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Der Schrei kam aus dem Fenster der Familie Goldberg. Ravic horchte einen Augenblick. Es schien ihm ziemlich unmöglich, daß der alte Goldberg seiner Frau etwas an den Kopf geworfen oder sie geschlagen hatte. Er hörte auch nichts weiter. Nur ein Rennen, dann ein aufgeregtes Gespräch im Zimmer des Emigranten Wiesenhoff und Türenklappen.
Gleich darauf klopfte es an seiner Tür, und die Proprietaire stürzte herein. »Rasch — rasch — Monsieur Goldberg...«
»Was?«
»Erhängt. Am Fenster. Rasch...«
Ravic warf sein Buch weg. »Ist Polizei da?«
»Natürlich nicht. Sonst hätte ich Sie nicht gerufen! Sie hat ihn gerade erst gefunden.«
Ravic lief die Treppen mit ihr herunter. »Hat man ihn abgeschnitten?«
»Noch nicht. Sie halten ihn...«
In dem dämmrigen Zimmer stand eine dunkle Gruppe am Fenster. Ruth Goldberg, der Emgirant Wiesenhoff und noch jemand. Ravic drehte das Licht an. Wiesenhoff und Ruth Goldberg hatten den alten Goldberg in den Armen wie eine Puppe, und der dritte Mann versuchte nervös, den Knoten einer Krawatte zu lösen, die am Fenstergriff befestigt war.
»Schneiden Sie ihn ab...«
»Wir haben kein Messer hier«, schrie Ruth Goldberg.
Ravic holte eine Schere aus seiner Tasche und schnitt. Die Krawatte war aus dicker, schwerer, glatter Seide, und es dauerte ein paar Sekunden, ehe sie durchschnitten war. Ravic hatte Goldbergs Gesicht dabei dicht vor sich. Die herausgequollenen Augen, den offenen Mund, den dünnen, grauen Bart, die offene Zunge, die dunkelgrüne Krawatte mit weißen Punkten, die tief in den schrumpelig geblähten Hals einschnitt. — Der Körper schwankte leicht in den Armen Wiesenhoffs und Ruth Goldbergs, als wiege er sich in einem schrecklichen, erstarrten Gelächter lautlos hin und her.
Ruth Goldbergs Gesicht war rot und tränenüberströmt, und neben ihr schwitzte Wiesenhoff unter der Last des Körpers, der schwerer war als je im Leben. Zwei nasse, entsetzte, stöhnende Gesichter und darüber, schweigend, der sanft rollende Kopf, ins Jenseits grinsend, der, als Ravic die Krawatte durchschnitt, gegen Ruth Goldberg fiel, so daß sie mit einem Schrei zurückfuhr, die Arme losließ und der Körper mit schlenkernden Armen zur Seite rutschte und ihr mit einer grotesk clownhaften Bewegung zu folgen schien.
Ravic fing ihn auf und legte ihn mit Wiesenhoffs Hilfe auf den Fußboden. Er löste die Krawattenschlinge und begann die Untersuchung.
»Ins Kino«, plapperte Ruth Goldberg. »Ins Kino hat er mich geschickt. ›Ruthchen‹, hat er gesagt, ›du hast so wenig Unterhaltung; warum gehst du nicht mal ins Théâtre Courcelles, sie spielen da einen Garbo-Film, die Königin Christine; warum siehst du ihn dir nicht mal an? Nimm einen guten Platz, nimm Fauteuil oder nimm Loge; sieh es dir an, zwei Stunden ’raus aus der Misere ist auch schon was‹, ruhig und freundlich hat er es gesagt und mir die Backen getätschelt, ›und nachher ißt du ein Schokoladen- und Vanilleeis vor der Konditorei am Parc Monceau, tu dir mal was zugute, Ruthchen‹, hat er gesagt, und ich bin gegangen, und als ich zurückgekommen bin, da...«
Ravic stand auf. Ruth Goldberg brach ab. »Er muß es gleich gemacht haben, nachdem Sie gegangen sind«, sagte er.
Sie hielt die Fäuste vor den Mund. »Ist er...«
»Wir werden noch etwas versuchen. Künstliche Atmung zunächst. Verstehen Sie etwas davon?« fragte Ravic Wiesenhoff .
»Nein. Nicht viel. Etwas.«
»Passen Sie auf.«
Ravic nahm die Arme Goldbergs, zog sie zurück bis zum Boden, preßte sie dann vorwärts bis zur Brust, und zurück, und wieder vorwärts. Goldbergs Kehle begann zu rasseln. »Er lebt!« schrie die Frau.
»Nein. Das ist die zusammengedrückte Luft röhre.«
Ravic machte die Bewegung noch ein paarmal vor. »So, probieren Sie es jetzt«, sagte er zu Wiesenhoff .
Wiesenhoff kniete zögernd hinter Goldberg nieder.
»Los«, sagte Ravic ungeduldig. »Nehmen Sie die Handgelenke oder besser die Unterarme.«
Wiesenhoff schwitzte. »Stärker«, sagte Ravic. »Pressen Sie alle Luft aus den Lungen.«
Er wandte sich an die Wirtin. Inzwischen waren mehr Leute ins Zimmer gekommen. Er winkte der Wirtin, herauszukommen. »Er ist tot«, sagte er auf dem Korridor. »Das drinnen ist Unsinn. Ein Rituell, das gemacht werden muß, sonst nichts. Es wäre ein Wunder, wenn es noch irgendwas nützte.«
»Was sollen wir machen?«
»Das Übliche.«
»Rettungsstation? Erste Hilfe? Das heißt zehn Minuten später die Polizei.«
»Die Polizei müssen Sie ohnehin anrufen. Hatten die Goldbergs Papiere?« — »Ja. Gute. Paß und Carte d’Identité.«
»Wiesenhoff ?«
»Aufenthaltserlaubnis. Verlängertes Visum.«
»Gut. Dann sind sie in Ordnung. Sagen Sie beiden, nicht zu erwähnen, daß ich da war. Sie ist nach Hause gekommen, hat ihn gefunden, geschrien, Wiesenhoff hat ihn abgeschnitten und hat künstliche Atmung versucht, bis die Ambulanz kam. Können Sie das?«
Die Wirtin sah ihn mit ihren Vogelaugen an. »Natürlich. Ich werde ohnehin dabeibleiben, wenn die Polizei kommt. Ich werde schon aufpassen.«
»Gut.«
Sie gingen zurück. Wiesenhoff war über Goldberg gebeugt und arbeitete. Es wirkte einen Moment, als machten beide Freiübungen auf dem Boden. Die Wirtin blieb an der Tür stehen. »Mes Dames et Messieurs«, sagte sie. »Ich muß die Rettungsstation anrufen. Der Sanitäter oder Arzt, der von dort mitkommt, wird dann die Polizei sofort benachrichtigen müssen. Sie wird spätestens in einer halben Stunde hier sein. Wer von Ihnen keine Papiere hat, packt besser sofort seine Sachen, zum wenigsten das, was offen herumliegt, bringt es in die Katakombe und bleibt unten. Es ist möglich, daß die Polizei die Zimmer nachsieht oder nach Zeugen fragt.«
Der Raum leerte sich sofort. Die Wirtin nickte Ravic zu, daß sie Ruth Goldberg und Wiesenhoff instruieren würde. Er nahm seine Tasche und die Schere, die neben der abgeschnittenen Krawatte am Boden lagen. Die Krawatte lag so, daß er die Firmenmarke sehen konnte. S. Förder, Berlin. Es war eine Krawatte, die mindestens zehn Mark gekostet hatte. Noch aus Goldbergs guten Zeiten.
Ravic kannte die Firma. Er hatte selbst dort gekauft. Er packte seine Sachen in ein paar Koffer und brachte sie in Morosows Zimmer. Es war nur eine Vorsicht. Die Polizei würde sich wahrscheinlich um nichts kümmern. Aber es war besser — die Erinnerung an Fernand saß Ravic noch zu sehr in den Knochen. Er ging zur Katakombe hinunter.
Eine Anzahl Leute rannte dort aufgeregt hin und her.
Es waren die Emigranten ohne Papiere. Die illegale Brigade. Clarisse, das Serviermädchen, und Jean, der Kellner, dirigierten die Koffer in einen kellerhaften Nebenraum der Katakombe. Die Katakombe selbst war bereits für das Abendessen vorbereitet. Die Tische waren gedeckt, Körbe mit Brot standen umher, und es roch von der Küche her nach Fett und Fisch.
»Zeit genug«, sagte Jean zu den nervösen Emigranten. »Die Polizei ist nicht so eilig.«
Die Emigranten nahmen keine Chance. Sie waren kein Glück gewohnt. Hastig drängten sie mit ihren paar Sachen in den Keller.
Unter ihnen war auch der Spanier Alvarez. Die Wirtin hatte im ganzen Hotel Nachricht herumgeschickt, daß die Polizei käme. Alvarez lächelte fast entschuldigend zu Ravic hinüber. Ravic wußte nicht, warum.
Ein dünner Mensch kam gelassen heran. Es war der Doktor der Philologie und Philosophie Ernst Seidenbaum. »Manöver«, sagte er zu Ravic. »Generalprobe. Bleiben Sie in der Katakombe?«
»Nein.«
Seidenbaum, ein Veteran seit sechs Jahren, zuckte die Achseln. »Ich bleibe. Habe keine Lust wegzulaufen. Glaube nicht, daß mehr passiert als eine Tatbestandsaufnahme. Wer ist schon an einem alten, toten, deutschen Juden interessiert?«
»An dem nicht. Aber an lebendigen, illegalen Refugiés.«
Seidenbaum setzte sein Pincenez zurecht. »Ist mir auch egal. Wissen Sie, was ich bei der letzten Razzia gemacht habe? Irgendein Sergeant kam damals sogar herunter in die Katakombe. Über zwei Jahre her. Ich habe eine von Jeans weißen Kellnerjacken angezogen und mit serviert. Schnäpse für die Polizei.«
»Gute Idee.«
Seidenbaum nickte. »Es kommt eine Zeit, da hat man auch vom Weglaufen genug.« Er trollte ruhig zur Küche hinüber, um zu inspizieren, was es gab.
Ravic ging durch den Hinterausgang der Katakombe über den Hof. Eine Katze lief ihm über die Füße. Vor ihm gingen die andern. Sie verteilten sich rasch auf der Straße. Alvarez hinkte etwas. Vielleicht könnte man das noch durch Operation beseitigen, dachte Ravic abwesend.
Er saß am Place des Ternes und hatte plötzlich das Gefühl, daß Joan in dieser Nacht kommen würde. Er konnte nicht sagen, warum — er wußte es nur einfach plötzlich.
Er zahlte sein Abendessen und ging langsam zum Hotel zurück. Es war warm, und die Schilder der Stundenhotels in den schmalen Straßen flammten rot durch die frühe Nacht. Hinter den Vorhängen schimmerten die Ritzen der erleuchteten Fenster. Eine Gruppe Matrosen folgte einigen Huren. Sie waren jung und laut und heiß von Wein und Sommer und verschwanden in einem der Hotels. Irgendwoher kam Handharmonikamusik. Ein Gedanke schoß wie eine Leuchtrakete hoch in Ravic, entfaltete sich, schwebte und hob eine magische Landschaft aus dem Dunkel:
Joan, wartend auf ihn im Hotel, um ihm zu sagen, daß sie alles hinter sich geworfen hätte und zurückkäme, ihn überströmend, überstürzend...
Er blieb stehen. Was ist los mit mir? dachte er. Weshalb stehe ich da, und meine Hände fühlen die Luft, als wäre sie ein Nacken und eine Welle Haar? Zu spät. Man kann nichts zurückholen. Niemand kommt zurück. Ebensowenig, wie je die gelebte Stunde zurückkommt.
Er ging weiter zum Hotel, über den Hof zum Hintereingang in die Katakombe. Er sah von der Tür aus eine Anzahl Leute herumsitzen. Seidenbaum war dabei. Nicht als Kellner, als Gast. Die Gefahr schien vorüber zu sein. Er trat ein.
Morosow war in seinem Zimmer. »Ich wollte gerade weg«, sagte er. »Dachte schon, du wärest wieder davon, zur Schweiz, als ich deine Koffer sah.«
»Ist alles in Ordnung?«
»Ja. Die Polizei kommt nicht wieder. Hat sogar die Leiche schon wieder freigegeben. Klarer Fall. Liegt oben; wird bereits aufgebahrt,«
»Schön. Dann kann ich ja wieder in meine Bude einziehen.«
Morosow lachte. »Dieser Seidenbaum!« sagte er. »Er war bei der ganzen Sache dabei. Mit einer Aktentasche, irgendwelchen Papieren darin und seinem Pincenez. Er trat als Advokat und Vertreter der Versicherungsfirma auf. War ziemlich scharf mit der Polizei. Hat den Paß des alten Goldberg gerettet. Behauptete, er brauche ihn; die Polizei habe nur Recht auf die Carte d’Identite. Kam damit durch. Hat er selbst Papiere?«
»Nicht einen Fetzen.«
»Gut«, erklärte Morosow. »Der Paß ist Gold wert. Ist noch ein Jahr gültig. Irgend jemand kann darauf leben. Nicht gerade in Paris, wenn er nicht so frech wie Seidenbaum ist. Die Fotografie kann man leicht austauschen. Für die Änderung der Geburtsdaten gibt es billige Fachleute, wenn der neue Aaron Goldberg zu jung sein sollte. Moderne Art von Seelenwanderung — ein Paß und mehrere Leben darauf.«
»Dann heißt Seidenbaum also von jetzt an Goldberg?«
»Seidenbaum nicht. Er hat abgelehnt. Ist unter seiner Würde. Er ist der Don Quichotte der Untergrund-Welt-bürger. Zu fatalistisch neugierig, was mit seinem Typ passiert, als daß er ihn durch einen geborgten Paß verfälschen würde. Wie wäre es mit dir?«
Ravic schüttelte den Kopf. »Auch nicht. Ich bin auf Seidenbaums Seite.«
Er nahm seine Koffer und stieg die Treppen hinauf. Auf dem Goldbergschen Flur wurde er von einem alten Juden in schwarzem Kaftan mit Bart und Peijes, der das Gesicht eines biblischen Patriarchen hatte, überholt. Der Alte ging lautlos, auf Gummisohlen, und es war, als schwebe er dunkel und bleich durch den düsteren Korridor. Er öffnete die Goldbergsche Tür. Rötliches Licht, wie von Kerzen, fiel einen Augenblick heraus, und Ravic hörte ein seltsames, halb unterdrücktes, halb wildes, fast melancholisches, montones Jammern. Klageweiber, dachte er. Sollte es so etwas noch geben? Oder war es nur Ruth Goldberg?
Er öffnete seine Tür und sah Joan am Fenster sitzen. Sie fuhr auf. »Da bist du! Was ist los? Wozu hast du die Koffer? Mußt du wieder weg?«
Ravic stellte die Koffer neben das Bett. »Nichts ist los. Es war nur Vorsicht. Irgend jemand ist gestorben. Die Polizei hatte zu kommen. Es ist alles schon wieder vorbei.«
»Ich habe angerufen. Jemand war am Apparat und sagte, du wohntest nicht mehr hier.«
»Das war unsere Wirtin. Vorsichtig und klug wie immer.«
»Ich bin hierhergelaufen. Das Zimmer war offen und leer. Deine Sachen waren nicht mehr da. Ich dachte... Ravic!« Ihre Stimme zitterte. Ravic lächelte mit Mühe. »Du siehst — ich bin eine unzuverlässige Kreatur. Nichts, um viel darauf zu bauen.«
Es klopfte. Morosow kam herein, ein paar Flaschen in der Hand. »Ravic, du hast deine Munition vergessen...«
Er sah Joan in der Dunkelheit stehen und tat, als bemerke er sie nicht. Ravic wußte nicht, ob er sie überhaupt erkannt hatte. Er händigte die Flaschen aus und verabschiedete sich, ohne hereinzukommen.
Ravic stellte den Calvados und den Vouvray auf den Tisch. Durch das offene Fenster hörte er die Stimme, die er vom Korridor her gehört hatte. Totenklage. Sie schwoll an, verebbte und begann wieder. Wahrscheinlich standen bei Goldberg die Fenster offen in der warmen Nacht, in der der steife Körper des alten Aaron in einem Zimmer mit Mahagonimöbeln jetzt langsam zu verwesen begann.
»Ravic«, sagte Joan. »Ich bin traurig. Ich weiß nicht, warum. Den ganzen Tag schon. Laß mich hier bleiben.«
Er antwortete nicht gleich. Er fühlte sich überrumpelt. Er hatte das anders erwartet. Nicht so direkt.
»Wie lange?« fragte er.
»Bis morgen.«
»Das ist nicht lange genug.«
Sie setzte sich auf das Bett. »Können wir das nicht einmal vergessen?«
»Nein, Joan.«
»Ich will nichts. Ich will nur neben dir schlafen. Oder laß mich auf dem Sofa schlafen.«
»Es geht nicht. Ich muß auch noch fort. Zur Klinik.«
»Das macht nichts. Ich werde auf dich warten. Ich habe das ja schon oft getan.«
Er antwortete nicht. Er wunderte sich, daß er so ruhig war. Die Wärme und die Erregung, die er auf der Straße gefühlt hatte, waren verschwunden.
»Du mußt auch nicht zur Klinik«, sagte Joan.
Er schwieg einen Augenblick. Er wußte, wenn er mit ihr schlief, war er verloren. Es war wie einen Wechsel unterzeichnen, der durch nichts mehr gedeckt war. Sie würde wieder und wieder kommen und auf das pochen, was sie erreicht hatte, und jedesmal etwas verlangen, ohne selbst etwas aufzugeben, bis er völlig in ihren Händen war und sie ihn dann schließlich gelangweilt verließ, schwach, korrupt in sich, ein Opfer seiner Schwäche und seiner gebrochenen Begierde. Sie beabsichtigte das nicht; sie wußte nicht einmal etwas davon, aber es würde so kommen. Es war einfach, zu denken, eine Nacht mache keinen Unterschied; aber jedesmal ging ein Stück Widerstand und ein Stück dessen, was man nie im Leben korrumpieren durfte, mit. Die Sünden gegen den Geist nannte das der katholische Katechismus mit sonderbarer, vorsichtiger Furcht und fügte, dunkel, im Widerspruch zur ganzen Lehre, hinzu, daß sie weder in diesem noch im anderen Leben vergeben würden.
»Es ist wahr«, sagte Ravic. »Ich muß nicht zur Klinik. Aber ich will nicht, daß du hier bleibst.«
Er erwartete einen Ausbruch. Aber sie sagte nur ruhig: »Warum nicht?«
Sollte er versuchen, es ihr zu erklären? Konnte er es überhaupt? »Du gehörst nicht mehr hierher«, sagte er.
»Ich gehöre hierher.«
»Nein.«
»Warum nicht?«
Er schwieg. Wie geschickt sie war! dachte er. Durch einfaches Fragen brachte sie ihn zu Erklärungen. Und wer erklärte, verteidigte bereits.
»Du weißt es«, sagte er. »Frag nicht so töricht.«
»Du willst mich nicht mehr?«
»Nein«, erwiderte er und fügte gegen seinen Willen hinzu: »Nicht so.«
Durch das Fenster kam das eintönige Weinen aus dem Goldbergschen Zimmer. Die Klage um den Tod. Hirtentrauer von Libanon, in einer Pariser Seitenstraße.
»Ravic«, sagte Joan. »Du mußt mir helfen.«
»Ich helfe dir am besten, wenn ich dich allein lasse. Und du mich auch.«
Sie beachtete es nicht. »Du mußt mir helfen. Ich könnte lügen; aber ich will es nicht mehr. Ja, da ist jemand. Aber es ist anders als mit dir. Wenn es dasselbe wäre, wäre ich nicht hier.«
Ravic zog eine Zigarette aus seiner Tasche. Er fühlte das trockene Papier. Da war es also. Nun wußte er es. Es war wie ein kühles Messer, das nicht schmerzte. Gewißheit schmerzt nie. Nur das Vorher und Nachher.
»Es ist nie dasselbe«, sagte er. »Und es ist immer dasselbe.«
Was für ein billiges Zeug ich rede, dachte er. Zeitungs-paradoxe. Wie schäbig Wahrheiten werden können, wenn man sie ausspricht.
Joan richtete sich auf. »Ravic«, sagte sie. »Du weißt, daß es nicht wahr ist, daß man nur einen Menschen lieben kann. Es gibt Menschen, die können nur das. Sie sind glücklich. Und es gibt andere, die durcheinander geworfen werden. Du weißt das.«
Er zündete seine Zigarette an. Ohne hinzusehen, wußte er, wie Joan aussah. Blaß, die Augen dunkel, still konzentriert, fast flehend fragil — und nie umzubringen. Sie hatte ebenso ausgesehen an dem Nachmittag in ihrer Wohnung — wie ein Engel der Verkündung, voll von Glauben und schwebender Überzeugung, der vorgab, einen retten zu wollen, während er einen langsam ans Kreuz zu schlagen versuchte, damit man ihm nicht entkam.
»Ja«, sagte er. »Es ist eine unserer Ausreden.«
»Es ist keine Ausrede. Man ist nicht glücklich dabei. Man wird hineingeworfen und kann sich nicht helfen. Es ist etwas Finsteres, ein Knäuel, ein Krampf — etwas, durch das man hindurch muß. Man kann nicht weglaufen. Es kommt einem nach. Es holt einen ein. Man will es nicht. Aber es ist stärker.«
»Warum denkst du darüber nach? Folge ihm, wenn es stärker ist.«
»Das tue ich. Ich weiß, es gibt nichts anderes. Aber...« Ihre Stimme wechselte. »Ravic, ich will dich nicht verlieren.«
Ravic schwieg. Er rauchte und spürte den Rauch nicht. Du willst mich nicht verlieren, dachte er. Aber den anderen auch nicht. Das ist es. Daß du das kannst! Deshalb muß ich von dir weg. Es ist nicht der eine — das wäre rasch vergessen. Du hattest alle Entschuldigungen dafür. Aber daß es dich so gepackt hat, daß du nicht davon loskommen kannst, das ist es. Du wirst davon loskommen. Aber es wird wieder geschehen. Es wird immer wieder geschehen. Es ist in dir. Ich konnte das auch früher. Mit dir kann ich es nicht. Deshalb muß ich los von dir. Jetzt kann ich es noch. Das nächstemal...
»Du glaubst, es sei eine besondere Situation«, sagte er. »Es ist die alltäglichste der Welt. Die vom Ehemann und vom Liebhaber.«
»Das ist nicht wahr!«
»Doch. Sie hat viele Variationen. Eine davon ist deine.«
»Wie kannst du so etwas sagen!« Sie fuhr auf. »Du bist alles andere als das, und du warst es nie, und du wirst es nie sein. Der andere ist viel mehr...« Sie brach ab. »Nein, so ist es auch nicht. Ich kann es nicht erklären.«
»Sagen wir: die Sicherheit und das Abenteuer. Das klingt besser. Es ist dasselbe. Man will das eine haben und das andere nicht loslassen.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ravic«, sagte sie aus der Dunkelheit heraus, mit einer Stimme, die ihm das Herz bewegte. »Man kann gute Worte dafür haben und schlechte. Das ändert nichts daran. Ich liebe dich und ich werde dich lieben, bis ich aufhöre zu leben. Das weiß ich, und das ist klar in mir. Du bist der Horizont, und alle Gedanken enden in dir. Es kann geschehen, was will, es ist trotzdem immer innerhalb von dir. Es ist kein Betrug. Es nimmt dir nichts. Das ist es, weshalb ich immer wieder hier bin, und das ist es, weshalb ich es nicht bedauern und mich nicht schuldig fühlen kann.«
»Im Gefühl gibt es keine Schuld, Joan. Wie kommst du auf so etwas?«
»Ich habe nachgedacht. Ich habe so viel nachgedacht, Ravic. Über mich und über dich. Du hast mich nie ganz haben wollen. Du weißt es vielleicht selbst nicht. Da war immer etwas, das war zugesperrt für mich. Und ich konnte nie ganz hinein. Ich wollte! Wie ich es wollte! Es war immer so, daß du jeden Augenblick weggehen konntest. Ich war nie sicher. Daß die Polizei dich wegschickte, daß du fort mußtest — es hätte genauso auch anders sein können —, daß du eines Tages weg warst, von dir aus, daß du einfach nicht mehr da warst, weggegangen warst, irgendwohin...«
Ravic starrte auf das Gesicht im Ungewissen Dunkel vor ihm. Da war etwas richtig in dem, was sie sagte.
»Es war immer so«, fuhr sie fort. »Immer. Und dann kam jemand, der mich wollte, nichts, als mich wollte, ganz und für immer, einfach und ohne jede Komplikation. Ich lachte, ich wollte es nicht, ich spielte damit, es erschien so ungefährlich, so leicht, wieder beiseite zu schieben — und dann, plötzlich war es mehr geworden, ein Zwang, etwas, das in mir auch wollte, ich wehrte mich, und es nützte nichts, ich gehörte nicht dahin, es war alles nicht in mir, was wollte, es war nur ein Stück, aber es schob mich, es war wie ein langsamer Erdrutsch, über den man anfangs lacht, und plötzlich ist nichts mehr da, um sich festzuhalten, und man kann sich nicht mehr wehren. Aber ich gehörte nicht dahin, Ravic. Ich gehöre zu dir.«
Er warf seine Zigarette aus dem Fenster. Sie flog wie ein Leuchtkäfer zum Hof hinunter. »Was geschehen ist, ist geschehen, Joan«, sagte er. »Wir können es jetzt nicht mehr ändern.«
»Ich will nichts ändern. Es wird vorübergehen. Ich gehöre zu dir. Weshalb komme ich wieder? Weshalb stehe ich vor deiner Tür? Weshalb warte ich hier auf dich, und du wirfst mich hinaus, und ich werde wiederkommen? Ich weiß, du glaubst mir nicht und denkst, ich hätte andere Gründe. Was für Gründe denn? Wenn das andere mich ausfüllte, würde ich nicht wiederkommen. Ich würde dich vergessen haben. Du sagst, was ich bei dir suche, sei Sicherheit. Das ist nicht wahr. Es ist Liebe.«
Worte, dachte Ravic. Süße Worte. Sanfter, trügerischer Balsam. Hilfe, Liebe, Zusammengehören, Wiederkommen — Worte, süße Worte. Nichts als Worte. Wie viele Worte es gab für diese einfache, wilde, grausame Anziehung zweier Körper! Welch ein Regenbogen der Phantasie, Lüge, Gefühl und Selbstbetrug sich darüber wölbte! Da stand er, in dieser Nacht des Abschieds, da stand er, ruhig, im Dunkeln, und ließ ihn über sich hinträufeln, diesen Regen von süßen Worten, die nichts bedeuteten als Abschied, Abschied, Abschied. Wenn man darüber sprach, war es schon verloren. Der Gott der Liebe hatte eine blutbefleckte Stirn. Er wußte nichts von Worten.
»Du mußt jetzt gehen, Joan.«
Sie stand auf. »Ich will hierbleiben. Laß mich hierbleiben. Nur eine Nacht.«
Er schüttelte den Kopf. »Wofür hältst du mich? Ich bin kein Automat.«
Sie lehnte sich an ihn. Er fühlte, daß sie zitterte.
»Es ist mir gleich. Laß mich hierbleiben.«
Er schob sie behutsam von sich. »Du solltest nicht gerade mit mir anfangen, den anderen zu betrügen. Er wird noch genug zu leiden haben.«
»Ich kann jetzt nicht allein nach Hause gehen.«
»Du brauchst nicht lange allein zu bleiben.«
»Doch, ich bin allein. Schon seit Tagen. Er ist fort. Nicht in Paris.«
»So...«, erwiderte Ravic ruhig. Er sah sie an. »Immerhin, du bist wenigstens offen. Man weiß, woran man mit dir ist.«
»Ich bin nicht deshalb gekommen.«
»Natürlich nicht.«
»Ich hätte es ja auch nicht zu sagen brauchen.«
»Richtig.«
»Ravic, ich will nicht allein nach Hause gehen.«
»Dann werde ich dich nach Hause bringen.«
Sie trat langsam einen Schritt zurück. »Du liebst mich nicht mehr...«, sagte sie leise und fast drohend.
»Bist du gekommen, um das zu erfahren?«
»Ja — das auch. Nicht allein — aber auch deshalb.«
»Mein Gott, Joan«, sagte Ravic ungeduldig, »dann hast du soeben eines der offensten Liebesbekenntnisse gehört.«
Sie antwortete nicht. Sie sah ihn an. »Glaubst du, daß ich mir sonst etwas daraus machen würde, dich hierzubehalten, ganz gleich, mit wem du lebst?« sagte er.
Sie begann langsam zu lächeln. Es war kein eigentliches Lächeln — es war wie ein Schein von innen heraus, als hätte jemand in ihr eine Lampe angezündet und der Glanz stiege langsam höher bis in die Augen. »Danke, Ravic«, sagte sie. Und nach einer Weile vorsichtig, ihn immer noch ansehend: »Du wirst mich nicht verlassen?«
»Wozu fragst du das?«
»Du wirst warten? Du wirst mich nicht verlassen?«
»Ich glaube, da ist nicht viel Gefahr. Nach den Erfahrungen mit dir.«
»Danke.« Sie war verändert. Wie schnell sich das tröstet, dachte er. Aber warum sollte sie nicht? Sie glaubt, erreicht zu haben, was sie wollte, auch ohne hierzubleiben. Sie küßte ihn. »Ich wußte, daß du so sein würdest, Ravic. Du mußtest so sein. Ich gehe jetzt. Bring mich nicht nach Hause. Ich kann jetzt allein gehen.«
Sie stand an der Tür. »Komm nicht wieder«, sagte er. »Und bedenke nichts. Du gehst nicht unter.«
»Nein. Gute Nacht, Ravic.«
»Gute Nacht, Joan.«
Er ging zur Wand und machte Licht. Du mußt so sein, er schüttelte sich leicht. Aus Lehm und Gold sind Sie gemacht, dachte er. Aus Lüge und Erschütterung. Aus Schwindel und schamloser Wahrheit. Er setzte sich ans Fenster. Von unten kam immer noch das leise, monotone Klagen. Eine Frau, die ihren Mann betrogen hatte und ihn bejammerte, weil er tot war. Vielleicht aber auch nur, weil ihre Religion es so vorschrieb. Ravic wunderte sich, daß er nicht unglücklicher war.