37349.fb2 Arc de Triomphe - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 19

Arc de Triomphe - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 19

19

»Sie ist da«, sagte Morosow.

»Wer?«

Morosow strich seine Uniform glatt. »Tu nicht so, als wenn du es nicht wüßtest. Ärgere deinen Vater Boris nicht auf offener Straße. Meinst du, ich weiß nicht, weshalb du in zwei Wochen dreimal in der Scheherazade warst? Einmal mit einem Wunder von blauen Augen und schwarzen Haaren, aber zweimal allein? Der Mensch ist schwach — wo wäre sonst sein Reiz?«

»Geh zum Teufel«, sagte Ravic. »Demütige mich nicht, gerade wenn ich meine Kraft nötig habe — du geschwätziger Türöffner.«

»Wäre es dir lieber gewesen, ich hätte es dir nicht gesagt?«

»Natürlich.«

Morosow trat zur Seite und ließ zwei Amerikaner ein. »Dann geh zurück, und komm an einem andern Abend wieder«, sagte er.

»Ist sie allein hier?«

»Allein lassen wir nicht einmal regierende Fürstinnen ’rein, das müßtest du wissen. Sigmund Freud würde an deiner Frage gefallen haben.«

»Was weißt du von Sigmund Freud. Du bist betrunken, und ich werde mich über dich bei deinem Manager, dem Captain Tschedschenedse, beschweren.«

»Captain Tschedschenedse war einer der Leutnants in dem Regiment, in dem ich Oberstleutnant war, Knabe. Er weiß das noch immer. Versuch’s mal.«

»Schön. Laß mich vorbei.«

»Ravic!« Morosow legte ihm seine schweren Hände auf die Schultern. »Sei kein Esel! Geh, telefoniere dem Wunder mit den blauen Augen und komm mit ihr wieder, wenn du schon mußt. Einfacher Ratschlag eines erfahrenen alten Mannes. Äußerst billig, dafür aber immer wirksam.«

»Nein, Boris.« Ravic sah ihn an. »Tricks haben hier keinen Zweck. Ich will auch keine.«

»Dann geh nach Hause«, sagte Morosow.

»In den muffigen Palmenraum? Oder in meine Bude?«

Morosow ließ Ravic los und schritt einem Paar voraus, das ein Taxi wollte. Ravic blieb stehen, bis er zurückkam. »Du bist vernünftiger, als ich dachte«, sagte Morosow. »Sonst wärst du schon drin.«

Er schob seine goldbetreßte Kappe zurück. Bevor er weiter sprechen konnte, erschien ein angetrunkener, junger Mann in einem weißen Smoking in der Tür. »Herr Oberst! Einen Rennwagen!«

Morosow winkte dem nächsten Taxi in der Reihe und geleitete den leicht Schwankenden hinein. »Sie lachen nicht«, sagte der Betrunkene. »Oberst war doch ein guter Witz — oder nicht?«

»Sehr gut. Rennwagen war fast noch besser.«

»Ich habe mir die Sache überlegt«, sagte Morosow, als er zurückkahm. »Geh ’rein. Pfeif auf das andere. Ich würde es auch so machen. Irgendwann passiert es doch; warum dann nicht sofort? Bring es zu Ende, so oder so. Wenn wir nicht mehr kindisch sind, sind wir alt.«

»Ich habe es mir auch überlegt. Ich gehe anderswohin.«

Morosow blickte Ravic amüsiert an. »Schön«, sagte er schließlich. »Ich sehe dich dann in einer halben Stunde wieder.«

»Oder auch nicht.«

»Dann in einer Stunde.«

Zwei Stunden später saß Ravic in der Cloche d’Or. Das Lokal war noch ziemlich leer. An der langen Bar unten hockten die Huren wie Papageien auf der Stange und schwatzten. Dazwischen standen ein paar Händler mit Gipskokain, die auf Touristen warteten. Oben saßen einige Paare und aßen Zwiebelsuppe. Auf einem Sofa in der Ecke gegenüber von Ravic flüsterten zwei Lesbierinnen, die Sherry Brandy tranken. Eine, in einem Tailormade mit Krawatte trug ein Monokel; die andere war eine rothaarige, volle Person in einem tief ausgeschnittenen, glitzernden Abendkleid.

Idiotisch, dachte Ravic.Warum bin ich nicht in die Scheherazade gegangen? Wovor fürchte ich mich? Und weshalb laufe ich weg? Es ist gewachsen, ich weiß es. Diese drei Monate haben es nicht zerbrochen; sie haben es stärker gemacht. Es ist zwecklos, mir etwas vorzuspielen. Es ist fast das einzige gewesen, das mit mir geblieben ist in all dem Schleichen über Gassen, in all dem Warten in versteckten Zimmern, in der tropfenden Einsamkeit fremder, sternloser Nächte. Die Abwesenheit hat es stärker genährt, als sie selbst es jemals gekonnt hätte, und jetzt…

Ein unterdrückter Schrei weckte ihn aus seinem Brüten. Ein paar Frauen waren inzwischen hereingekommen. Eine von ihnen, die aussah wie eine sehr helle Negerin, ziemlich betrunken, einen Hut mit Blumen hinten auf den Kopf geschoben, warf ein Tischmesser weg und ging langsam die Treppe hinunter. Niemand hielt sie auf. Ein Kellner kam die Treppe herauf. Eine zweite Frau stand oben und blockierte ihm den Weg. »Nichts passiert«, sagte sie.

»Nichts passiert.«

Der Kellner zuckte die Achseln und kehrte um. Ravic sah, wie die rothaarige Frau in der Ecke aufstand. Gleichzeitig ging die Frau, die den Kellner abgewehrt hatte, rasch zur Bar hinunter. Die Rothaarige stand still, die Hand an der vollen Brust. Vorsichtig öffnete sie zwei Finger der Hand und blickte hinunter. Das Kleid war einige Zentimeter weit zerschnitten, und darunter sah man die offene Wunde. Man sah keine Haut, nur die offene Wunde in dem grünen, irisierenden Abendkleid. Die rothaarige Frau starrte darauf, als könne sie es nicht glauben.

Ravic hatte eine unwillkürliche Bewegung gemacht. Dann ließ er sich zurücksinken. Eine Ausweisung war genug. Er sah, daß die Frau in dem Tailormade die Rothaarige zurückriß auf das Kanapee. Im selben Augenblick kam die zweite mit einem Glas Schnaps zurück von der Bar die Treppe herauf. Die Frau im Tailormade kniete auf das Bankett, hielt der Rothaarigen mit einer Hand den Mund zu und zog ihr rasch die Hand von der Wunde. Die zweite Frau goß das Glas Schnaps hinein. Primitive Art von Desinfektion, dachte Ravic. Die Rothaarige stöhnte, zuckte, aber die andere hielt sie eisern fest. Zwei andere Frauen deckten den Tisch ab gegen die übrigen Gäste. Das Ganze ging äußerst rasch und geschickt vor sich. Kaum jemand sah etwas. Eine Minute später, als wären sie herbeigezaubert, strömte eine Anzahl Lesbierinnen und Homosexueller in das Lokal. Sie umringten den Tisch in der Ecke, hoben die Rothaarige an, stützten sie, die anderen deckten die Gruppe lachend und schwatzend, und alle verließen das Lokal, als wäre nichts geschehen. Die meisten Gäste hatten fast nichts gemerkt.

»Gut, was?« fragte jemand hinter Ravic. Es war der Kellner.

Ravic nickte. »Was war los?«

»Eifersucht. Diese Perversen sind eine aufgeregte Bande.«

»Wo kamen eigentlich die andern alle so rasch her? Das war ja die reine Telepathie.«

»Die riechen das, mein Herr«, sagte der Kellner.

»Wahrscheinlich hat eine telefoniert. Aber es ging prompt.«

»Die riechen es. Und sie halten zusammen wie Tod und Teufel. Zeigen sich nicht gegenseitig an. Nur keine Polizei — das ist alles, was sie wollen. Erledigen das schon untereinander.« Der Kellner nahm Ravics Glas vom Tisch. »Doch einen? Was war es?«

»Calvados.«

»Gut. Noch einen Calvados.«

Er schuffelte davon. Ravic sah auf und sah Joan ein paar Tische entfernt sitzen. Sie war hereingekommen, während er mit dem Kellner sprach. Er hatte sie nicht kommen sehen. Sie saß mit zwei Männern zusammen. Im Augenblick, als er sie sah, sah sie ihn auch. Sie erblaßte unter ihrer sonnenbraunen Haut. Eine Sekunde saß sie still, ohne die Augen von ihm zu lassen. Dann schob sie mit einer brüsken Bewegung den Tisch zur Seite, stand auf und kam zu ihm herüber. Während sie ging, veränderte sich ihr Gesicht. Es zerschmolz und wurde verwischt; nur die Augen blieben starr und durchsichtig wie Kristalle. Sie erschienen Ravic heller als jemals zuvor. Sie waren von einer beinahe zornigen Kraft .

»Du bist zurück«, sagte sie leise, fast atemlos.

Sie stand dicht vor ihm. Einen Augenblick machte sie eine Bewegung, als wolle sie ihn umarmen. Aber sie tat es nicht. Sie gab ihm auch nicht die Hand.

»Du bist zurück«, wiederholte sie.

Ravic antwortete nicht.

»Seit wann bist du zurück?« fragte sie dann ebenso leise wie vorher.

»Seit zwei Wochen.«

»Seit zwei... und ich habe es nicht... du hast nicht einmal...«

»Niemand wußte, wo du warst. Dein Hotel nicht — und die Scheherazade auch nicht.«

»Die Scheherazade... ich war doch...« Sie brach ab. »Warum hast du mir nie geschrieben?«

»Ich konnte nicht.«

»Du lügst.«

»Gut. Ich wollte nicht. Ich wußte nicht, ob ich wiederkommen würde.«

»Du lügst wieder. Das ist kein Grund.«

»Doch. Ich konnte wiederkommen oder nicht.Verstehst du das nicht?«

»Nein, aber ich verstehe, daß du zwei Wochen hier bist und nicht das geringste getan hast, um mich...«

»Joan«, sagte Ravic ruhig. »Du hast diese braunen Schultern nicht in Paris bekommen.«

Der Kellner strich schnuppernd vorbei. Er warf einen Blick auf Joan und Ravic. Die Szene von vorher saß ihm wohl noch in den Knochen. Er nahm wie zufällig mit einem Teller zwei Messer und zwei Gabeln von der rotweiß gewürfelten Tischdecke fort. Ravic bemerkte es. »Alles in Ordnung«, sagte er.

»Was ist in Ordnung?« fragte Joan.

»Nichts. Da war irgend etwas vorher.«

Sie starrte ihn an. »Wartest du hier auf eine Frau?«

»Mein Gott, nein. Irgendwelche Leute hatten eine Szene. Jemand blutete. Ich habe mich diesmal nicht eingemischt.«

»Eingemischt?« Sie verstand plötzlich. Ihr Ausdruck veränderte sich. »Was machst du hier? Sie werden dich wieder verhaften. Ich weiß jetzt alles. Ein halbes Jahr Gefängnis ist das nächste. Du mußt fort! Ich wußte nicht, daß du in Paris bist! Ich dachte, du kämest nie wieder.«

Ravic antwortete nicht.

»Ich dachte, du kämest nie wieder«, wiederholte sie.

Ravic sah sie an. »Joan...«

»Nein! Es ist alles nicht wahr! Nichts ist wahr! Nichts!«

»Joan«, sagte Ravic behutsam. »Geh zu deinem Tisch zurück.«

Ihre Augen waren plötzlich feucht. »Geh zu deinem Tisch zurück«, sagte er.

»Du bist schuld!« stieß sie hervor. »Du! Du allein!«

Sie drehte sich abrupt um und ging zurück. Ravic schob seinen Tisch beiseite und setzte sich. Er sah das Glas Calvados und machte eine Bewegung, es zu trinken. Er tat es nicht. Er war ruhig gewesen, während er mit Joan sprach. Jetzt plötzlich fühlte er die Erregung. Sonderbar, dachte er. Die Brustmuskeln unter der Haut vibrierten. Warum gerade die? Er nahm das Glas und betrachtete seine Hand. Sie war ruhig. Er trank nicht zu ihr hinüber. Der Kellner kam vorbei. »Zigaretten«, sagte Ravic. »Caporal.«

Er zündete eine an und trank die zweite Hälfte seines Glases. Wieder spürte er Joans Blick. Was erwartete sie? dachte er. Daß ich mich vor ihren Augen aus Unglück betrinke? Er winkte dem Kellner und zahlte. Im Augenblick, als er aufstand, begann Joan lebhaft zu einem ihrer Begleiter zu sprechen. Sie blickte nicht auf, als er an ihrem Tisch vorbeiging. Ihr Gesicht war hart und kalt und ohne Ausdruck, während sie angestrengt lächelte.

Ravic ging durch die Straßen und fand sich, ohne es überlegt zu haben, wieder vor der Scheherazade. Morosows Gesicht lächelte auf. »Gute Haltung, Soldat! Gab dich schon fast verloren. Freut einen immer, wenn eine Prophezeiung eintrifft.«

»Freu dich nicht zu früh.«

»Du dich auch nicht. Du kommst zu spät.«

»Das weiß ich. Ich habe sie schon getroffen.«

»Was?«

»In der Cloche d’Or.«

»Da soll doch...«, sagte Morosow verblüfft. »Mutter Leben hat immer neue Drehs auf Lager.« »Wann bist du hier fertig, Boris?« »In ein paar Minuten. Niemand mehr da. Muß mich umziehen. Komm solange ’rein. Trink einen Wodka auf Kosten des Hauses.« »Nein. Ich warte hier.« Morosow sah ihn an. »Wie fühlst du dich?«

»Zum Kotzen.«

»Hast du etwas anderes erwartet?«

»Ja. Man erwartet immer was anderes. Geh und zieh dich um.«

Ravic lehnte sich an die Wand. Neben ihm packte die alte Blumenverkäuferin ihre Blumen zusammen. Sie bot ihm nicht an, welche zu kaufen. Er kam sich albern vor, aber er hätte gern gehabt, wenn sie ihn gefragt hätte. So war es, als erwarte sie nicht, daß er welche brauchen könne. Er blickte die Häuserreihe entlang. Ein paar Fenster waren noch hell. Taxis streiften langsam vorbei. Was hatte er erwartet? Er wußte es genau. Was er nicht erwartet hatte, war, daß Joan die Initiative ergreifen würde. Aber warum eigentlich nicht? Wie recht jemand schon hatte, wenn er nur attackierte!

Die Kellner kamen heraus. Sie waren die Nacht über Kaukasier und Tscherkessen gewesen in roten Röcken und hohen Stiefeln. Jetzt waren sie müde Zivilisten. In sonderbar auf ihnen wirkenden Alltagsanzügen schlichen sie nach Hause. Der letzte war Morosow. »Wohin?« fragte er.

»Ich war heute schon überall.«

»Dann laß uns ins Hotel gehen und Schach spielen.«

»Was?«

»Schach. Ein Spiel mit Holzfiguren, das gleichzeitig ablenkt und konzentriert.«

»Gut«, sagte Ravic. »Warum nicht?«

Er erwachte und wußte sofort, daß Joan im Zimmer war. Es war noch dunkel, und er konnte sie nicht sehen, aber er wußte, daß sie da war. Das Zimmer war anders, das Fenster war anders, die Luft war anders, und er selbst war anders. »Laß den Unsinn!« sagte er. »Mach das Licht an und komm her.«

Sie rührte sich nicht. Er hörte sie nicht einmal atmen. »Joan«, sagte er, »wir wollen nicht Versteck spielen.«

»Nein«, sagte sie leise.

»Dann komm her.«

»Wußtest du, daß ich kommen würde?«

»Nein«.

»Deine Tür war offen.«

»Meine Tür ist fast immer off en.«

Sie schwieg einen Augenblick. »Ich dachte, du wärest noch nicht hier«, sagte sie dann. »Ich wollte nur... ich dachte... du würdest noch irgendwo sitzen und trinken.«

»Das dachte ich auch. Ich habe statt dessen Schach gespielt.«

»Was?«

»Schach. Morosow. Unten in der Bude, die aussieht wie ein Aquarium ohne Wasser.«

»Schach!« Sie kam aus ihrer Ecke hervor. »Schach! Das ist doch... Jemand, der Schach spielen kann, wenn...«

»Ich hätte es auch nicht geglaubt, aber es ging. Gut sogar. Ich konnte eine Partie gewinnen.«

»Du bist das kälteste, herzloseste...«

»Joan«, sagte Ravic. »Kein Szenen. Ich bin für gute Szenen. Nur nicht heute.«

»Ich mache keine Szenen. Ich bin todunglücklich.«

»Schön. Dann wollen wir das alles lassen. Szenen sind richtig, wenn man mittelmäßig unglücklich ist. Ich habe einen Mann gekannt, der vom Augenblick, als seine Frau starb, bis zu ihrem Begräbnis sich in sein Zimmer einschloß und Schachprobleme löste. Man hielt ihn für herzlos, aber ich weiß, daß er seine Frau geliebt hatte wie nichts auf der Welt. Er wußte einfach nichts anderes. Er löste Tag und Nacht Schachaufgaben, um nicht daran zu denken.«

Joan stand jetzt in der Mitte des Zimmers. »Hast du es deshalb getan, Ravic?«

»Nein. Ich sagte dir doch, es war ein anderer Mann. Ich habe geschlafen, als du kamst.«

»Ja, du hast geschlafen! Du kannst schlafen!«

Ravic stützte sich auf. »Ich habe einen andern Mann gekannt, der auch seine Frau verloren hatte. Er legte sich zu Bett und schlief zwei Tage durch. Die Mutter seiner Frau war außer sich darüber. Sie verstand nicht, daß man viele widersprechende Dinge tun und gleichzeitig völlig trostlos sein kann. Es ist merkwürdig, was für eine Etikette sich gerade für das Unglück herausgebildet hat! Hättest du mich sinnlos betrunken gefunden, wäre alles stilgemäß gewesen. Daß ich Schach gespielt und geschlafen habe, ist kein Beweis, daß ich roh und gefühllos bin. Einfach, was?«

Es krachte und splitterte. Joan hatte eine Vase ergriffen und sie zu Boden geschleudert. »Gut«, sagte Ravic. »Ich konnte das Ding ohnehin nicht leiden. Paß nur auf, daß du dir keine Scherben in den Fuß trittst.«

Sie stieß die Scherben beiseite. »Ravic«, sagte sie. »Warum tust du das?«

»Ja«, erwiderte er. »Warum? Ich mache mir selbst Mut. Merkst du das nicht, Joan?«

Sie wandte ihm rasch ihr Gesicht zu. »Es sieht so aus. Aber bei dir weiß man nie, was los ist.«

Sie trat vorsichtig über die umhergestreuten Scherben hinweg und setzte sich auf das Bett. Er konnte ihr Gesicht jetzt deutlich in der frühen Dämmerung sehen. Er war überrascht, daß es nicht müde war. Es war jung und klar gespannt. Sie trug einen leichten Mantel, den er nicht kannte, und ein anderes Kleid, als sie in der Cloche d’Or getragen hatte.

»Ich dachte, du kämest nie wieder, Ravic«, sagte sie.

»Es hat lange gedauert. Ich konnte nicht früher kommen.«

»Warum hast du nie geschrieben?«

»Hätte es etwas genützt?«

Sie sah zur Seite. »Es wäre besser gewesen.«

»Es wäre besser gewesen, ich wäre nie zurückgekommen. Aber es gibt kein anderes Land und keine andere Stadt mehr für mich. Die Schweiz ist zu klein; überall sonst sind Faschisten.«

»Aber hier... die Polizei...«

»Die Polizei hat hier ebensoviel und ebensowenig Chance, mich zu erwischen, wie vorher. Das damals war ein unglücklicher Zufall. Man braucht darüber nicht mehr nachzudenken.«

Er griff nach einem Pack Zigaretten. Sie lagen auf dem Tisch neben dem Bett. Es war ein bequemer, mittelgroßer Tisch mit Büchern, Zigaretten und ein paar Sachen. Ravic haßte das, was als Nachttisch und Konsole mit falschem Marmor gewöhnlich neben Betten stand.

»Gib mir auch eine Zigarette«, sagte Joan.

»Willst du etwas trinken?« fragte er.

»Ja. Bleib liegen. Ich hole es schon.«

Sie holte die Flasche und füllte zwei Gläser. Sie gab ihm eines, nahm das andere und trank es aus. Während sie trank, fiel ihr der Mantel von den Schultern. Ravic erkannte in der heller werdenden Dämmerung jetzt das Kleid, das sie trug. Es war das, das er ihr für Antibes geschenkt hatte. Weshalb hatte sie es angezogen? Es war das einzige Kleid, das er ihr je gegeben hatte. Er hatte nie an so etwas gedacht. Er wollte auch nie an so etwas denken.

»Als ich dich sah, Ravic — plötzlich...«, sagte sie, »ich konnte nichts denken. Nichts. Und als du weggingst... ich dachte, ich würde dich nie wiedersehen. Ich dachte es nicht gleich. Ich wartete erst, daß du in die Cloche d’Or zurückkommen würdest. Ich glaubte, du müßtest zurück kommen. Warum bist du nicht zurückgekommen ?«

»Warum sollte ich zurückkommen?«

»Ich wäre mit dir gegangen.«

Er wußte, daß es nicht wahr war. Aber er wollte nicht darüber nachdenken. Er wollte plötzlich über nichts mehr nachdenken. Er hatte nicht geglaubt, daß es genug sein würde. Er wußte nicht, weshalb sie gekommen war und was sie wirklich wollte — aber es war auf eine sonderbare und tiefe und beruhigende Weise plötzlich genug, daß sie da war. Was ist das? dachte er. Ist es da schon? Jenseits der Kontrolle? Da, wo die Dunkelheit, der Aufruhr des Blutes, der Zwang der Phantasie und die Drohung beginnen?

»Ich dachte, du wolltest mich verlassen«, sagte Joan. »Du wolltest es auch! Sag die Wahrheit!«

Ravic antwortete nicht.

Sie sah ihn an. »Ich wußte es! Ich wußte es!« wiederholte sie mit tiefer Überzeugung.

»Gib mir noch einen Calvados.«

»Ist es Calvados?«

»Ja. Hast du es nicht gemerkt?«

»Nein.« Sie goß ein. Sie legte dabei einen Arm gegen seine Brust, während sie die Flasche hielt. Er spürte es bis in die Rippen. Sie nahm ihr Glas und trank. »Ja, es war Calvados.« Dann sah sie ihn wieder an. »Gut, daß ich gekommen bin. Ich wußte es. Gut, daß ich gekommen bin.«

Es wurde heller. Die Fensterläden beganen leise zu knarren. Der Morgenwind kam auf. »Ist es gut, daß ich gekommen bin?« fragte sie.

»Ich weiß es nicht, Joan.«

Sie beugte sich über ihn.

»Du weißt es, du mußt es wissen.«

Ihr Gesicht war so dicht über ihm, daß ihr Haar über seine Schultern fiel. Er blickte es an. Es war eine Landschaft, die er kannte, sehr fremd und sehr vertraut, immer dieselbe und nie gleich. Er sah, daß die Haut auf ihrer Stirn sich schälte. Er sah, daß das Rot des Lippenstift es bröcklig auf der Oberlippe lag, er sah, daß sie nicht ganz ordentlich geschminkt war — er sah das alles in dem Gesicht, das jetzt so dicht über dem seinen war, daß es die ganze übrige Welt für ihn verdeckte — er sah es und wußte, daß nur seine Phantasie es war, die es trotzdem geheimnisvoll machte; er wußte, daß es schönere Gesichter gab, klügere, reinere — aber er wußte auch, daß dieses eine Gesicht eine Gewalt über ihn besaß wie kein anderes. Und diese Gewalt hatte er ihm selbst gegeben.

»Ja«, sagte er. »Es ist gut. So oder so.«

»Ich hätte es nicht ertragen, Ravic.«

»Was?«

»Daß du fort gewesen wärest. Ganz fort.«

»Du sagtest doch, du hättest geglaubt, ich käme nie wieder?« »Das ist nicht dasselbe.Wenn du in einem andern Land gelebt hättest, das wäre anders gewesen. Wir wären nur getrennt gewesen. Ich hätte zu dir kommen können. Aber hier, in derselben Stadt... verstehst du das nicht?«

»Doch.«

Sie richtete sich auf und strich ihr Haar zurück. »Du kannst mich nicht allein lassen. Du bist verantwortlich für mich.«

»Bist du allein?«

»Du bist verantwortlich für mich«, sagte sie und lächelte.

Er haßte sie eine Sekunde — für das Lächeln und dafür, wie sie es sagte. »Rede keinen Unsinn, Joan.«

»Doch, du bist es. Von damals her. Ohne dich...«

»Schön. Ich bin auch verantwortlich für die Besetzung der Tschechoslowakei. Und nun hör auf damit. Es wird hell. Du mußt bald gehen.«

»Was?« Sie starrte ihn an. »Du willst nicht, daß ich hierbleibe?«

»Nein.«

»So...«, sagte sie leise und plötzlich sehr böse. »So ist das also! Du liebst mich nicht mehr!«

»Großer Gott«, sagte Ravic. »Auch das noch. Mit was für Idioten bist du in den letzten Monaten zusammen gewesen?«

»Das waren keine Idioten. Was sollte ich denn tun? Im Hotel Milan sitzen und die Wände anstarren und verrückt werden?«

Ravic richtete sich halb auf. »Nur keine Bekenntnisse«, sagte er. »Ich wollte keine Bekenntnisse. Ich hatte nur die Absicht, das Gesprächsniveau etwas zu heben.«

Sie starrte ihn an. Ihr Mund und ihre Augen waren flach. »Warum kritisierst du mich immer? Andere Menschen kritisieren mich nicht. Bei dir wird immer gleich alles zu einem Problem!«

»Richtig.« Ravic nahm einen Schluck Calvados und legte sich zurück.

»Es ist wahr«, sagte sie. »Man weiß nie, woran man mit dir ist. Du machst einen Dinge sagen, die man nicht sagen will. Und dann fällst du über einen her.«

Ravic holte tief Atem. Was hatte er da vorher nur gedacht? Dunkelheit der Liebe, Gewalt der Phantasie, wie rasch sich das korrigieren konnte! Sie taten es selbst, unaufhörlich selbst. Sie waren die eifrigsten Zerstörer der Träume. Aber was konnten sie schon dafür? Was konnten sie wirklich schon dafür — schöne, verlorene Getriebene — ein Riesenmagnet, irgendwo, tief unter der Erde — und darüber die bunten Figuren, die glaubten, einen eigenen Willen und ein eigenes Schicksal zu haben — was konnten sie schon dafür? War er selbst nicht einer davon? Mißtrauisch noch, sich festhaltend an einem bißchen mühsamer Vorsicht und etwas billigem Sarkasmus — und im Grunde schon wissend, was unvermeidlich geschehen würde?

Joan hockte am Fußende des Bettes. Sie sah aus wie eine ärgerliche, schöne Waschfrau- und gleichzeitig wie etwas, das vom Mond hergeflogen war und sich nicht zurechtfinden konnte. Die Dämmerung war in Frührot übergegangen und strahlte sie an. Der junge Tag hauchte von weit her seinen reinen Atem über die dreckigen Höfe und die rauchigen Dächer in das Fenster, und es war immer noch Wald und Leben darin.

»Joan«, sagte Ravic. »Weshalb bist du gekommen?«

»Weshalb fragst du?«

»Ja — weshalb frage ich?«

»Weshalb fragst du immer? Ich bin da. Ist das denn nicht genug?«

»Ja, Joan, du hast recht. Es ist genug.«

Sie hob den Kopf. »Endlich! Aber erst muß du einem die ganze Freude nehmen.«

Freude! Freude nannte sie das! Getrieben sein von vielen schwarzen Propellern, in einer Luft schraube von atemlosem Wiederhabenwollen — Freude? Da draußen, das war ein Augenblick der Freude, der Tau vor den Fenstern, die zehn Minuten Stille, bevor der Tag seine Klauen ausstreckte. Aber zum Teufel, was sollte das alles? Hatte sie nicht recht? Hatte sie nicht recht wie der Tau und die Sperlinge und der Wind und das Blut? Wozu fragte er? Was wollte er wissen? Sie war da, herangeflogen, bedenkenlos, ein Nachtschmetterling, ein Ligusterschwärmer, ein Pfauenauge, rasch — und nun lag er da und zählte die Punkte und die schmalen Risse an seinen Flügeln und starrte auf den etwas verwischten Schmelz. Sie war gekommen, und ich bin nur so albern überlegen, weil sie gekommen ist, dachte er. Wäre sie nicht gekommen, dann würde ich hier liegen und grübeln und versuchen, mich heroisch zu beschwindeln und dabei heimlich nichts anderes wünschen, als daß sie käme.

Er warf die Decken beiseite, schwang die Füße über den Bettrand und fuhr in seine Slipper. »Was willst du?« fragte Joan überrascht. »Willst du mich hinauswerfen?«

»Nein. Ich will dich küssen. Ich hätte es längst tun sollen. Ich bin ein Idiot, Joan. Ich habe Unsinn geredet. Es ist wunderbar, daß du da bist!«

Ein Schein ging durch ihre Augen. »Du brauchst nicht aufzustehen, um mich zu küssen«, sagte sie.

Das Morgenrot stand hoch hinter den Häusern. Der Himmel darüber war schwach und blau. Ein paar Wolken schwammen darin wie schlafende Flamingos. »Sieh dir das an, Joan! Welch ein Tag! Weißt du noch, wie es regnete?«

»Ja. Es regnete immer, Liebster. Es war grau, und es regnete.«

»Es regnete noch, als ich abfuhr. Du verzweifeltest unter all dem Regen. Und jetzt...«

»Ja«, sagte sie. »Und jetzt...«

Sie lag dicht neben ihm. »Jetzt ist alles da«, sagte er. »Sogar ein Garten. Die Nelken unten vor dem Fenster des Emigranten Wiesenhoff. Und Vögel im Hof in der Kastanie.«

Er sah, daß sie weinte. »Warum fragst du mich nicht, Ravic?« sagte sie.

»Ich fragte dich schon zuviel. Hast du das vorhin nicht selbst gesagt?«

»Dies ist anders.«

»Es ist nichts zu fragen.«

»Was inzwischen gewesen ist.«

»Es ist nichts gewesen.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Wofür hältst du mich, Joan?« sagte er. »Sieh dir das da draußen an. Das Rot und Gold und Blau. Fragt das, ob es gestern geregnet hat? Ob Krieg in China oder Spanien war? Ob in diesem Augenblick tausend Menschen sterben oder tausend Menschen geboren werden? Es ist da, es steigt auf, das ist alles. Und du willst, daß ich frage? Deine Schultern sind Bronze unter diesem Licht, und ich soll dich fragen? Deine Augen sind in diesem roten Widerschein wie das Meer der Griechen, violett und weinfarben, und ich soll etwas wissen wollen, was vorbei ist? Du bist da, und ich soll ein Narr sein und im abgewelkten Laub der Vergangenheit herumsuchen wollen? Wofür hältst du mich, Joan?«

Ihre Tränen hatten aufgehört. »Ich habe das lange nicht mehr gehört«, sagte sie.

»Dann warst du unter Holzköpfen. Frauen soll man anbeten oder verlassen. Nichts dazwischen.«

Sie schlief, dicht an ihn geklammert, als wollte sie ihn nie mehr loslassen. Sie schlief tief, und er fühlte ihren leichten, regelmäßigen Atem auf seiner Brust. Er lag noch eine Zeitlang wach. Die Geräusche des Morgens begannen im Hotel. Wasserleitungen rauschten, Türen klappten, und unten hustete der Emigrant Wiesenhoff sein Erwachen aus dem Fenster. Er fühlte Joans Schultern an seinem Arm, er fühlte ihre warme, schlummernde Haut, und wenn er den Kopf wendete, konnte er ihr völlig gelöstes, hingebendes Gesicht sehen, das rein war wie die Unschuld selbst. Anbeten oder verlassen, dachte er. Große Worte. Wer das könnte! Aber wer wollte es auch schon?