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Er erwachte. Joan lag nicht mehr neben ihm. Er hörte das Wasser im Badezimmer rauschen und richtete sich auf. Er war sofort ganz wach. Die letzten Monate hatten ihn das wieder gelehrt. Wer sofort wach war, konnte manchmal noch entkommen. Er sah auf die Uhr. Es war zehn Uhr früh. Joans Abendkleid lag mit ihrem Mantel auf dem Boden. Ihre Brokatschuhe standen vor dem Fenster. Einer war umgefallen.
»Joan«, rief er. »Was machst du unter der Brause mitten in der Nacht?«
Sie öffnete die Tür. »Ich wollte dich nicht wecken.« »Das ist gleichgültig. Ich kann immer schlafen. Aber wozu bist du schon auf?«
Sie hatte eine Badekappe übergezogen und tropfte vor Wasser. Ihre Schultern schimmerten hellbraun. Sie sah aus wie eine Amazone mit einem eng anliegenden Helm. »Ich bin keine Nachteule mehr. Ravic. Ich bin nicht mehr in der Scheherazade.«
»Das weiß ich.« »Von wem?«
»Von Morosow.«
Sie sah ihn eine Sekunde forschend an. »Morosow«, sagte sie. »Der alte Schwätzer. Was hat er dir sonst erzählt?«
»Nichts. Gibt es sonst noch etwas zu erzählen?«
»Nichts, was ein Nachtportier erzählen könnte. Die sind wie Garderobefrauen. Gewerbsmäßige Klatsch Vermittler.«
»Laß Morosow in Frieden. Nachtportiers und Ärzte sind gewerbsmäßige Pessimisten. Sie leben von den Schattenseiten des Lebens. Aber sie klatschen nicht. Sie sind verpflichtet zur Diskretion.«
»Schattenseite des Lebens«, sagte Joan. »Wer will das schon?«
»Keiner. Aber die meisten leben darin. Morosow hat dir übrigens damals die Stelle in der Scheherazade besorgt.«
»Dafür kann ich ihm nicht ewig unter Tränen dankbar sein. Ich war keine Enttäuschung. Ich war mein Geld wert, sonst hätten sie mich nicht behalten. Er hat es außerdem für dich getan. Nicht für mich.«
Ravic griff nach einer Zigarette. »Was hast du eigentlich gegen ihn?«
»Nichts. Ich mag ihn nicht. Er sieht einen immer so an. Ich würde ihm nicht trauen, Du solltest es auch nicht.«
»Was?«
»Du solltest ihm nicht trauen. Du weißt, Portiers in Frankreich sind alle Polizeispitzel.«
»Sonst noch was?« fragte Ravic ruhig.
»Du glaubst mir natürlich nicht. Jeder in der Scheherazade wußte es. Wer weiß, ob...«
»Joan!« Er warf die Decke zurück und stand auf. »Rede keinen Unsinn. Was ist los mit dir?«
»Nichts. Was soll mit mir los sein? Ich kann ihn nicht leiden, das ist alles. Er hat einen schlechten Einfluß. Und du steckst dauernd mit ihm zusammen.«
»Ach so«, sagte Ravic. »Deshalb.«
Sie lächelte plötzlich. »Ja, deshalb.«
Ravic spürte, daß es nicht allein deshalb war. Da war noch etwas anderes. »Was willst du zum Frühstück haben?« fragte er.
»Bist du ärgerlich?« fragte sie zurück.
»Nein.«
Sie kam aus dem Badezimmer und legte die Arme um seinen Nacken. Er fühlte die Feuchtigkeit ihrer Haut durch den dünnen Stoff seines Pyjamas. Er fühlte den Körper, und er fühlte sein Blut. »Bist du ärgerlich, weil ich eifersüchtig auf deine Freunde bin?« fragte sie.
Er schüttelte den Kopf. Ein Helm. Eine Amazone. Eine Najade, dem Ozean entstiegen, den Geruch von Wasser und Jugend noch auf der glatten Haut. »Laß mich los«, sagte er.
Sie antwortete nicht. Die Linie von den hohen Wangenknochen zum Kinn. Der Mund. Die zu schweren Augenlider. Die Brüste, die sich gegen seine nackte Haut unter der offenen Pyjamajacke drängten. »Laß mich los, oder...«
»Oder was?« fragte sie.
Eine Biene summte vor dem offenen Fenster. Ravic folgte ihr mit den Augen.Wahrscheinlich war sie von den Nelken des Emigranten Wiesenhoff angelockt worden und suchte nun nach andern Blumen. Sie flog herein und ließ sich auf einem gebrauchten Calvadosglas nieder, das auf dem Fensterbrett stand.
»Hast du mich vermißt?« fragte Joan.
»Ja.« — »Sehr?«
»Ja.«
Die Biene flog auf. Sie zirkelte einige Male um das Glas. Dann summte sie durch das Fenster zurück in die Sonne und zu den Nelken des Emigranten Wiesenhoff.
Ravic lag neben Joan. Sommer, dachte er. Sommer, Wiesen am Morgen, das Haar mit dem Geruch nach Heu und die Haut wie Klee — das dankbare Blut, das lautlos strömte wie ein Bach und sich hob und wunschlos die sandigen Stellen überflutete, eine glatte Fläche, in der sich hoch ein Gesicht spiegelte, in dem es lächelte. Nichts war mehr trocken und tot, einen hellen Augenblick lang, Birken und Pappeln, Stille und das leise Murmeln, das wie ein Echo aus fernen verlorenen Himmeln kam und in den Adern klopfte.
»Ich möchte hierbleiben«, sagte Joan an seiner Schulter.
»Bleib hier. Laß uns schlafen.Wir haben wenig geschlafen.«
»Ich kann nicht. Ich muß fort.«
»Du kannst in deinem Abendkleid jetzt nirgendwo hingehen.«
»Ich habe ein anderes Kleid mitgebracht.«
»Wo?«
»Ich hatte es unter meinem Mantel. Schuhe auch. Es muß unter meinen Sachen liegen. Ich habe alles bei mir.«
Sie sagte nicht, wohin sie gehen mußte. Auch nicht warum. Und Ravic fragte nicht.
Die Biene erschien wieder. Sie summte nicht mehr ziellos umher. Sie flog geradezu auf das Glas zu und setzte sich auf den Rand. Sie schien etwas von Calvados zu verstehen. Oder von Obstzucker.
»Warst du so sicher, daß du hierbleiben würdest?«
»Ja«, sagte Joan, ohne sich zu rühren.
Rolande brachte ein Tablett mit Flaschen und Gläsern.
»Keinen Schnaps«, sagte Ravic.
»Du willst keinen Wodka? Es ist Subrowka.«
»Heute nicht. Du kannst mir Kaffee geben. Starken Kaffee.«
»Gut.«
Er packte das Mikroskop beiseite. Dann zündete er sich eine Zigarette an und trat ans Fenster. Die Platanen draußen hatten frisches, volles Laub. Das letztemal, als er hier war, waren sie noch kahl gewesen.
Rolande brachte den Kaffee. »Ihr habt mehr Mädchen als früher«, sagte Ravic.
»Zwanzig mehr.«
»Ist das Geschäft so gut? Jetzt, im Juni?«
Rolande setzte sich zu ihm. »Das Geschäft ist so gut, daß wir es nicht verstehen. Die Leute scheinen verrückt geworden zu sein. Es geht schon nachmittags los. Aber abends erst...«
»Vielleicht ist es das Wetter.«
»Es ist nicht das Wetter. Ich weiß, wie es sonst im Mai und Juni ist. Dies hier ist eine Art von Verrücktheit. Du glaubst nicht, wie die Bar geht. Kannst du dir vorstellen, daß Franzosen bei uns Champagner bestellen?«
»Nein.«
»Ausländer, gut. Dafür haben wir sie ja. Aber Franzosen! Sogar Pariser! Champagner! Und zahlen ihn! Statt Dubonnet oder Bier oder Fine. Kannst du das glauben?«
»Nur wenn ich es sehe.«
Rolande schenkte ihm Kaffee ein. »Und der Betrieb«, sagte sie. »Zum Taubwerden. Du wirst es ja sehen, wenn du herunter kommst. Um diese Zeit schon! Nicht mehr die vorsichtigen Fachleute, die auf deine Visiten warten. Eine ganze Bande hockt da schon! Was ist nur in die Leute gefahren, Ravic?«
Ravic hob die Schultern. »Es gibt da eine Geschichte von einem sinkenden Ozeandampfer.«
»Aber bei uns sinkt doch nichts, Ravic! Das Geschäft ist glänzend.«
Die Tür öffnete sich. Ninette, einundzwanzig Jahre alt, schmal wie ein Knabe, in ihren kurzen rosa Seidenhosen, trat ein. Sie hatte das Gesicht einer Heiligen und war eine der besten Huren des Etablissements. Im Augenblick trug sie ein Tablett mit Brot, Butter und zwei Töpfen Marmelade vor sich her. »Madame hat gehört, daß der Doktor Kaffee trinkt«, erklärte sie mit heiserer Baßstimme. »Sie schickt hier Marmelade zum Probieren. Selbstgemacht!« Ninette grinste plötzlich. Das Engelsgesicht barst in eine Gaminfratze. Sie schubste das Tablett auf den Tisch und entschwand tänzelnd.
»Da siehst du es«, seufzte Rolande. »Sofort frech! Wissen, daß wir sie brauchen.«
»Richtig«, sagte Ravic. »Wann sonst sollen sie es sein? Was bedeutet diese Marmelade?«
»Madames Stolz. Sie macht sie selbst. Auf ihrem Besitz an der Riviera. Ist wirklich gut. Willst du sie probieren?«
»Ich hasse Marmelade. Besonders, wenn Millionärinnen sie gekocht haben.«
Rolande schraubte die Glasdeckel ab, nahm ein paar Löffel voll Marmelade heraus, strich sie in ein dickes Stück Papier, tat ein Stück Butter und ein paar Scheiben Toast dazu, wickelte alles fest ein und gab es Ravic. »Wirf es nachher weg«, sagte sie. »Tue es ihr zuliebe. Sie kontrolliert nachher, ob du gegessen hast. Letzter Stolz einer alternden Frau ohne Illusionen. Tu es aus Höflichkeit.«
»Gut.« Ravic stand auf und öffnete die Tür. »Ziemlicher Radau«, sagte er. Er hörte von unten Stimmen, Musik, Gelächter und Rufen. »Sind das alles schon Franzosen?«
»Das nicht. Das sind meistens Ausländer.«
»Amerikaner?«
»Nein, das ist das Merkwürdige. Es sind meistens Deutsche. Wir haben noch nie so viele Deutsche hier gehabt.«
»Das ist nicht merkwürdig.«
»Die meisten sprechen sehr gut Französisch. Gar nicht wie Deutsche vor ein paar Jahren.«
»Das habe ich mir gedacht. Sind nicht auch viele Poilus hier? Rekruten und Kolonialsoldaten?«
»Die sind ja immer hier.«
Ravic nickte. »Und die Deutschen geben viel Geld aus, wie?«
Rolande lachte. »Das tun sie. Laden jeden ein, der was trinken will.«
»Speziell Soldaten, denke ich. Dabei hat Deutschland eine Sperrmark, und die Grenzen sind geschlossen. Man kann nur hinaus mit Erlaubnis der Behörden. Und man darf nicht mehr als zehn Mark mitnehmen. Sonderbar, diese lustigen Deutschen mit dem vielen Geld, die so gut Französisch sprechen, wie?«
Rolande zuckte die Achseln. »Von mir aus — solange ihr Geld echt ist...«
Er kam nach acht Uhr nach Hause. »Hat jemand für mich angerufen?« fragte er den Portier. »Nein.«
»Auch nachmittags nicht?« »Nein. Den ganzen Tag nicht.« »War jemand hier und hat nach mir gefragt?« Der Portier schüttelte den Kopf. »Kein Mensch.« Ravic ging die Treppen hinauf. Im ersten Stock hörte er das Ehepaar Goldberg miteinander streiten. Im zweiten Stock schrie ein Kind. Es war der französische Staatsbürger Lucien Silbermann. Ein Jahr und zwei Monate alt. Für seine Eltern, den Kaffeehändler Siegfried Silbermann und seine Frau Nelly geborene Levy aus Frankfurt am Main, war er ein Heiligtum und ein Spekulationsobjekt. Er war in Frankreich geboren, und sie hofften, durch ihn zwei Jahre früher französische Pässe zu bekommen. Lucien hatte mit der Intelligenz der Einjährigen sich daraufh in zum Familientyrann entwickelt. Im dritten Stock dudelte ein Grammophon. Es gehörte dem Refugié Wohlmeier, früher Konzentrationslager Oranienburg, und spielte deutsche Volkslieder. Der Korridor roch nach Kohl und Dämmerung.
Ravic ging in sein Zimmer, um zu lesen. Er hatte irgendwann einige Bände Weltgeschichte gekauft und suchte sie hervor. Es war nicht besonders erheiternd, sie zu lesen. Das einzige, was herauskam, war eine sonderbar deprimierende Genugtuung, daß nichts neu war, was heute passierte. Alles war dutzendemal dagewesen. Die Lügen, die Treubrüche, die Morde, die Bartholomäusnächte, die Korruption durch den Willen zur Macht, die unablässige Kette der Kriege — die Geschichte der Menschheit war mit Blut und Tränen geschrieben, und unter tausend blutbefleckten Statuen der Vergangenheit glänzte nur selten eine, über der das Silber der Güte lag. Die Demagogen, die Betrüger, die Vater- und Freundes-mörder, die nachttrunkenen Egoisten, die fanatischen Propheten, die die Liebe mit dem Schwerte predigten; es war immer dasselbe, und immer wieder waren geduldige Völker da, gegeneinander getrieben in sinnlosem Töten für Kaiser, Religionen und Wahnsinnige — es hatte kein Ende.
Er stellte die Bücher beiseite. Durch das offene Fenster unter ihm kamen Stimmen. Er erkannte sie — es waren Wiesenhoff und Frau Goldberg. »Jetzt nicht«, sagte Ruth Goldberg. »Er kommt bald zurück. In einer Stunde.«
»Eine Stunde ist eine Stunde.«
»Vielleicht kommt er auch früher.«
»Wo ist er hingegangen?«
»Zur Amerikanischen Botschaft. Er macht das jeden Abend. Steht draußen und sieht sie an. Weiter nichts. Dann kommt er zurück.«
Wiesenhoff sagte etwas, das Ravic nicht verstand. »Natürlich«, erwiderte Ruth Goldberg zänkisch. »Wer ist nicht verrückt? Daß er alt ist, weiß ich auch.«
»Laß das«, sagte sie nach einer Weile. »Ich habe keine Lust jetzt. Bin nicht in Stimmung.«
Wiesenhoff erwiderte etwas.
»Du hast gut reden«, sagte sie. »Er hat doch das Geld. Ich habe keinen Centime. Und du...«
Ravic stand auf. Er blickte auf das Telefon und zögerte. Es war beinahe zehn Uhr. Er hatte von Joan nichts mehr gehört, seit sie morgens gegangen war. Er hatte sie nicht gefragt, ob sie abends kommen würde. Er war sicher gewesen, daß sie kommen würde. Jetzt war er es nicht mehr.
»Für dich ist das einfach! Du willst nur dein Vergnügen haben, sonst nichts«, sagte Frau Goldberg.
Ravic ging zu Morosow. Sein Zimmer war verschlossen. Er stieg die Treppen hinunter zur Katakombe. »Wenn jemand anruft, ich bin da unten«, sagte er zu dem Concierge.
Morosow war da. Er spielte Schach mit einem rothaarigen Mann. Ein paar Frauen saßen in den Ecken herum. Sie strickten oder lasen mit sorgenvollen Gesichtern.
Ravic sah eine Zeitlang dem Schachspiel zu. Der rothaarige Mann war gut. Er spielte rasch und völlig unbeteiligt, und Morosow war am Verlieren. »Allerhand, was mir hier passiert, was?« fragte er.
Ravic zuckte die Achseln. Der rothaarige Mann sah auf. »Das ist Herr Finkenstein«, sagte Morosow. »Frisch aus Deutschland.«
Ravic nickte. »Wie ist es da jetzt?« fragte er ohne Interesse, nur um etwas zu sagen.
Der rothaarige Mann hob die Schultern und sagte nichts. Ravic hatte es auch nicht erwartet. Das hatte es nur in den ersten Jahren gegeben: das eilige Fragen, die Erwartung, das fieberhafte Horchen auf einen Zusammenbruch. Jetzt wußte jeder längst, daß nur ein Krieg das bringen konnte. Und jeder Mensch mit etwas Verstand wußte ebenso, daß eine Regierung, die ihr Arbeitslosenproblem durch die Rüstungsindustrie löste, nur zwei Möglichkeiten hatte: Krieg oder eine interne Katastrophe. Also Krieg.
»Matt«, sagte Finkenstein ohne Enthusiasmus und stand auf. Er sah Ravic an. »Was macht man nur, damit man schläft? Ich kann hier nicht schlafen. Ich schlafe ein und wache sofort wieder auf.«
»Trinken«, sagte Morosow. »Burgunder, viel Burgunder oder Bier.«
»Ich trinke nicht. Ich bin schon stundenlang durch die Straßen gegangen, bis ich dachte, ich wäre todmüde. Es nützt nichts. Ich kann nicht schlafen.«
»Ich werde Ihnen ein paar Tabletten geben«, sagte Ravic. »Kommen Sie mit mir herauf.«
»Komm zurück, Ravic«, rief Morosow ihm nach. »Laß mich nicht hier allein, Bruder!«
Ein paar Frauen blickten auf. Dann strickten oder lasen sie weiter, als hinge ihr Leben davon ab. Ravic ging mit Finkenstein zu seinem Zimmer. Als er die Tür öffnete, kam ihm die Nachtluft durch das Fenster entgegen wie eine dunkle, kühle Welle. Er atmete tief, drehte das Licht an und blickte rasch durch den Raum. Niemand war da. Er gab Finkenstein einige Tabletten.
»Danke«, sagte Finkenstein, ohne sein Gesicht zu bewegen, und ging wie ein Schatten hinaus.
Ravic wußte plötzlich, daß Joan nicht kommen würde. Er wußte auch, daß er es schon morgens getan hatte. Er hatte es nur nicht wahrhaben wollen. Er blickte sich um, als hätte jemand hinter ihm etwas gesagt. Es war auf einmal alles ganz klar und einfach. Sie hatte erreicht mit ihm, was sie wollte, und jetzt ließ sie sich Zeit.Was hatte er denn erwartet? Daß sie alles hinwerfen würde seinetwegen? Daß sie zurückkommen würde wie früher? Welch eine Narrheit! Natürlich war da ein anderer, und nicht nur ein anderer, sondern auch ein anderes Leben, das sie nicht aufgeben wollte!
Er ging wieder hinunter. Er fühlte sich ziemlich elend. »Jemand angerufen?« fragte er.
Der Nachtconcierge, der gerade gekommen war, schüttelte den Kopf, den Mund voll Knoblauchwurst.
»Ich warte auf einen Anruf. Bin einstweilen unten.«
Er ging zu Morosow zurück.
Sie spielten eine Partie Schach. Morosow gewann und sah sich zufrieden um. Die Frauen waren inzwischen lautlos verschwunden. Er läutete mit der Ministrantenglocke. »Clarisse! Eine Karaffe Rosé.«
»Dieser Finkenstein spielt wie eine Nähmaschine«, erklärte er. »Zum Speien! Ein Mathematiker. Ich hasse Perfektion. Es ist nicht menschlich.« Er sah Ravic an. »Wozu bist du hier an einem solchen Abend?«
»Ich warte auf einen Anruf.«
»Bist du wieder einmal dabei, jemand auf eine wissenschaftliche Weise umzubringen?«
»Ich habe gestern jemand den Magen herausgeschnitten.«
Morosow schenkte die Gläser voll. »Da sitzt du und trinkst«, sagte er. »Und drüben liegt dein Opfer und deliriert. Auch darin ist etwas Unmenschliches. Du solltest zum wenigsten Magenschmerzen haben.«
»Richtig«, erwiderte Ravic. »Darin liegt das Elend der Welt, Boris, wir spüren nie, was wir anrichten. Aber warum willst du gerade bei den Ärzten mit deiner Reform beginnen? Politiker und Generäle wären besser dafür.Wir würden dann Weltfrieden haben.«
Morosow lehnte sich zurück und betrachtete Ravic. »Ärzte soll man nie persönlich kennen«, erklärte er. »Es nimmt etwas vom Vertrauen. Ich bin mit dir betrunken gewesen — wie kann ich mich da von dir operieren lassen? Ich könnte wissen, daß du ein besserer Operateur bist als ein anderer, den ich nicht kenne — ich würde trotzdem den anderen nehmen. Vertrauen zum Unbekannten — eine tiefe, menschliche Eigenschaft, alter Knabe! Ärzte sollten in Hospitälern wohnen und nie ’rausgelassen werden ins Profane. Eure Vorgänger, die Hexen und Zauberdoktoren, wußten das. Wenn ich operiert werde, will ich an Übermenschliches glauben.«
»Ich würde dich auch nicht operieren, Boris.«
»Warum nicht?«
»Kein Arzt operiert gern seinen Bruder.«
»Ich werde dir den Gefallen ohnehin nicht tun. Ich sterbe an Herzschlag im Schlaf. Arbeite munter darauf hin.«
Morosow starrte Ravic an wie ein fröhliches Kind. Dann stand er auf.
»Ich muß los. Türen öffnen im Kulturzentrum Montmartre. Wozu lebt der Mensch eigentlich?«
»Um darüber nachzudenken. Sonst vielleicht noch irgendwelche Fragen?«
»Ja. Wozu, wenn er das getan hat und etwas Vernünftiges geworden ist, stirbt er dann gerade?«
»Manche Menschen sterben auch, ohne vernünftiger geworden zu sein.«
»Weiche mir nicht aus. Und komm mir nicht mit Seelenwanderung.«
»Ich will dich vorher etwas anderes fragen. Löwen töten Antilopen; Spinnen Fliegen; Füchse Hühner — welches ist die einzige Rasse der Welt, die sich immerfort selbst bekriegt, bekämpft und tötet?«
»Das sind Fragen für Kinder. Die Krone der Schöpfung natürlich, der Mensch, der die Worte Liebe, Güte und Barmherzigkeit erfunden hat.«
»Gut. Wer ist das einzige Wesen in der Natur, das Selbstmord begehen kann und begeht?«
»Der Mensch wiederum — der die Ewigkeit, Gott und die Auferstehung erfunden hat.«
»Vortrefflich«, sagte Ravic. »Du siehst, aus wie vielen Widersprüchen wir bestehen. Und du willst wissen, warum wir sterben?«
Morosow blickte überrascht auf. Dann nahm er einen großen Schluck. »Du Sophist«, erklärte er. »Du Drückeberger.«
Ravic sah ihn an. Joan, dachte etwas in ihm. Wenn sie jetzt hereinkäme durch die schmutzige Glastür drüben. »Der Fehler war, Boris«, sagte er, »daß wir zu denken anfingen. Wären wir bei der Seligkeit der Brunst und des Fressens geblieben, wäre alles nicht passiert. Irgend jemand experimentiert mit uns — aber er scheint die Lösung noch nicht gefunden zu haben. Wir wollen uns nicht beklagen. Auch Versuchstiere sollten professionellen Stolz haben.«
»Sagen die Schlächter. Nicht die Ochsen. Sagen die Wissenschaftler. Nie die Meerschweinchen. Sagen die Ärzte. Nie die weißen Mäuse.«
»Richtig. — Es lebe das Gesetz vom zureichenden Grund. Komm, Boris, laß uns ein Glas trinken auf die Schönheit — die holde Ewigkeit der Sekunde. Weißt du, was der Mensch auch als einziger kann? Lachen und weinen.«
»Und sich betrinken. Mit Schnaps, Wein, Philosophie und Weibern und Hoffnung und Verzweiflung. Weißt du, was er auch als einziger weiß? Daß er sterben muß. Als Gegengift bekam er die Phantasie. Der Stein ist real. Die Pflanze auch. Das Tier ebenfalls. Sie sind zweckmäßig. Sie wissen nicht, daß sie sterben müssen. Der Mensch weiß es. Hebe dich, Seele! Fliege! Schluchze nicht, du legaler Mörder! Haben wir nicht soeben das Hohelied der Menschheit gesungen?«
Morosow schüttelte die graue Palme, daß der Staub flog. »Braves Symbol rührend südlicher Hoffnung, Traumpflanze einer französischen Hotelwirtin, lebe wohl! Und du auch, Mann ohne Heimat, Schlinggewächs ohne Erde, Taschendieb des Todes, lebe wohl! Sei stolz, daß du ein Romantiker bist!«
Er grinste Ravic an.
Ravic grinste nicht zurück. Er sah zur Tür. Sie hatte sich geöffnet. Der Nachtportier kam herein. Er kam auf den Tisch zu. Telefon, dachte Ravic. Endlich! Doch!
Er stand nicht auf.
Er wartete. Er fühlte, wie seine Arme sich spannten.
»Ihre Zigaretten, Herr Morosow«, sagte der Portier. »Der Junge hat sie gerade gebracht.«
»Danke.« Morosow steckte die Schachtel mit den russischen Zigaretten ein. »Servus, Ravic. Sehe ich dich später?«
»Vielleicht. Servus, Boris.«
Der Mann ohne Magen starrte Ravic an. Ihm war schlecht, aber er konnte nicht erbrechen. Er hatte nichts mehr, womit er erbrechen konnte. Ihm war wie einem Mann ohne Beine, dem die Füße schmerzten.
Er war sehr unruhig. Ravic gab ihm eine Spritze. Der Mann hatte nicht viel Chance, am Leben zu bleiben. Das Herz war nicht besonders, und eine der Lungen war voll von verkapselten Kavernen. Für fünfunddreißig Jahre hatte er nicht viel Gesundheit in seinem Leben gehabt. Magenulcus seit Jahren, eine verheilte Tuberkulose und jetzt Krebs. Die Krankengeschichte zeigte, daß er vier Jahre verheiratet gewesen war; die Frau war im Kindbett gestorben; das Kind drei Jahre später an Tuberkulose. Keine andern Angehörigen. Da lag das nun und starrte ihn an und wollte nicht sterben und war geduldig und mutig und wußte nicht, daß er durch den Darm ernährt werden mußte und nicht mehr eine der wenigen Freuden seines Daseins, Senfgurken und gekochtes Rindfleisch, essen durfte. Er lag da und roch und war zerschnitten und hatte irgend etwas, das seine Augen bewegte und das man Seele nannte. Sei stolz, daß du ein Romantiker bist! Das Hohelied der Menschheit.
Ravic hängte die Tafel mit der Fieberziffer und der Pulsangabe zurück. Die Schwester stand auf und wartete. Sie hatte einen angefangenen Sweater neben sich auf dem Stuhl liegen. Die Stricknadel steckte darin, und ein Knäuel Wolle lag auf dem Boden.
Der dünne Faden Wolle, der herunterhing, war wie ein dünner Faden Blut; als blute der Sweater herunter.
Der liegt da, dachte Ravic, und selbst mit der Spritze wird er eine scheußliche Nacht haben mit Schmerzen, Unbeweglichkeit, Atemnot und Schreckensträumen, und ich warte auf eine Frau und glaube, daß es eine schwierige Nacht für mich werden wird, wenn sie nicht kommt. Ich weiß, wie lächerlich das ist, verglichen mit diesem Sterbenden hier, verglichen mit Gaston Perrier nebenan, dessen Arm zerschmettert ist, verglichen mit tausend andern, verglichen mit all dem, was in der Welt heute nacht passiert, und es nützt mir trotzdem nichts. Es nützt nichts, es hilft nichts, es ändert nichts, es bleibt dasselbe. Was hatte Morosow gesagt? Warum hast du keine Magenschmerzen? Ja, warum nicht?
»Rufen Sie mich an, wenn irgend etwas passiert«, sagte er zu der Schwester. Es war dieselbe, die von Kate Hegström das Grammophon geschenkt bekommen hatte.
»Der Herr ist sehr ergeben«, sagte sie.
»Was ist er?« fragte Ravic erstaunt.
»Sehr ergeben. Ein guter Patient.«
Ravic sah umher. Da war nichts, was die Nurse als Geschenk erwarten konnte. Sehr ergeben — was für Ausdrükke die Krankenschwestern manchmal hatten! Der arme Teufel da kämpfte mit allen Armeen seiner Blutkörper und seiner Nervenzellen gegen den Tod — er war nicht die Spur ergeben.
Er ging zum Hotel zurück.Vor der Tür traf er Goldberg. Ein alter Mann mit einem grauen Bart und einer dicken goldenen Uhrkette auf der Weste.
»Schöner Abend«, sagte Goldberg.
»Ja.« Ravic dachte an die Frau in Wiesenhoffs Zimmer. »Wollen Sie nicht noch etwas Spazierengehen?« fragte er.
»Ich war schon. Bis zum Concorde und zurück.«
Bis zum Concorde. Da lag die Amerikanische Botschaft. Weiß unter den Sternen, still und leer, eine Arche Noah, in der es Stempel für Visa gab, unerreichbar. Goldberg hatte davor gestanden, draußen, neben dem Crillon, und auf den Eingang und die dunklen Fenster gestarrt wie auf einen Rembrandt oder den Koh-i-noor-Diamanten.«
»Wollen wir nicht noch etwas gehen? Zum Arc zurück?« fragte Ravic und dachte: Wenn ich die zwei da oben rette, wird Joan in meinem Zimmer sein oder, sie wird inzwischen kommen.
Goldberg schüttelte den Kopf.
»Ich muß ’rauf. Meine Frau wartet sicher schon. Ich war über zwei Stunden fort.«
Ravic sah auf die Uhr. Es ging auf halb eins. Da war nichts zu retten. Die Frau war längst wieder zurück in ihrem Zimmer. Er sah Goldberg nach, der langsam die Treppe hinaufstieg. Dann ging er zum Portier. »Hat jemand für mich angerufen?«
»Nein.«
Das Zimmer war hell erleuchtet. Er erinnerte sich, es so verlassen zu haben. Das Blatt schimmerte, als hätte es überraschend geschneit. Er nahm den Zettel, den er auf den Tisch gelegt hatte, bevor er ging und auf dem stand, daß er in einer halben Stunde zurück sein werde, und zerriß ihn. Er suchte nach etwas zu trinken. Es war nichts da. Er ging wieder nach unten. Der Portier hatte keinen Calvados. Er hatte nur Kognak. Er nahm eine Flasche Hennessy und eine Flasche Vouvray mit. Er redete eine Zeitlang mit dem Portier, der ihm bewies, daß Loulu II. die besten Chancen beim nächsten Rennen der Zweijährigen in St. Cloud habe. Der Spanier Alvarez kam vorbei. Ravic sah, daß er eine Spur hinkte. Er kaufte eine Zeitung und ging auf sein Zimmer zurück.Wie lang so ein Abend sein konnte.Wer in der Liebe nicht an Wunder glaubt, ist verloren, hatte Rechtsanwalt Arensen 1933 in Berlin gesagt. Drei Wochen später hatte man ihn in ein Konzentrationslager gesteckt, weil seine Geliebte ihn denunziert hatte. Ravic öffnete eine Flasche Vouvray und holte einen Band Plato vom Tisch. Er legte ihn ein paar Minuten später weg und setzte sich ans Fenster.
Er starrte auf das Telefon. Dieser verdammte schwarze Apparat. Er konnte Joan nicht anrufen. Er wußte ihre neue Nummer nicht. Er wußte nicht einmal, wo sie wohnte. Er hatte nicht gefragt, und sie hatte es ihm nicht gesagt. Wahrscheinlich hatte sie absichtlich nichts gesagt. Sie hatte dann immer noch eine Entschuldigung.
Er trank ein Glas von dem leichten Wein. Albern, dachte er. Ich warte auf eine Frau, die noch heute morgen hier war. Ich habe sie dreieinhalb Monate nicht gesehen und sie nicht so entbehrt wie jetzt, wo sie einen Tag nicht dagewesen war. Es wäre einfacher gewesen, wenn ich sie nie wiedergesehen hätte. Ich war darauf eingestellt. Jetzt...
Er stand auf. Das war es auch nicht. Es war die Unsicherheit, die in ihm fraß. Es war das Mißtrauen, das sich Stunde um Stunde in ihn eingeschlichen hatte.
Er ging zur Tür. Er wußte, daß sie nicht abgeschlossen war; aber er sah noch einmal nach. Er begann, die Zeitung zu lesen; aber er las sie wie durch einen Schleier. Zwischenfälle in Polen. Die unvermeidlichen Zusammenstöße. Der Anspruch auf den Korridor. Das Bündnis Englands und Frankreichs mit Polen. Der Krieg, der näher kam. Er ließ die Zeitung auf den Boden gleiten und löschte das Licht. Er lag im Dunkeln und wartete. Er konnte nicht schlafen. Er knipste das Licht wieder an. Die Flasche Hennessy stand auf dem Tisch. Er öffnete sie nicht. Er stand auf und setzte sich ans Fenster. Die Nacht war kühl und hoch und voller Sterne. Ein paar Katzen schrien von den Höfen her. Ein Mann in Unterhosen stand auf dem Balkon gegenüber und kratzte sich. Er gähnte laut und ging in sein erleuchtetes Zimmer zurück. Ravic sah auf das Bett. Er wußte, er würde nicht schlafen können. Lesen hatte auch keinen Zweck. Er erinnerte sich kaum, was er vorher gelesen hatte. Weggehen — das wäre das beste. Aber wohin? Es war alles gleich. Er wollte auch nicht weggehen. Er wollte etwas wissen. Verdammt — er hielt die Flasche Kognak in der Hand und stellte sie zurück. Dann ging er zu seiner Tasche und holte ein paar Schlaftabletten heraus. Die gleichen Tabletten, die er dem rothaarigen Finkenstein gegeben hatte. Der schlief jetzt. Ravic schluckte sie. Zweifelhaft, ob er selber schlafen würde. Er nahm noch eine. Wenn Joan käme, würde er schon aufwachen.
Sie kam nicht. Auch nicht in der nächsten Nacht.