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Eugenie steckte ihren Kopf in das Zimmer, in dem der Mann ohne Magen lag. »Telefon, Herr Ravic.« »Wer ist dran?« »Ich weiß es nicht. Ich habe nicht gefragt. Die Telefonistin sagte es mir draußen.«
Ravic kannte Joans Stimme im Augenblick nicht. Sie war verschleiert und sehr weit. »Joan«, sagte er. »Wo bist du?«
Sie klang, als wäre sie außerhalb von Paris. Er erwartete fast, daß sie irgendeinen Ort an der Riviera sagen würde. Sie hatte ihn früher nie in der Klinik angerufen. »Ich bin in meiner Wohnung«, sagte sie.
»Hier in Paris?«
»Natürlich. Wo sonst?«
»Bist du krank?«
»Nein. Warum?«
»Weil du in der Klinik anrufst.«
»Ich habe schon im Hotel angerufen. Du warst nicht mehr da. Da habe ich in der Klinik angerufen.« »Ist etwas los?« »Nein. Was soll los sein? Ich wollte wissen, wie es dir geht.«
Ihre Stimme war jetzt klarer. Ravic zog eine Zigarette und einen Karton mit Streichhölzern hervor. Er klemmte das Oberteil unter seinen Ellbogen, riß ein Streichholz ab und zündete es an.
»Es ist die Klinik, Joan«, sagte er. »Man erwartet da immer Unglücksfälle und Krankheiten.«
»Ich bin nicht krank. Ich bin im Bett, aber ich bin nicht krank.«
»Gut.« Ravic schob die Streichhölzer auf dem weißen Wachstuch des Tisches hin und her. Er wartete auf das, was kommen würde.
Joan wartete auch. Er hörte sie atmen. Sie wollte, daß er beginnen sollte. Es war einfacher für sie.
»Joan«, sagte er. »Ich kann nicht lange am Telefon bleiben. Ich habe einen Verband offen und muß zurück.«
Sie schwieg einen Augenblick. »Warum höre ich nichts von dir?« sagte sie dann.
»Du hörst nichts von mir, weil ich weder deine Telefonnummer habe noch weiß, wo du wohnst.«
»Aber das habe ich dir doch gesagt.«
»Nein, Joan.«
»Doch. Ich habe es dir gesagt.« Sie war jetzt auf sicherem Boden. »Bestimmt. Ich weiß es. Du hast es nur wieder vergessen.«
»Gut. Ich habe es vergessen. Sage es mir noch einmal. Ich habe einen Bleistift hier.«
Sie gab ihm ihre Adresse und Telefonnummer. »Ich bin überzeugt, daß ich es dir gesagt habe, Ravic. Ganz bestimmt.«
»Schön, Joan. Ich muß zurück. Wollen wir heute abend zusammen essen?«
Sie schwieg einen Moment. »Warum kommst du mich nicht einmal besuchen?« fragte sie dann.
»Gut. Das kann ich auch. Heute abend. Um acht?«
»Warum kommst du nicht jetzt?«
»Jetzt muß ich arbeiten.«
»Wie lange?«
»Ungefähr noch eine Stunde.«
»Komm dann.«
Ach so, abends hast du keine Zeit, dachte er und fragte: »Warum nicht abends?«
»Ravic«, sagte sie. »Manchmal weißt du die einfachsten Sachen nicht. Weil ich gern möchte, daß du jetzt kommst. Ich will nicht warten bis abends. Weshalb würde ich sonst wohl um diese Zeit in der Klinik anrufen?«
»Gut. Ich komme, wenn ich hier fertig bin.« Er faltete nachdenklich den Zettel zusammen und ging zurück.
Es war ein Haus an der Ecke der Rue Pascal. Joan wohnte im obersten Stock. Sie öffnete die Tür. »Komm«, sagte sie. »Gut, daß du da bist! Komm ’rein.«
Sie trug ein einfaches schwarzes Dressing-gown, das so geschnitten war wie das eines Mannes. Es war eine ihrer Eigenschaften, die Ravic gern an ihr hatte: sie trug nie irgendwelche wolkigen Tüll- oder Seidenangelegenheiten. Ihr Gesicht war blasser als gewöhnlich und etwas erregt. »Komm«, sagte sie. »Ich habe auf dich gewartet. Du sollst doch sehen, wie ich wohne.«
Sie ging ihm voran. Ravic lächelte. Sie war geschickt. Sie brach im voraus jede Frage ab. Er blickte auf die schönen, geraden Schultern. Das Licht fiel auf ihr Haar. Er liebte sie einen atemlosen Augenblick sehr.
Sie führte ihn in einen großen Raum. Es war ein Studio, das voll im Mittagslicht lag. Ein hohes, breites Fenster ging zu den Gärten zwischen der Avenue Raphael und der Avenue Proudhon hinaus. Nach rechts konnte man bis zur Porte de la Muette sehen. Dahinter schimmerte golden und grün ein Stück des Bois.
Der Raum war im halbmodernen Geschmack eingerichtet. Eine große Couch mit zu blauem Bezug; ein paar Sessel, die bequemer aussahen als sie waren; zu niedrige Tische; ein Gummibaum; ein amerikanisches Grammophon und einer von Joans Koffern in der Ecke. Es störte nichts; aber Ravic hatte trotzdem nicht viel dafür übrig. Entweder ganz gut oder ganz scheußlich — halbe Sachen sagten ihm nichts. Und Gummibäume konnte er nicht ausstehen.
Er merkte, daß Joan ihn beobachtete. Sie war nicht ganz sicher, wie er es nehmen würde; aber sie war sicher genug gewesen, es zu riskieren.
»Schön«, sagte er. »Groß und schön.«
Er hob den Deckel des Grammophons auf. Es war ein guter Truhenapparat mit einem Mechanismus, der automatisch die Platten wechselte. Auf einem Tisch daneben lag ein Haufen Platten, Joan nahm einige und legte sie auf.
»Weißt du, wie er funktioniert?«
Er wußte es. »Nein«, sagte er.
Sie drehte einen Knopf. »Er ist wunderbar. Spielt für Stunden. Man braucht nicht aufzustehen und Platten zu wechseln und umzuschalten. Man kann daliegen und zuhören und sehen, wie es draußen dunkler wird, und träumen.«
Der Apparat war ausgezeichnet. Ravic kannte die Marke und wußte, daß er ungefähr zwanzigtausend Frank kostete. Er füllte den Raum mit weicher, schwebender Musik — mit den sentimentalen Liedern von Paris. »J’attendrai«...
Joan stand vorgebeugt und lauschte. »Gefällt es dir?« fragte sie.
Ravic nickte. Er sah nicht auf den Apparat. Er sah auf Joan. Er sah auf ihr Gesicht, das entzückt war und hingegeben an die Musik. Wie leicht das bei ihr war — und wie er sie geliebt hatte wegen dieser Leichtigkeit, die er nicht hatte! Vorbei, dachte er ohne Schmerz, mit einem Gefühl wie jemand, der Italien verläßt und zurückgeht in den nebligen Norden.
Sie richtete sich auf und lächelte. »Komm — du hast das Schlafzimmer noch nicht gesehen.«
»Muß ich es sehen?«
Sie sah ihn eine Sekunde forschend an. »Willst du es nicht sehen? Warum nicht?«
»Ja, warum nicht?« sagte er.
»Natürlich.«
Sie streifte sein Gesicht und küßte ihn, und er wußte, weshalb. »Komm«, sagte sie und nahm seinen Arm.
Das Schlafzimmer war französisch eingerichtet. Das Bett groß, im Stil Louis XVI. und künstlich antiquiert — ein nierenförmiger Toilettentisch der gleichen Art — ein falscher Barockspiegel — ein moderner Aubussonteppich — Stühle, Sessel, alles im Stile eines billigeren Filmsets. Dazwischen eine sehr schöne, gemalte florentinische Truhe aus dem sechzehnten Jahrhundert, die überhaupt nicht hineinpaßte und wirkte wie eine Prinzissin unter reich gewordenen Portierskindern. Sie war achtlos in die Ecke geschoben. Ein Hut mit Veilchen und ein paar silberne Schuhe lagen auf ihrem kostbaren Deckel.
Das Bett war offen und nicht gemacht. Ravic konnte sehen, wo Joan gelegen hatte. Eine Anzahl Parfümflaschen stand auf dem Toilettentisch. Einer der eingebauten Schränke war geöffnet. Eine Anzahl Kleider hing darin. Mehr, als sie früher gehabt hatte. Joan hatte Ravics Arm nicht losgelassen. Sie lehnte sich an ihn. »Gefällt es dir?«
»Gut. Paßt sehr gut zu dir.«
Sie nickte. Er fühlte ihren Arm und ihre Brust, und ohne zu denken, zog er sie näher an sich. Sie ließ es geschehen und gab nach. Ihre Schultern berührten seine Schultern. Ihr Gesicht war ruhig; es war nichts mehr von der leichten Erregung des Anfangs darin. Es war sicher und klar, und es schien Ravic, als wäre mehr als unterdrückte Befriedigung darin — ein fast unsichtbarer, ferner Schatten von Triumph.
Sonderbar, wie gut ihnen Niederträchtigkeiten bekommen, dachte er. Ich soll hier zu einer Art von Zweiter-Klasse-Gigolo gemacht werden und bekomme mit naiver Unverschämtheit sogar die Bude gezeigt, die ihr Liebhaber ihr eingerichtet hat — und dabei sieht sie gerade jetzt aus wie die Nike von Samothrake.
»Schade, daß du so etwas nicht haben kannst«, sagte sie. »Eine Wohnung. Man fühlt sich ganz anders darin. Anders als in diesen traurigen Hotelzimmern.«
»Du hast recht. Es war gut, dies hier noch gesehen zu haben. Ich gehe jetzt, Joan...«
»Du willst gehen? Schon? Du bist gerade jetzt erst gekommen.«
Er nahm ihre Hände. »Ich gehe, Joan. Für immer. Du lebst mit jemand anderem. Und ich teile Frauen, die ich liebe, nicht mit anderen Männern.«
Sie riß ihre Hände los. »Was? Was sagst du da? Ich... wer hat dir denn das erzählt? So etwas!« Sie starrte ihn an. »Ich kann mir schon denken! Morosow natürlich, dieser...«
»Kein Morosow! Mir braucht niemand etwas zu erzählen. Es erzählt sich von selbst.«
Ihr Gesicht war plötzlich voll bleicher Wut. Sie war schon sicher gewesen, und jetzt kam es doch. »Ich weiß schon! Weil ich diese Wohnung habe und nicht mehr in der Scheherazade bin! Da muß natürlich gleich einer da sein, der mich aushält! Natürlich! Anders geht es ja nicht!«
»Ich habe nicht gesagt, daß dich jemand aushält.«
»Es ist dasselbe. Ich verstehe schon! Erst bringst du einen in diese Nachtklubbude hinein, dann läßt du mich allein, und wenn man dann einmal mit jemand redet oder jemand kümmert sich um einen, dann heißt es gleich, man wird ausgehalten! So ein Portier hat ja nichts anderes als eine schmutzige Phantasie! Daß man selber etwas ist und selber arbeiten und etwas werden kann, geht natürlich nicht in diese Trinkgeldseele hinein! Und du, du, ausgerechnet du kommst damit an! Daß du dich nicht schämst!«
Ravic drehte sie um, packte sie an den Armen, hob sie hoch und warf sie über das Fußende hinüber auf das Bett. »So!« sagte er. »Und nun hör auf mit diesem Unsinn!«
Sie war so überrascht, daß sie liegenblieb. »Willst du mich nicht auch schlagen?« fragte sie dann.
»Nein. Ich will nur, daß dieses Geschwätz aufhört.«
»Es sollte mich nicht wundern«, sagte sie leise und gepreßt. »Es sollte mich nicht wundern.«
Sie lag still da. Ihr Gesicht war leer und weiß, der Mund war blaß, und ihre Augen glänzten leblos wie Glas. Ihre Brust war halb offen, und ein Bein hing nackt über die Ecke des Bettes. »Ich rufe dich an«, sagte sie, »ahnungslos, ich freue mich, ich will mit dir zusammen sein — und dann kommt so etwas! So etwas!« wiederholte sie verächtlich. »Und ich dachte, du wärest anders!«
Ravic stand an der Tür des Schlafzimmers. Er sah den Raum mit seiner falschen Einrichtung, er sah Joan auf dem Bett liegen, und er sah, wie gut das alles zusammen paßte. Er ärgerte sich, daß er etwas gesagt hatte. Er hätte gehen sollen, ohne etwas zu sagen, und damit Schluß. Aber dann wäre sie zu ihm gekommen, und es wäre dasselbe gewesen.
»Du«, wiederholte sie. »Von dir hätte ich das nicht erwartet. Ich dachte, du wärest anders.«
Er antwortete nicht. Es war alles so billig, daß es fast unerträglich war. Er begriff plötzlich nicht mehr, daß er drei Tage lang geglaubt hatte, wenn sie nicht wiederkäme, könne er nie mehr schlafen. Was ging ihn das alles noch an? Er zog eine Zigarette hervor und zündete sie an. Sein Mund war trocken. Er hörte, daß das Grammophon immer noch spielte. Es wiederholte die Platte, die es am Anfang gespielt hatte: J’attendrai. — Er ging in das Nebenzimmer und stellte es ab.
Sie lag unbeweglich da, als er zurückkam. Es schien, als hätte sie sich nicht bewegt. Aber das Dressing-gown war weiter offen als vorher. »Joan«, sagte er, »je weniger wir darüber reden, desto besser...«
»Ich habe nicht angefangen.«
Er hätte ihr am liebsten eine Flasche Parfüm an den Kopf geworfen. »Das weiß ich«, sagte er. »Ich habe angefangen, und ich höre jetzt auf.«
Er drehte sich um und ging. Aber bevor er an der Tür des Studios war, stand sie vor ihm. Sie schlug die Tür zu und stellte sich davor, die Arme und Hände gegen das Holz gepreßt. »So!« sagte sie. »Du hörst auf! Du hörst auf und gehst. Das ist einfach, was? Aber ich habe noch etwas zu sagen! Ich habe noch viel zu sagen! Du, du selbst hast mich gesehen in der Cloche d’Or, du hast gesehen, mit wem ich war, und als ich nachts zu dir kam, da war alles egal, du schliefst mit mir, und morgens war es immer noch egal, du hattest noch nicht genug und schliefst wieder mit mir, und ich liebte dich, und du warst wunderbar und wolltest nichts wissen, und ich liebte dich dafür wie nie vorher, ich wußte, du mußtest so sein und nicht anders, ich habe geweint, als du schliefst, und dich geküßt und war glücklich und ging nach Hause und betete dich an — und jetzt! Jetzt kommst du und wirfst mir vor, was du damals, als du mit mir schlafen wolltest, so großartig mit einer Handbewegung beiseite geschoben und vergessen hattest, jetzt holst du es heraus und hältst es mir hin und stehst da, ein beleidigter Tugendwächter, und machst eine Szene wie ein eifersüchtiger Ehemann! Was willst du denn von mir? Was für ein Recht hast du dazu?«
»Keines«, sagte Ravic.
»So! Gut, daß du das wenigstens einsiehst. Wozu kommst du her und wirfst mir das heute ins Gesicht? Warum hast du es nicht getan, als ich nachts zu dir kam? Natürlich, da...«
»Joan...«, sagte Ravic.
Sie verstummte.
Ihr Atem ging rasch, und sie starrte ihn an.
»Joan«, sagte er. »In der Nacht, als du zu mir kamst, glaubte ich, du kämest zurück. Das war genug. Ich habe mich geirrt. Du bist nicht zurückgekommen.«
»Ich bin nicht zu dir zurückgekommen? Was denn sonst? War das ein Geist, der zu dir gekommen ist?«
»Du bist zu mir gekommen. Aber du bist nicht zurückgekommen.«
»Das ist mir zu hoch. Ich möchte wissen, was da für ein Unterschied ist?«
»Du weißt es. Ich wußte es damals nicht. Heute weiß ich es. Du lebst mit jemand anderem.«
»So, ich lebe mit jemand anderem. Da ist es wieder! Wenn ich ein paar Freunde habe, lebe ich mit jemand anderem! Soll ich vielleicht den ganzen Tag eingeschlossen bleiben und mit niemandem reden, nur damit es nicht heißt, ich lebe mit jemand anderem?«
»Joan«, sagte Ravic. »Sei nicht lächerlich.«
»Lächerlich? Wer ist lächerlich? Du bist lächerlich.«
»Meinetwegen. Soll ich dich mit Gewalt von der Tür wegtreiben?«
Sie rührte sich nicht. »Wenn ich mit jemand war, was geht es dich an? Du hast selbst gesagt, du willst es nicht wissen.«
»Gut. Ich wollte es auch nicht wissen. Ich glaubte, es wäre zu Ende. Was gewesen war, ging mich nichts an. Es war ein Irrtum. Ich hätte es besser wissen sollen. Möglich, daß ich mich selbst belügen wollte. Schwäche, aber das ändert nichts.«
»Wieso ändert das nichts? Wenn du einsiehst, daß du unrecht hast...«
»Hier geht es nicht um Recht und Unrecht. Du warst nicht nur mit jemand, du bist es noch. Und willst es auch weiter bleiben. Das wußte ich damals nicht.«
»Lüg nicht!« unterbrach sie ihn plötzlich ruhig. »Du hast es immer gewußt. Damals auch.«
Sie sah ihm gerade in die Augen. »Gut«, sagte er. »Meinetwegen habe ich es gewußt. Ich wollte es dann nicht wissen. Ich wußte es und glaubte es nicht. Du verstehst das nicht. Einer Frau passiert so was nicht. Das hat trotzdem nichts damit zu tun.«
Ihr Gesicht war plötzlich überflogen von einer wilden, ausweglosen Angst. »Ich kann doch jemand nicht ohne weiteres hinauswerfen, der mir nichts getan hat, nur weil du plötzlich wieder auftauchst! Verstehst du das nicht?«
»Ja«, sagte Ravic.
Sie stand da wie eine Katze, die in eine Ecke getrieben ist und springen will und der auf einmal der Boden weggezogen wird. »Ja?« sagte sie überrascht. Die Spannung wich aus ihren Augen. Sie ließ die Schultern fallen. »Weshalb quälst du mich dann, wenn du es verstehst?« sagte sie müde.
»Komm von der Tür weg.« Ravic setzte sich in einen der Sessel, die unbequemer waren, als sie aussahen. Joan zögerte. »Komm«, sagte er. »Ich laufe nicht mehr weg.«
Sie kam langsam herüber und ließ sich auf die Couch fallen. Sie wirkte erschöpft, aber Ravic sah, daß sie es nicht war. »Gib mir etwas zu trinken«, sagte sie.
Er sah, daß sie Zeit gewinnen wollte. Es war ihm gleich.
»Wo sind die Flaschen?« fragte er.
»Drüben in dem Schrank.«
Ravic öffnete den niedrigen Schrank. Eine Anzahl Flaschen stand darin. Die meisten davon waren weißer Crème de Menthe. Er betrachtete sie mit Abscheu und schob sie beiseite. In einer Ecke fand er eine halbe Flasche Martell und eine Flasche Calvados. Die Flasche mit Calvados war nicht geöffnet. Er ließ sie stehen und nahm den Kognak. »Trinkst du jetzt Pfefferminzschnaps?« fragte er über die Schulter.
»Nein«, erwiderte sie von der Couch her.
»Gut. Dann bringe ich den Kognak.«
»Es ist Calvados da«, sagte sie. »Mach den Calvados auf.«
»Der Kognak genügt.«
»Mach den Calvados auf.«
»Ein anderes Mal.«
»Ich möchte keinen Kognak. Ich möchte Calvados. Bitte, mach die Flasche auf.«
Ravic sah wieder in den Schrank hinein. Da stand rechts der weiße Pfefferminz für den anderen — und links der Calvados für ihn. Es war alles so hausfrauenhaft ordentlich, daß es einen fast rühren konnte. Er nahm die Flasche Calvados und zog sie auf. Warum schließlich nicht? Brave Symbolik des Lieblingsschnapses, sentimental verschmiert in eine alberne Abschiedsszene. Er ergriff zwei Gläser und ging zum Tisch zurück. Joan beobachtete ihn, während er den Calvados einschenkte.
Der Nachmittag stand groß und golden vor dem Fenster. Das war Licht, war farbiger, und der Himmel war heller geworden. Ravic sah auf die Uhr. Es war etwas nach drei. Er sah auf den Sekundenzeiger; er glaubte, sie sei stehengeblieben. Aber der Sekundenzeiger tickte wie ein kleiner, goldener Schnabel die Punkte des Kreises weiter auf. Es war Tatsache — er war erst eine halbe Stunde hier. Crème de Menthe, dachte er. Was für ein Geschmack!
Joan hockte auf der blauen Couch. »Ravic«, sagte sie weich, müde und vorsichtig. »War das wieder einer deiner Tricks, oder ist es wahr, daß du es verstehst?«
»Es ist kein Trick. Es ist wahr.«
»Du verstehst es?«
»Ja.« — »Ich wußte es.« Sie lächelte ihn an. »Ich wußte es, Ravic.«
»Es ist ziemlich einfach zu verstehen.«
Sie nickte. »Ich brauche etwas Zeit. Ich kann es nicht sofort. Er hat mir nichts getan. Ich wußte doch nicht, ob du jemals wiederkommen würdest. Ich kann es ihm nicht sofort sagen.«
Ravic schüttete sein Glas hinunter. »Wozu brauchen wir Einzelheiten?«
»Du sollst es wissen. Du sollst es verstehen. Es ist... ich brauche etwas Zeit. Er würde... ich weiß nicht, was er tun würde. Er liebt mich. Und er braucht mich. Er kann doch nichts dafür.«
»Natürlich nicht. Nimm dir alle Zeit der Welt, Joan.«
»Nein. Nur etwas. Nicht gleich.« Sie lehnte sich gegen die Kissen der Couch. »Und diese Wohnung hier, Ravic — das ist nicht so, wie du vielleicht denkst. Ich verdiene selbst Geld. Mehr als früher. Er hat mir geholfen. Er ist Schauspieler. Ich habe kleine Rollen im Film. Er hat mich da hineingebracht.«
»Das dachte ich mir.«
Sie beachtete es nicht. »Ich habe nicht viel Talent«, sagte sie. »Ich mache mir nichts vor. Aber ich wollte aus den Nachtklubs heraus. Man kann da nicht weiterkommen. Hier kann man es. Auch ohne Talent. Ich will unabhängig werden. Du magst das alles lächerlich finden...«
»Nein«, sagte Ravic. »Es ist vernünftig.«
Sie sah ihn an. »Bist du nicht deshalb nach Paris gekommen, damals?« fragte er. — »Ja.«
Da sitzt sie, dachte er, eine leise klagende Unschuldige, der das Leben und ich hart zugesetzt haben. Sie ist ruhig, der erste Sturm ist abgeschlagen; sie wird verzeihen, und wenn ich nicht bald gehe, wird sie mir die Geschichte der letzten Monate noch mit allen Einzelheiten erzählen, diese stählerne Orchidee, zu der ich gekommen bin, um klar Schluß zu machen, und die es jetzt bereits so weit gebracht hat, daß ich ihr fast recht geben muß.
»Gut, Joan«, sagte er. »Du bist jetzt soweit. Du wirst schon vorwärtskommen.«
Sie beugte sich vor. »Glaubst du?«
»Bestimmt.«
»Wirklich, Ravic?«
Er stand auf. Noch drei Minuten, und er würde in einem Fachgespräch über Film sein. Man darf mit ihnen nicht diskutieren, dachte er. Man kommt immer als Verlierer heraus. Logik ist Wachs in ihren Händen. Man soll handeln, fertig.
»So meinte ich das nicht«, sagte er. »Da fragst du besser deinen Spezialisten.«
»Willst du schon gehen?« fragte sie.
»Ich muß.«
»Warum bleibst du nicht noch?«
»Ich muß zur Klinik zurück.«
Sie nahm seine Hand und sah zu ihm auf. »Du sagtest vorhin, du wärest fertig in der Klinik, wenn du kämest.«
Er überlegte, ob er ihr sagen sollte, er käme nicht wieder. Aber es war genug für heute. Es war genug für sie und ihn. Das hatte sie immerhin verhindert. Aber es würde von selbst kommen. »Bleib hier, Ravic«, sagte sie.
»Ich kann nicht.«
Sie stand auf und lehnte sich dicht an ihn. Das auch noch, dachte er. Das alte Spiel. Billig und erprobt. Sie läßt nichts aus. Aber wer will von einer Katze verlangen, daß sie Gras frißt? Er machte sich los. »Ich muß. In der Klinik liegt ein Mann und stirbt.«
»Ärzte haben immer gute Gründe«, sagte sie langsam und sah ihn an.
»Wie Frauen, Joan. Wir verwalten den Tod und ihr die Liebe. Darin sind alle Gründe und alles Recht der Welt.«
Sie antwortete nicht.
»Wir haben auch gute Mägen«, sagte Ravic. Wir brauchen sie. Sonst könnten wir es nicht. Wo andere ohnmächtig werden, da fangen wir an, uns zu beleben. Adieu, Joan.«
»Du kommst wieder, Ravic?«
»Denk nicht darüber nach. Nimm dir deine Zeit. Du wirst es selbst herausfinden.«
Er ging rasch zur Tür und blickte sich nicht mehr um. Sie folgte ihm nicht. Aber er wußte, daß sie ihm nachsah. Er fühlte sich sonderbar taub — als ginge er unter Wasser.