr Ravic!« Das Mädchen zeigte seine Zähne. »Wieder zurück? Sie waren über ein halbes Jahr weg, Monsieur.«
»Drei Monate, Clarisse.«
»Nicht möglich. Ich dachte, es wäre ein halbes Jahr.«
Sie schlurfte davon. Gleich darauf kam der speckige Kellner der Katakombe mit einem Weinglas in der Hand. Er trug kein Tablett; er war schon zu lange da und konnte sich Bequemlichkeiten leisten. Morosow sah seinem Gesicht an, was kommen würde, und kam ihm zuvor. »Gut, Jean, sag gleich, wie lange Herr Ravic weg war. Weißt du es genau?«
»Aber Herr Morosow! Natürlich weiß ich das genau! Auf den Tag sogar. Es sind genau...«, er machte eine Kunstpause, lächelte und sagte: »Viereinhalb Wochen genau.«
»Stimmt«, sagte Ravic, bevor Morosow antworten konnte.
»Stimmt«, erwiderte Morosow ebenfalls.
»Selbstverständlich. Ich irre mich nie.« Jean verschwand.
»Ich wollte ihn nicht enttäuschen, Boris.«
»Ich auch nicht. Ich wollte dir nur die Hinfälligkeit der Zeit demonstrieren, wenn sie Vergangenheit geworden ist. Tröstet, erschreckt und macht gleichgültig. Ich verlor den Oberleutnant Bielski vom Neobraschensker Garderegiment im Jahre 1917 in Moskau aus den Augen. Wir waren Freunde. Er ging nach Norden über Finnland. Ich machte den Weg über die Mandschurei und Japan. Als wir uns dann hier acht Jahre später wieder trafen, glaubte ich ihn das letzte Mal 1919 in Harbin gesehen zu haben; er mich 1921 in Helsinki. Eine Differenz von zwei Jahren — und von einigen tausend Kilometern.« Morosow nahm die Karaffe und schenkte ein. »Du siehst, sie kennen dich hier immerhin noch wieder. Gibt einem schon eine Art Heimatgefühl, wie?«
Ravic trank. Der Wein war leicht und kühl. »Ich war inzwischen einmal dicht an der deutschen Grenze«, sagte er. »Sehr dicht, unten in Basel. Die eine Seite der Straße war schweizerisch, die andere deutsch. Ich stand auf der Schweizer Seite und aß Kirschen. Die Kerne konnte ich nach Deutschland hinüberspucken.«
»Gab dir das auch ein Heimatgefühl?«
»Nein. Ich war nie weiter weg.«
Morosow grinste. »Kann ich verstehen. Wie war’s unterwegs?«
»Wie immer. Es wird schwieriger, das ist alles. Sie bewachen die Grenzen schärfer. Schnappten mich einmal in der Schweiz und einmal in Frankreich.«
»Warum hast du nie etwas von dir hören lassen?«
»Ich wußte nicht, wie weit die Polizei hier gekommen war. Sie haben ja manchmal Anfälle von Energie. Besser, keinen zu gefährden. Unsere Alibis sind schließlich alle nicht so ganz hervorragend. Alte Kriegsregel: still liegen und verschwinden. Hast du etwas anderes erwartet?«
»Ich nicht.«
Ravic sah ihn an. »Briefe«, sagte er dann. »Was sind Briefe? Briefe helfen nie etwas.«
»Nein.«
Ravic zog ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche. »Sonderbar, wie das alles wird, wenn man weg ist.«
»Mach dir nichts vor«, erwiderte Morosow.
»Das tue ich auch nicht.«
»Wenn man wegbleibt, ist es gut. Wenn man wiederkommt, ist es anders. Dann geht es wieder los.«
»Vielleicht. Vielleicht auch nicht.«
»Du bist ziemlich kryptisch. Gut, daß du es so nimmst. Wollen wir eine Partie Schach spielen? Der Professor ist gestorben. War der einzige würdige Gegner. Lewy ist nach Brasilien gegangen. Stellung als Kellner. Das Leben geht verdammt rasch heutzutage. Man soll sich an nichts gewöhnen.«
»Das soll man nicht.«
Morosow blickte Ravic aufmerksam an. »So meinte ich das nicht.«
»Ich auch nicht. Aber können wir nicht dieses muffige Palmengrab verlassen? Ich war drei Monate nicht hier; trotzdem stinkt es wie immer — nach Küche, Staub und Angst. Wann mußt du los?«
»Heute überhaupt nicht. Habe meinen freien Abend.«
»Richtig.« Ravic lächelte flüchtig. »Der Abend der Eleganz, des alten Rußlands und der großen Gläser.«
»Willst du mit?« »Nein. Heute nicht. Ich bin müde. Habe ein paar Nächte kaum geschlafen. Nicht sehr ruhig, jedenfalls. Laß uns noch eine Stunde ’rausgehen und irgendwo herumsitzen. Habe das lange nicht getan.«
»Vouvray?« fragte Morosow. Sie saßen vor dem Café Colisée.
»Warum? Es ist früher Abend, Alter. Die Stunde des Wodkas.«
»Ja. Trotzdem Vouvray. Das ist genug für mich.«
»Was ist los? Keinen Fine wenigstens?«
Ravic schüttelte den Kopf. »Wenn man irgendwo ankommt, soll man sich am ersten Abend blau saufen, Bruder«, erklärte Morosow. »Unnötiger Heroismus, den Schatten der Vergangenheit nüchtern in die traurigen Gesichter zu starren.«
»Ich starre nicht, Boris. Ich freue mich behutsam meines Lebens.«
Ravic sah, daß Morosow ihm nicht glaubte. Er machte keinen Versuch, ihn zu überzeugen. Er saß ruhig am Tisch, in der ersten Reihe zur Straße hin, trank seinen Wein und blickte in das abendliche Gedränge der Spaziergänger. Solange er von Paris fortgewesen war, war alles klar und scharf in ihm gewesen. Jetzt war es wolkig, fahl und farbig, angenehm gleitend, aber so, wie bei jemand, der von einem Berg zu rasch abgestiegen ist und der den Lärm unten im Tal nur wie durch Watte hört.
»Warst du irgendwo, bevor du ins Hotel kamst?«
»Nein.«
»Veber hat ein paarmal nach dir gefragt.«
»Ich werde ihn anrufen.«
»Du gefällst mir nicht. Erzähle, was los war.«
»Nichts Besonderes. Die Grenze in Genf war zu gut bewacht. Versuchte es da zuerst, dann in Basel. Auch schwierig. Kam schließlich doch hinüber. Erkältete mich. Regen und Schnee nachts auf den Feldern. Konnte wenig machen. Es wurde eine Lungenentzündung. Ein Arzt in Belfort brachte mich in ein Krankenhaus. Schmuggelte mich ’rein und ’raus. Hielt mich noch zehn Tage in seinem Haus. Muß ihm das Geld zurückschicken.«
»Bist du wieder in Ordnung?«
»Ziemlich.«
»Trinkst du deshalb keinen Schnaps?«
Ravic lächelte. »Wozu reden wir herum? Ich bin etwas müde und will mich erst gewöhnen. Das ist wahr. Merkwürdig, wieviel man denkt, wenn man unterwegs ist. Und wiewenig, wenn man ankommt.«
Morosow winkte ab. »Ravic«, sagte er väterlich. »Du sprichst mit deinem Vater Boris, den Kenner des menschlichen Herzens. Mach keine Umwege und frage schon, damit wir es hinter uns kriegen.«
»Schön. Wo ist Joan?«
»Das weiß ich nicht. Ich weiß seit einigen Wochen nichts mehr von ihr. Habe sie auch nicht mehr gesehen.«
»Und vorher?«
»Vorher hat sie eine Zeitlang nach dir gefragt. Dann nicht mehr.«
»Ist sie nicht mehr in der Scheherazade?«
»Nein. Sie hat aufgehört vor ungefähr fünf Wochen. Dann war sie noch zwei-, dreimal da. Später nicht mehr.«
»Ist sie nicht mehr in Paris?«
»Ich glaube nicht. Scheint wenigstens nicht so. Sonst hätte ich sie ja weiter ab und zu in der Scheherazade gesehen?«
»Weißt du, was sie macht?«
»Irgendwas mit Film, glaube ich. Das hat sie wenigstens der Garderobenfrau gesagt. Du weißt ja, wie so etwas ist. Irgendein verdammter Vorwand.«
»Vorwand?«
»Ja, Vorwand«, sagte Morosow grimmig. »Was sonst, Ravic? Hast du etwas anderes erwartet?«
»Ja.«
Morosow schwieg. »Erwarten und wissen ist zweierlei«, sagte Ravic.
»Nur für gottverdammte Romantiker. Trink was Vernünftiges — nicht die Limonade da. Einen anständigen Calvados...«
»Calvados nicht gerade. Kognak, wenn es dich beruhigt. Oder meinetwegen auch Calvados.«
»Endlich«, sagte Morosow.
Die Fenster. Die blaue Silhouette der Dächer. Das verschossene rote Sofa. Das Bett. Ravic wußte, daß er es durchzustehen hatte. Er saß auf dem Sofa und rauchte. Morosow hatte ihm seine Sachen herübergebracht und ihm gesagt, wo er ihn finden könne, wenn er wolle.
Er hatte den alten Anzug weggeworfen. Er hatte gebadet, heiß und lange, mit viel Seife. Er hatte drei Monate weggeschwemmt und von seiner Haut geschrubbt. Er hatte reine Wäsche angezogen, einen anderen Anzug, sich rasiert; und er wäre am liebsten noch in ein türkisches Bad gegangen, wenn es nicht zu spät gewesen wäre. Er hatte alles das getan und sich gut dabei gefühlt. Er hätte gern noch mehr getan, denn jetzt plötzlich, während er am Fenster saß, begann die Leere aus den Winkeln an ihn heranzukriechen.
Er schenkte sich ein Glas Calvados ein. Unter seinen Sachen war noch eine Flasche mit einem kleinen Rest darin gewesen. Er erinnerte sich an die Nacht, als er sie mit Joan getrunken hatte, aber er empfand wenig dabei. Es war zu lange her. Er merkte nur, daß es guter, alter Calvados war.
Der Mond stieg langsam über die Dächer. Der dreckige Hof gegenüber wurde ein Palast aus Schatten und Silber. Alles konnte aus Dreck zu Silber werden mit einem bißchen Phantasie. Ein Geruch von Blumen kam durch das Fenster. Der herbe Geruch von Nelken in der Nacht. Ravic lehnte sich über die Brüstung und sah hinunter. Auf dem Fensterbrett unter ihm stand ein Holzkasten mit Blumen. Sie gehörten dem Emigranten Wiesenhoff, wenn er noch da wohnte. Ravic hatte ihm einmal den Magen ausgepumpt. Weihnachten vor einem Jahr.
Die Flasche war leer. Er warf sie auf das Bett. Da lag sie wie ein schwarzer Embryo. Er stand auf. Wozu starrte er auf das Bett? Wenn man keine Frau hatte, mußte man sich eine holen. Das war einfach in Paris.
Er ging durch die schmalen Straßen dem Etoile zu. Das warme Leben der nächtigen Stadt schlug ihm von den Champs-Elysées entgegen. Er ging zurück, rasch, dann immer langsamer, bis er zum Hotel Milan kam.
»Wie geht’s?« fragte er den Portier.
»Ah, Monsieur!« Der Portier stand auf. »Monsieur war lange nicht hier.«
»Ja, eine Zeitlang nicht. Ich war nicht in Paris.«
Der Portier musterte ihn mit flinken, kleinen Augen. »Madame ist nicht mehr hier.«
»Ich weiß. Schon längst nicht mehr.«
Der Portier war ein guter Portier. Er wußte, was man von ihm wollte, ohne gefragt zu werden. »Vier Wochen jetzt«, sagte er. »Vor vier Wochen ist sie ausgezogen.«
Ravic nahm eine Zigarette aus dem Päckchen. »Ist Madame nicht mehr in Paris?« fragte der Portier.
»Sie ist in Cannes.«
»Cannes!« Der Portier fuhr sich mit der großen Hand über das Gesicht. »Sie würden nicht glauben, mein Herr, daß ich vor achtzehn Jahren Portier im Hotel Ruhl in Nizza war, wie?«
»Doch.«
»Die Zeiten! Das Trinkgeld! Die herrliche Zeit nach dem Krieg! Heute...«
Ravic war ein guter Gast. Er verstand das Hotelpersonal, ohne daß es allzu deutlich zu werden brauchte. Er holte einen Fünffrankschein hervor und legte ihn auf den Tisch.
»Danke, mein Herr. Viel Vergnügen noch! Sie sehen jünger aus, mein Herr!«
»Fühle mich auch so. Guten Abend.«
Ravic stand auf der Straße. Wozu war er in das Hotel gegangen? Jetzt fehlte nur noch, daß er in die Scheherazade ging und sich da besoff .
Er starrte in den Himmel, der voller Sterne hing. Er sollte froh sein, daß es so gekommen war. Er sparte eine Menge unnötiger Auseinandersetzungen. Er hatte es gewußt, und Joan hatte es auch gewußt. Zum Schluß wenigstens. Sie hatte getan, was das einzig Richtige war. Keine Erklärungen. Erklärungen waren zweitklassig. Im Gefühl gab es keine Erklärungen. Nur Handlungen. Gottlob, daß Joan davon nichts wußte. Sie hatte gehandelt. Fertig. Aus. Kein Hin- und Hergezerre. Er hatte auch gehandelt. Was stand er also jetzt noch hier? Es mußte die Luft sein. Dieses weiche Gewebe aus Mai und Abend in Paris. Und die Nacht natürlich. Nachts war man immer anders als am Tage.
Er ging zurück in das Hotel. »Kann ich bitte einmal telefonieren?«
»Gewiß, mein Herr. Wir haben aber keine Telefonzelle. Nur den Apparat hier.«
»Das genügt.«
Ravic sah auf seine Uhr. Es konnte sein, daß Veber in der Klinik war. Es war die Stunde der letzten Nachtvisite. »Ist Doktor Veber da?« fragte er die Schwester. Er kannte ihre Stimme nicht. Sie mußte neu sein.
»Doktor Veber ist nicht zu sprechen.«
»Ist er nicht da?«
»Er ist da. Aber er ist jetzt nicht zu sprechen.«
»Hören Sie«, sagte Ravic. »Gehen Sie und sagen Sie ihm, Ravic sei am Telefon. Gehen Sie sofort. Es ist wichtig. Ich warte am Apparat.«
»Gut«, sagte die Schwester zögernd. »Ich werde ihn fragen, aber er wird nicht kommen.«
»Wir werden sehen. Fragen sie ihn. Ravic.«
Veber war einen Moment später am Apparat. »Ravic! Wo sind Sie?«
»In Paris. Heute angekommen. Operieren Sie etwa noch?«
»Ja. In zwanzig Minuten. Ein eiliger Blinddarm.Wollen wir uns später treffen?«
»Ich kann ’rüberkommen.«
»Großartig. Wann?«
»Gleich.«
»Gut. Ich warte dann auf Sie.«
»Hier ist guter Schnaps«, sagte Veber. »Da sind Zeitungen und Fachblätter. Machen Sie sich’s bequem.«
»Einen Schnaps. Und einen Kittel und Handschuhe.«
Veber sah Ravic an. »Einfacher Blinddarm. Unter Ihrer Würde. Ich kann das rasch mit den Schwestern machen. Sie sind doch sicher müde genug.«
»Veber, tun Sie mir den Gefallen, und lassen Sie mich die Operation machen. Ich bin nicht müde, und ich bin völlig in Ordnung.«
Veber lachte. »Sie haben es verflucht eilig, wieder ins Handwerk zu kommen. Schön. Wie Sie wollen. Kann es eigentlich verstehen.«
Ravic wusch sich und ließ sich den Kittel und die Handschuhe überstreifen. Der Operationsraum. Er atmete den Geruch des Äthers tief ein. Eugenie stand am Kopfende des Tisches und machte die Narkose. Eine zweite, sehr schöne junge Schwester ordnete die Instrumente. »Guten Abend, Schwester Eugenie«, sagte Ravic.
Sie ließ fast den Tropfer fallen. »Guten Abend, Doktor Ravic«, erwiderte sie.
Veber schmunzelte. Es war das erstemal, daß sie Ravic so angeredet hatte. Ravic beugte sich über den Patienten. Das starke Operationslicht brannte weiß und intensiv. Es schloß die Welt ringsum ab. Es schloß die Gedanken ab. Es war sachlich und kalt und unbarmherzig und gut. Ravic nahm das Messer, das die schöne Schwester ihm reichte. Er fühlte den Stahl kühl durch die dünnen Handschuhe. Es war gut, ihn zu fühlen. Es war gut, aus schwankender Ungewißheit wieder zu klarer Präzision zu kommen. Er machte den Schnitt. Schmal und rot lief das Blut dem Messer nach. Alles wurde plötzlich einfach. Er fühlte zum erstenmal, seit er zurück war, sich selbst wieder. Das sausende lautlose Licht. Zu Hause, dachte er. Endlich!