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»Ich bin zurück, Ravic, ja«, sagte Kate Hegström.
Sie saß in ihrem Zimmer im Hotel Lancaster. Sie war schmaler geworden. Das Fleisch unter der Haut schien eingesunken, als wäre es von feinen Instrumenten von innen heraus ausgehöhlt worden. Die Linien traten mehr hervor; und die Haut war wie Seide, die leicht reißen konnte.
»Ich glaubte Sie noch in Florenz — oder in Cannes — oder schon in Amerika«, sagte Ravic.
»Ich war die ganze Zeit in Florenz. In Fiesole. Bis ich es nicht mehr aushalten konnte. Erinnern Sie sich noch, wie ich Sie überreden wollte, mitzukommen? Bücher, ein Feuer, Abende, Frieden? Die Bücher waren da — das Feuer im Kamin auch —, aber Friede? Ravic, selbst die Stadt des Franziskus von Assisi ist laut geworden. Laut und unruhig, wie alles drüben. Da, wo er den Vögeln von der Liebe gepredigt hat, ziehen jetzt Kolonnen in Uniformen umher und berauschen sich an Großtuerei, Worten und grundlosem Haß.«
»Das war doch schon immer so, Kate.«
»Nicht so. Vor ein paar Jahren war mein Hausverwalter noch ein freundlicher Mann in Manchesterhosen und Bastschuhen. Jetzt ist er ein Held in hohen Stiefeln, einem schwarzen Hemd, gespickt mit goldenen Dolchen, und hält Vorträge — das Mittelmeer müsse italienisch werden, England vernichtet und Nizza, Korsika und Savoyen zurück zu Italien. Ravic, diese liebenswürdige Nation, die seit Ewigkeiten keinen Krieg gewonnen hat, ist verrückt geworden, seit man sie in Abessinien und Spanien hat gewinnen lassen. Freunde von mir, die vor drei Jahren noch vernünftig waren, glauben heute ernsthaft, daß sie England in drei Monaten besiegen können. Das Land kocht. Was ist nur los? Ich bin aus Wien geflohen vor der Brutalität brauner Hemden — ich habe jetzt Italien verlassen vor dem Wahnsinn schwarzer — anderswo soll es grüne geben; in Amerika natürlich silberne — ist die Erde in einem Hemdentaumel?«
»Scheinbar. Aber das wird sich wohl bald ändern. Die Einheitsfarbe wird rot werden.«
»Rot?«
»Ja, rot wie Blut.«
Kate Hegström sah hinunter in den Hof. Das späte Nachmittagslicht filterte dort sanft und grün durch das Laub der Kastanien. »Man kann das nicht glauben«, sagte sie. »Zwei Kriege in zwanzig Jahren — das ist zuviel. Wir sind noch zu müde vom ersten.«
»Nur die Sieger. Nicht die Besiegten. Siegen macht achtlos.«
»Ja, vielleicht.« Sie sah ihn an. »Da ist nicht mehr viel Zeit übrig, wie?«
»Nicht allzuviel mehr, fürchte ich.«
»Glauben Sie, daß es genug für mich ist?«
»Warum nicht?« Ravic blickte auf. Sie wich seinen Augen nicht aus. »Haben Sie Fiola gesehen?« fragte er.
»Ja, ein-, zweimal. Er war einer der wenigen, die nicht angesteckt waren von der schwarzen Pest.«
Ravic antwortete nicht. Er wartete.
Kate Hegström nahm eine Kette Perlen vom Tisch und ließ sie durch ihre Hände gleiten. Sie wirkten zwischen den langen, schmalen Fingern wie ein kostbarer Rosenkranz. »Ich komme mir vor wie der Ewige Jude«, sagte sie, »auf der Suche nach Frieden. Aber es scheint, ich habe zur falschen Zeit angefangen. Er ist nirgendwo mehr. Nur hier noch — hier ist noch ein Rest.«
Ravic blickte auf die Perlen. Formlose, graue Mollusken hatten sie gebildet, gereizt durch einen Fremdkörper, ein Sandkorn zwischen ihren Schalen. Aus zufälliger Irritation war so sanft schimmernde Schönheit geworden. Man sollte sich das merken, dachte er. »Sie wollen doch nach Amerika fahren, Kate«, sagte er. »Wer Europa verlassen kann, soll es tun. Für alles andere ist es schon zu spät.«
»Wollen Sie mich fortschicken?«
»Nein. Aber sagten Sie nicht das letztemal, Sie wollten Ihre Sachen regeln und nach Amerika zurückgehen?«
»Ja. Aber jetzt will ich es nicht mehr. Noch nicht. Ich will noch hier bleiben.«
»Paris ist heiß und unangenehm im Sommer.«
Sie legte die Perlen beiseite. »Nicht, wenn es der letzte Sommer ist, Ravic.«
»Der letzte?«
»Ja. Der letzte, bevor ich zurückfahre.«
Ravic schwieg. Was weiß Sie? dachte er. Was hat Fiola ihr gesagt?
»Was macht die Scheherazade?« fragte sie.
»Ich war lange nicht da. Morosow sagte, sie sei jeden Abend überfüllt. Wie alle anderen Nachtklubs auch.«
»Im Sommer?«
»Ja, im Sommer, wo die meisten Häuser geschlossen waren. Wundert Sie das?«
»Nein. Jeder will noch mitnehmen, was er kann, bevor das Ende kommt.«
»Ja«, sagte Ravic.
»Werden Sie mich einmal mit hinnehmen?«
»Natürlich, Kate. Immer, wenn Sie wollen. Ich dachte, Sie wollten nicht mehr hingehen.«
»Das dachte ich auch. Ich habe meine Meinung gewechselt. Ich will auch noch mitnehmen, was ich kann.«
Er sah sie wieder an. »Gut, Kate«, sagte er dann. »Wann immer Sie wollen.«
Er stand auf. Sie ging mit ihm zur Tür. Sie lehnte in der Türöffnung, schmal, mit der trockenen, seidenen Haut, die aussah, als werde sie rascheln, wenn man sie berührte. Die Augen waren sehr klar und größer als früher. Sie gab ihm die Hand. Sie war heiß und trocken. »Warum haben Sie mir nicht gesagt, was mir fehlt?« fragte sie leichthin, als frage sie nach dem Wetter.
Er starrte sie an und antwortete nicht.
»Ich hätte es ausgehalten«, sagte sie, und etwas wie der Widerschein eines ironischen Lächelns ohne jeden Vorwurf huschte über ihr Gesicht. »Adieu, Ravic.«
Der Mann ohne Magen war tot. Er hatte drei Tage lang gestöhnt, und Morphium hatte wenig mehr genützt. Ravic und Veber hatten gewußt, daß er sterben würde. Sie hätten ihm diese drei Tage ersparen können. Sie hatten es nicht getan, weil es eine Religion gab, die die Liebe zum Nächsten predigte und verbot, ihm seine Qualen zu verkürzen. Und es gab ein Gesetz, das sie schützte.
»Haben Sie den Verwandten telegrafiert?« fragte Ravic.
»Er hat keine«, sagte Veber.
»Oder irgendwelchen Angehörigen?«
»Er hat niemand.« — »Niemand?«
»Niemand. Die Concierge seiner Wohnung war hier. Er bekam nie Briefe — abgesehen von Warenhauskatalogen und Traktaten gegen die Trunksucht, Tuberkulose, Geschlechtskrankheiten und so was. Er hatte nie Besucher. Die Operation und vier Wochen Klinik hat er vorausbezahlt. Zwei Wochen zuviel. Die Concierge behauptet, er habe ihr alles versprochen, was er besitze, weil sie für ihn gesorgt habe. Sie wollte das Geld für die zwei Wochen unbedingt zurückhaben. Sie sei wie eine Mutter gewesen. Sie hätten die Mutter sehen müssen. Sagte, sie hätte allerlei Ausgaben für ihn gehabt. Die Wohnungsmiete für ihn ausgelegt. Ich sagte ihr, er habe hier vorausbezahlt; es gäbe keinen Grund, warum er das mit seiner Wohnung nicht auch gemacht hätte. Im übrigen sei das alles eine Sache der Polizei. Darauf verfluchte sie mich.«
»Geld«, sagte Ravic. »Wie erfinderisch das macht.«
Veber lachte. »Wir werden die Behörden benachrichtigen. Die können sich darum kümmern. Auch um das Begräbnis.«
Ravic warf noch einen Blick auf den Mann ohne Verwandte und ohne Magen. Er lag da, und sein Gesicht veränderte sich in dieser Stunde, wie es sich nie in den fünfunddreißig Jahren seines Lebens verändert hatte. Aus dem erstarrten Krampf des letzten Atemzuges wuchs langsam das strenge Antlitz des Todes hervor. Das Zufällige zerschmolz, die Zeichen des Sterbens verwischten sich, und abwesend, schweigend, formte sich aus dem schiefen Durchschnittsgesicht die ewige Maske. In einer Stunde würde sie allein noch da sein.
Ravic ging. Im Korridor traf er die Nachtschwester. Sie war gerade gekommen. »Der Herr in zwölf ist tot«, sagte er. »Er ist vor einer halben Stunde gestorben. Sie brauchen nicht mehr zu wachen.« Und als er ihr Gesicht sah: »Hat er Ihnen etwas hinterlassen?«
Sie zögerte. »Nein. Er war ein sehr kühler Herr. Und in den letzten Tagen sprach er fast nicht mehr.«
»Nein, das tat er nicht.«
Die Schwester blickte Ravic hausfraulich an. »Er hatte ein wunderschönes Toiletten-Necessaire; alles Silber. Eigentlich etwas zu zierlich für einen Herrn. Mehr für eine Dame.«
»Haben Sie ihm das gesagt?«
»Wir haben einmal darüber gesprochen. Dienstag nacht; da war er ruhiger. Aber er sagte, Silber wäre auch richtig für einen Mann. Und die Bürsten wären so gut. Das gäbe es heute nicht mehr. Sonst sprach er wenig.«
»Das Silber geht jetzt zur Behörde. Der Mann hat keinen Verwandten.«
Die Schwester nickte verständig. »Schade! Es wird schwarz werden. Und Bürsten verderben, wenn sie nicht neu sind und nicht gebraucht werden. Man sollte sie vorher auswaschen.«
»Ja, schade«, sagte Ravic. »Besser, Sie hätten sie bekommen. Dann hätte wenigstens jemand Freude daran gehabt.«
Die Schwester lächelte dankbar. »Es macht nichts. Ich habe nichts erwartet. Sterbende verschenken selten etwas. Nur Genesende. Sterbende wollen nicht glauben, daß sie sterben. Deshalb tun sie es nicht. Manche tun es auch nicht aus Bosheit. Sie glauben nicht, Herr Doktor, wie schrecklich Sterbende sein können! Was die einem manchmal sagen, bevor sie tot sind!«
Ihr rotbackiges Kindergesicht war offen und klar. Sie machte sich nichts aus dem, was rund um sie vorging, wenn es nicht in ihre kleine Welt paßte. Sterbende waren unartige Kinder oder hilflose Kinder. Man achtete auf sie, bis sie tot waren, und dann kamen neue; manche wurden gesund und waren dankbar, andere nicht, und andere starben eben. Das war so. Nichts, um sich zu beunruhigen. Es war viel wichtiger, ob beim Ausverkauf im »Bonmarché« die Preise um fünfundzwanzig Prozent herabgesetzt wurden — oder ob Cousin Jean die Anne Couturier heiraten würde.
Es war auch wichtiger, dachte Ravic. Der kleine Zirkel, der vor dem Chaos schützte. — Wohin käme man sonst?
Er saß vor dem Café Triomphe. Die Nacht war blaß und wolkig. Es war warm, und irgendwo zuckten lautlose Blitze. Das Leben kroch dichter auf den Bürgersteigen dahin. Eine Frau mit einem atlasblauen Hut setzte sich zu ihm an den Tisch.
»Zahlst du mir einen Vermouth?« fragte sie.
»Ja. Aber laß mich allein. Ich warte auf jemand.«
»Wir können zusammen warten.«
»Besser nicht. Ich warte auf eine Ringkämpferin vom Palace du Sport.«
Die Frau lächelte. Sie war so dick bemalt, daß man das Lächeln nur in den Lippen sah. Alles andere war wie eine weiße Maske. »Komm mit mir«, sagte sie. »Ich habe eine süße Wohnung. Und ich bin gut.«
Ravic schüttelte den Kopf. Er legte einen Fünffrankschein auf den Tisch. »Hier. Adieu. Und alles Gute.«
Die Frau nahm den Schein, faltete ihn und schob ihn unter ihr Strumpfband. »Cafard?« fragte sie.
»Nein.«
»Ich bin gut gegen Cafard. Habe eine sehr nette Freundin. Jung«, fügte sie nach einer Pause hinzu. »Brüste wie der Eiffelturm.«
»Ein anderes Mal.«
»Schön.« Die Frau stand auf und setzte sich ein paar Tische weiter. Sie sah noch einige Male herüber, dann kaufte sie eine Sportzeitung und begann, die Sportresultate zu lesen.
Ravic starrte in den Wirbel, der sich unablässig an den Tischen vorbeischob. Die Kapelle im Innenraum spielte Wiener Walzer. Die Blitze wurden stärker. Eine Gruppe von jungen Homosexuellen nahm wie ein Papageienschwarm am Nebentisch kokett lärmend Platz. Sie trugen Backenbärte, die neueste Mode, und ihre Jacken hatten zu breite Schultern und zu enge Taillen.
Ein Mädchen blieb an Ravics Tisch stehen und sah ihn an. Sie kam ihm vage bekannt vor — aber er kannte so viele. Sie sah aus wie eine der zarteren Huren mit dem Hilflosigkeitsappell.
»Kennen Sie mich nicht wieder?« fragte sie.
»Natürlich«, sagte Ravic. Er hatte keine Ahnung. »Wie geht es?«
»Gut. Aber Sie kennen mich wirklich nicht mehr?«
»Ich vergesse Namen. Aber ich kenne Sie natürlich. Es ist lange her, seit wir uns zuletzt gesehen haben.«
»Ja. Sie haben Bobo damals einen guten Schrecken eingejagt.« Sie lächelte. »Sie haben mir das Leben gerettet, und jetzt kennen Sie mich nicht wieder.«
Bobo. Leben gerettet. Die Hebamme. Ravic erinnerte sich jetzt. »Sie sind Lucienne«, sagte er. Natürlich. »Damals waren Sie krank. Heute sind Sie gesund. Das ist es. Deshalb habe ich Sie nicht gleich erkannt.«
Lucienne strahlte. »Wirklich! Sie erinnern sich tatsächlich! Vielen Dank für die hundert Frank, die Sie von der Hebamme zurückbekommen haben.«
»Das — ach ja...« Er hatte ihr damals nach seinem Mißerfolg bei der Madame Boucher von sich aus etwas geschickt. »Es war leider nicht alles.«
»Es war genug. Ich hatte schon das Ganze verloren gegeben.«
»Gut. Wollen Sie etwas mit mir trinken, Lucienne?«
Sie nickte und setzte sich behutsam neben ihn. »Einen Cinzano mit Selters.«
»Was machen Sie, Lucienne?«
»Mir geht es sehr gut.«
»Sind Sie noch mit Bobo?«
»Ja, natürlich. Aber er ist jetzt anders, besser.«
»Gut.«
Es war nicht viel zu fragen. Die kleine Näherin war eine kleine Hure geworden. Dafür hatte er sie zusammengeflickt. Bobo hatte den Rest besorgt. Angst vor Kindern brauchte sie nicht mehr zu haben. Ein Grund mehr. Sie war noch im Anfang; das bißchen Kindlichkeit gab ihr noch den Anreiz für ältere Routiniers — ein Stückchen Porzellan, das noch nicht abgeschabt war durch zu vielen Gebrauch. Sie trank vorsichtig wie ein Vogel, aber die Augen wanderten schon umher. Es war nichts gerade Erheiterndes. Auch nichts für großes Bedauern. Just ein bißchen Leben, das rutschte. »Bist du zufrieden?« fragte er.
Sie nickte. Er sah, daß sie wirklich zufrieden war. Sie fand alles ganz richtig. Es gab nichts zu dramatisieren. »Sind Sie allein?« fragte sie.
»Ja, Lucienne.«
»An solch einem Abend?«
»Ja.«
Sie blickte ihn scheu an und lächelte. »Ich habe Zeit«, sagte sie.
Was ist los mit mir? dachte Ravic. Sehe ich so hungrig aus, daß mir bereits jede Hure ein Stück käuflicher Liebe anträgt? »Es ist zu weit, zu dir zu fahren, Lucienne. Ich habe nicht so viel Zeit.«
»Wir können nicht zu mir fahren. Bobo darf nichts davon wissen.«
Ravic sah sie an. »Weiß Bobo nie etwas davon?«
»Doch. Von den andern weiß er es. Er paßt ja auf.« Sie lächelte.
»Er ist noch so jung. Er glaubt, daß ich ihm sonst das Geld nicht gebe. Von Ihnen will ich kein Geld.«
»Darf Bobo deshalb nichts wissen?«
»Nicht deshalb. Aber er würde eifersüchtig werden. Und dann wird er wild.«
»Wird er bei allen eifersüchtig?«
Lucienne blickte erstaunt auf. »Natürlich nicht. Das andere ist doch Geschäft .«
»Nur dann also, wenn es kein Geld kostet?«
Lucienne zögerte. Dann errötete sie langsam. »Nicht deshalb. Nur, wenn er denkt, daß noch etwas anderes dabei ist.« Sie zögerte wieder. »Daß ich etwas fühle.«
Sie blickte nicht auf. Ravic nahm ihre Hand, die verloren auf dem Tisch lag. »Lucienne«, sagte er. »Es ist hübsch, daß du dich erinnert hast. Und daß du mit mir gehen willst. Du bist reizend, und ich würde dich mitnehmen. Aber ich kann mit niemand schlafen, den ich einmal operiert habe. Verstehst du das?«
Sie hob die langen, dunklen Wimpern und nickte rasch. »Ja.« Sie stand auf. »Dann will ich jetzt gehen.«
»Adieu, Lucienne. Alles Gute. Nimm dich in acht, daß du nicht krank wirst.«
»Ja.«
Ravic schrieb etwas auf einen Zettel. »Besorge dir dies, wenn du es noch nicht hast. Es ist das Beste. Und gib nicht alles Geld an Bobo.«
Sie lächelte und schüttelte den Kopf. Sie wußte und er wußte auch, daß sie es trotzdem tun würde. Ravic blickte ihr nach, bis sie in der Menge verschwand. Dann winkte er dem Kellner.
Die Frau mit dem blauen Hut kam vorbei. Sie hatte die Szene beobachtet. Sie fächelte sich mit ihrer zusammengefalteten Zeitung und zeigte einen Mund voll falscher Zähne. »Entweder du bist impotent oder schwul, mein Süßer«, sagte sie freundlich im Vorbeigehen. »Viel Glück und herzlichen Dank.«
Ravic ging durch die warme Nacht. Die Blitze wehten über die Dächer. Die Luft war still. Am Louvre fand er den Eingang erleuchtet. Die Türen standen offen. Er ging hinein.
Es war eine der Nachtausstellungen. Ein Teil der Säle war erleuchtet. Er ging durch die ägyptische Ausstellung, die aussah wie ein riesiges, erhelltes Grab. Versteinert hockten und standen die Könige von vor dreitausend Jahren und starrten die Gruppen von umherwandernden Studenten, Frauen in vorjährigen Hüten und älteren gelangweilten Männern reglos aus granitenen Augen an. Es roch nach Staub, toter Luft und Unsterblichkeit.
In der griechischen Abteilung fl üsterten vor der Venus von Milo einige Mädchen, die ihr in nichts glichen. Ravic blieb stehen. Nach dem Granit und dem grünen Syenit der Ägypter war der Marmor dekadent und weich. Die sanft füllige Venus hatte etwas von einer zufriedenen, badenden Hausfrau; schön und ohne Gedanken. Apollo, der Eidechsentöter, war ein Homosexueller, der mehr turnen sollte. Aber sie standen in Sälen, das tötete sie. Es tötete die Ägypter nicht; sie waren für Gräber und Tempel gemacht. Die Griechen brauchten Sonne, Luft und Säulen, durch die das goldene Licht Athens schien.
Ravic ging weiter. Die große Halle mit den Treppen kam ihm kühl entgegen. Und plötzlich, hoch über allem, schwebte die Nike von Samothrake.
Es war lange her, daß er sie gesehen hatte. Das letztemal war es an einem grauen Tag gewesen, der Marmor war unansehnlich erschienen, und im schmutzigen Winterlicht des Museums hatte die Prinzessin des Sieges gezögert und gefroren. Jetzt aber stand sie hoch über den Treppen, auf dem Vorbau des Marmorschiffbruchstücks, angeleuchtet von Scheinwerfern, strahlend, die Flügel weit ausgebreitet, die Kleider vom Wind eng an den schreitenden Körper gepreßt, hell und bereit, abzufliegen. Hinter ihr schien das weinfarbene Meer von Salamis zu rauschen, und der Himmel war dunkel vor dem Samt der Erwartung.
Sie wußte nichts von Moral. Sie wußte nichts von Problemen. Sie kannte nicht die Stürme und die schwarzen Hintergründe des Blutes. Sie kannte den Sieg und die Niederlage, und beides war fast gleich. Sie war nicht Verführung; sie war Fliegen. Sie war nicht Lockung; sie war Unbekümmertheit. Sie hatte kein Geheimnis — und doch war sie erregender als die Venus, die ihr Geschlecht verbarg und damit auf es deutete. Sie war den Vögeln verwandt und den Schiffen — dem Wind, den Wellen und dem Horizont. Sie hatte keine Heimat.
Sie hatte keine Heimat, dachte Ravic. Aber sie brauchte auch keine. Sie war auf allen Schiffen zu Hause, wo Mut und Kampf, und sogar in der Niederlage, wenn sie ohne Verzweiflung war.
Sie war nicht nur die Göttin des Sieges — sie war auch die Göttin voller Abenteuer und die Göttin der Emigranten — solange sie nicht aufgaben.
Er sah sich um. Niemand mehr in der Halle. Die Studenten und die Leute mit den Baedekern waren nach Hause gegangen. Nach Hause — was für ein anderes Zuhause gab es für den, der nirgendwohin gehörte, als das stürmische im Herzen eines andern für eine kurze Zeit? War das nicht der Grund, daß die Liebe, wenn sie in das Herz der Heimatlosen einschlug, sie so schüttelte und sie so ganz besaß — weil sie nichts anderes hatten? Hatte er nicht deshalb versucht, ihr aus dem Wege zu gehen? Und war sie ihm nicht nachgekommen und hatte ihn erreicht und niedergeschlagen? Es war schwerer, sich auf dem schlüpfrigen Eis der Fremde wieder aufzurichten als auf der vertrauten Erde des Gewohnten.
Etwas fing sein Auge. Etwas Kleines, Flatterndes, Weißes. Es war ein Schmetterling, der durch die offene Eingangstür hereingeflogen sein mußte. Er war irgendwoher gekommen, von den warmen Rosenbeeten der Tuilerien, aufgeschreckt vielleicht von zwei Liebenden aus seinem Duftschlaf, geblendet dann durch Lichter, die unbekannte Sonnen waren, viele, verwirrende — er hatte sich geflüchtet in den Eingang, in das schützende Dunkel, das die großen Türen bargen —, und jetzt taumelte er verloren und mutig in der großen Halle umher, in der er sterben würde — müde werden, schlafen auf einem Mauersims, einem Fenstervorsprung oder auf der Schulter der strahlenden Göttin hoch oben, am Morgen würde er nach Blumen suchen und Leben und dem hellen Honig der Blüten und sie nicht finden und irgendwann wieder einschlafen auf tausendjährigem Marmor, schwächer schon, bis der Griff der zarten zuverlässigen Füße sich lösen und er herabfallen würde, ein schmales Blatt vorzeitigen Herbstes.
Sentimentalität, dachte Ravic. Die Göttin des Sieges und der Refugié Schmetterling. Billiges Symbol. Aber was rührte anders als die billigen Dinge, die billigen Symbole, die billigen Gefühle, die billige Sentimentalität? Was hatte sie denn so billig gemacht? Ihre überdeutliche Wahrheit? Der Snobismus verflog, wenn es einem an die Kehle ging. Der Schmetterling war im Halbdunkel der Kuppel verschwunden. Ravic ging hinaus. Die warme Luft draußen kam ihm entgegen, lau wie ein Bad. Er blieb stehen. Billige Gefühle! War er selbst nicht ausgeliefert dem billigsten von allen? Er starrte in den weiten Hof, in dem die Schatten der Jahrhunderte hockten, und er spürte, wie es plötzlich mit Fäusten auf ihn einschlug. Er taumelte fast unter dem Ansturm. Die weiße, auffl iegende Nike geisterte noch vor seinen Augen — aber dahinter tauchte aus dem Schatten ein anderes Gesicht auf, ein billiges Gesicht, ein kostbares Gesicht, in dem seine Phantasie sich gefangen hatte wie ein indischer Schleier in einem Rosenbusch voll Dornen. Er zerrte daran, aber die Dornen hielten fest, sie hielten die seidenen und goldenen Fäden fest, sie waren so verknüpft schon damit, daß das Auge nicht mehr ganz unterscheiden konnte, was dorniges Gezweig war und was schimmerndes Gewebe.
Gesicht! Gesicht! Wer fragte, ob es billig oder kostbar war. Einmalig oder tausendmalig? Man konnte vorher Fragen stellen — aber wenn man einmal gefangen war, wußte man es nicht mehr. Man war in der Liebe gefangen — nicht in dem einzelnen Menschen, der zufällig ihren Namen trug. Wer konnte noch urteilen, geblendet von den Feuern der Phantasie? Liebe kannte keinen Wert.
Der Himmel war niedriger geworden. Die lautlosen Blitze rissen für Augenblicke schwefliges Gewölk aus der Nacht. Die Schwüle lag mit tausend blinden Augen gestaltlos auf den Dächern, Ravic ging die Rue Rivoli entlang. Unter den Bogengängen leuchteten die Schaufenster. Ein Strom von Menschen schob sich daran entlang. Die Automobile waren eine Kette von blinkenden Reflexen. Da gehe ich, dachte er, einer unter Tausenden, langsam an diesen Auslagen von funkelndem Schund und köstlichen Dingen entlang, die Hände in den Taschen, ein Spaziergänger am Abend — und in mir bebt mein Blut, und in den grauen und weißen, pulsenden Windungen von zwei Handvoll molluskenhafter Masse, Gehirn genannt, tobte eine unsichtbare Schlacht, die die Wirklichkeit unwirklich und die Unwirklichkeit wirklich erscheinen läßt. Ich fühle Arme mich anstoßen, Körper mich streifen, Augen mich mustern, ich höre die Autos, die Stimmen, das Brodeln handfester Wirklichkeit, ich bin mittendrin und doch weiter entfernt davon wie der Mond — auf einem Planeten, jenseits der Logik und der Tatsachen, schreit etwas in mir einen Namen und weiß, es ist nicht der Name, und schreit trotzdem, es schreit ihn in ein Schweigen, das immer war und in dem viele Schreie schon verhallten und aus dem nie eine Antwort war, und es weiß ihn und schreit ihn trotzdem, den Schrei der Liebesnacht und der Todesnacht, den Schrei der Ekstase und des zusammenstürzenden Bewußtseins, des Dschungels und der Wüste, und ich kann tausend Antworten wissen, diese eine ist außer mir, und ich kann sie nie erreichen.
Liebe! Wieviel dieser Name decken mußte! Von der sanftesten Zärtlichkeit der Haut bis zum fernsten Aufruhr des Geistes, vom einfachsten Familienwunsch bis zur Todeserschütterung, von der besinnungslosen Brunst bis zum Kampf Jakobs mit dem Engel. Da gehe ich, sagte Ravic, ein Mann von mehr als vierzig Jahren, geschult in vielen Schulen, zusammengeschlagen und wieder aufgestanden, mit Erfahrung und Wissen, gesiebt durch den Filter der Jahre, härter geworden, kritischer geworden, kälter geworden — ich wollte es nicht und ich glaubte es nicht, ich dachte nicht, daß es noch einmal kommen würde — und da ist es nun, und alle Erfahrung nützt nichts, alles Wissen macht es nur noch brennender —, und was brennt besser auf den Feuern des Gefühls als trockener Zynismus und das aufgespeicherte Holz kritischer Jahre?
Er ging und ging, und die Nacht war weit und hallte; er ging achtlos weiter und wußte nicht, ob es Stunden waren oder Minuten, und er war nur wenig verwundert, als er sich wiederfand in den Gärten hinter der Avenue Raphael.
Das Haus an der Rue Pascal. Die Etagen, bleich hinauf — hoch die Studios, einige erleuchtet. Er fand die Fenster von Joans Studio. Sie waren hell. Sie war zu Hause. Aber vielleicht war sie auch nicht zu Hause und nur die Lichter brannten. Sie haßte es, in dunkle Räume zu kommen. Genau wie er. Ravic ging zur Straße hinüber. Ein paar Wagen standen vor dem Haus. Ein gelber Roadster darunter, eine normale Maschine, wie ein Rennwagen aufgemacht. Das konnte der Wagen des andern sein. Ein Wagen für einen Schauspieler. Rote Ledersitze, ein Armaturenbrett wie für ein Flugzeug, mit einer Fülle unnötiger Instrumente — natürlich, das mußte er sein. Bin ich eifersüchtig? dachte er erstaunt. Eifersüchtig auf das zufällige Objekt, an dem sie sich festgehakt hat? Eifersüchtig auf etwas, das mich nichts angeht? Man kann eifersüchtig sein auf eine Liebe, die sich abgewendet hat — aber nicht auf das, wohin sie sich gewendet hat.
Er ging zurück zu den Anlagen. Blüten rochen aus dem Dunkel, süß, vermischt mit dem Geruch von Erde und abgekühltem Grün. Sie rochen stark, wie vor Gewitter. Er fand eine Bank und setzte sich. Das bin ich nicht, dachte er, dieser verspätete Liebhaber, der hier auf einer Bank vor dem Haus der Frau sitzt, die ihn verlassen hat, und ihr Fenster beobachtet! Das bin ich nicht, geschüttelt von einem Verlangen, das, er genau sezieren kann und doch nicht Herr darüber ist! Das bin ich nicht, dieser Narr hier, der Jahre geben würde, wenn er die Zeit zurückdrehen und ein blondes Nichts zurückhaben könnte, das selbigen Unsinn in sein Ohr schwatzte! Das bin nicht ich, der — zum Teufel mit allen Ausreden — hier sitzt und eifersüchtig ist und zerbrochen und elend und der am liebsten den Wagen dort anzünden würde!
Er suchte nach einer Zigarette. Das leise Glühen. Der unsichtbare Rauch. Die kurze Kometenbahn des Streichholzes. Warum ging er nicht hinauf in das Studio? Was konnte schon sein? Es war noch nicht zu spät. Das Licht brannte noch. Er würde die Situation schon meistern können.Warum holte er sie nicht heraus? Jetzt, wo er alles wußte? Holte sie heraus und nahm sie mit sich und ließ sie nie mehr los?
Er starrte in das Dunkel. Was würde es nützen? Was würde schon geschehen? Er konnte den andern nicht hinauswerfen. Man konnte nichts und niemand aus dem Herzen eines andern hinauswerfen. Hätte er sie nicht nehmen können, als sie zu ihm gekommen war? Weshalb hatte er es nicht getan?
Er warf die Zigarette fort. Weil es nicht genug war. Das war es. Er wollte mehr. Es würde nicht genug sein, selbst wenn sie käme, selbst wenn sie wiederkäme und alles wäre vergessen und versunken, es würde nie mehr genug sein, auf eine sonderbare und schreckliche Weise nie mehr genug. Irgend etwas war fehlgegangen, der Strahl der Phantasie hatte irgendwann den Spiegel nicht mehr getroffen, der ihn auffing und glühender in sich selbst zurückwarf, und nun war er darüber hinausgeschossen, in blinde Unerfüllbarkeit, und nichts konnte ihn mehr zurückbringen, kein Spiegel mehr und keine tausend Spiegel. Sie konnten nur noch einen Teil auffangen, aber nie mehr zurückholen; er geisterte längst verloren an den leeren Himmeln der Liebe entlang und füllte sie nur noch mit leuchtendem Nebel, der keine Form mehr hatte und nie mehr ein Regenbogen um ein geliebtes Haupt haben würde. Der magische Kreis war gesprengt, die Klage blieb, aber die Hoffnung lag in Scherben.
Jemand kam aus dem Haus. Ein Mann. Ravic richtete sich auf. Eine Frau folgte. Sie lachten. Sie waren es nicht. Einer der Wagen startete und fuhr ab. Er nahm eine andere Zigarette. Hätte er sie halten können, wenn es anders gewesen wäre? Doch was konnte man halten? Nur eine Illusion, wenig mehr. Aber war eine Illusion nicht genug? Konnte man je mehr erreichen? Wer wußte dann etwas von dem schwarzen Strudel des Lebens, der namenlos unterhalb der Sinne flutete, die ihn aus dem hohlen Sausen zu Dingen machten, zu Tisch und Lampe und Heimat und Du und Liebe? Da war nur eine Ahnung und ein schauriges Zwielicht. War es nicht genug?
Es war nicht genug. Es war nur genug, wenn man daran glaubte. Wenn der Kristall einmal zersprungen war unter dem Hammer des Zweifels, konnte man ihn nur kitten, aber nichts mehr. Kitten, lügen und das zerbrochene Licht betrachten, das einmal weißer Glanz war! Nichts kam wieder. Nichts formte sich zurück. Nichts. Selbst wenn Joan zurückkäme, es würde nicht mehr dasselbe sein. Der gekittete Kristall. Die Stunde war versäumt. Nichts brachte sie zurück.
Er spürte einen scharfen, unerträglichen Schmerz. Etwas riß in ihm, zerriß. Mein Gott, mein Gott, dachte er, daß ich so leiden kann. Daran so leiden kann. Ich sehe mir selbst über die Schulter, aber es ändert nichts. Ich weiß, wenn ich es bekäme, würde ich es wieder loslassen, aber das löscht mein Verlangen nicht. Ich seziere es wie einen toten Körper auf dem Tisch in der Morgue — aber er wird noch tausendmal lebendiger. Ich weiß, daß es irgendwann vorbeigehen wird — aber es hilft mir nichts. Er starrte mit geblendeten Augen zu dem Fenster hinauf, und er fühlte sich entsetzlich lächerlich — und auch das änderte nichts.
Ein schwerer Donner rollte plötzlich über die Stadt. Regentropfen klatschten ins Gebüsch. Ravic stand auf. Er sah, wie die Straße sich mit schwarzem Silber sprenkelte.
Der Regen begann zu singen. Die dicken Tropfen schlugen ihm warm ins Gesicht. Und plötzlich wußte er nicht mehr, ob er lächerlich war oder elend, ob er litt oder nicht — er wußte nur noch, daß er lebte. Er lebte! Er war da, es hatte ihn wieder, es schüttelte ihn, er war kein Zuschauer mehr, kein Außenstehender mehr, der große Glanz des unkontrollierbaren Gefühls schoß wieder durch seine Adern wie Feuer durch Hochofenröhren, es war fast gleichgültig, ob er glücklich oder unglücklich war, er lebte und er spürte voll, daß er lebte, und das war genug!
Er stand im Regen, der auf ihn niederstürzte wie ein himmlisches Maschinengewehrfeuer. Er stand da, und er war Regen und Sturm und Wasser und Erde, die Blitze von den Horizonten kreuzten sich in ihm; er war Kreatur, Element; nichts hatte mehr Namen und wurde einsam dadurch, alles war dasselbe, die Liebe, das stürzende Wasser, die fahlen Feuer über den Dächern, die Erde, die sich aufzuwölben schien, keine Grenzen waren mehr da, und er gehörte dazu, und Glück und Unglück waren nur noch leere Hülsen, weggeschleudert von dem mächtigen Gefühl, zu leben und sich lebend zu fühlen. »Du da oben«, sagte er gegen das erleuchtete Fenster und lachte und wußte nicht, daß er lachte. »Du kleines Licht, du Fata Morgana, du Gesicht, das eine sonderbare Macht über mich hat, auf diesem Planeten, auf dem es hunderttausend andere gibt, bessere, schönere, klügere, gütigere, treuere, verständigere — du Zufall, mir nachts über den Weg geworfen, in mein Leben gefallen, du angeschwemmtes, gedankenloses, besitzergreifendes Gefühl, unter meine Haut gekrochen im Schlaf, du, die von mir fast nichts anderes weiß, als daß ich widerstand, und die sich mir deshalb entgegenwarf, bis ich nicht mehr widerstand, und die dann weiter wollte, sei gegrüßt! Hier stehe ich und glaubte, nie wieder einmal so zu stehen. Der Regen rinnt durch mein Hemd und ist wärmer und kühler und weicher als deine Hände und deine Haut; hier stehe ich, elend und mit den Krallen der Eifersucht im Magen, dich verlangend, dich verachtend, dich bewundernd, dich anbetend, weil du den Blitz geworfen hast, der gezündet hat, den Blitz, der in jedem Schoße ruht, den Funken Leben, das schwarze Feuer; hier stehe ich, nicht mehr wie ein Toter auf Urlaub mit kleinem Zynismus, Sarkasmus und etwas Mut, nicht mehr kalt; lebendig wieder, leidend meinetwegen, aber offen wieder den Gewittern des Lebens, zurückgeboren in seine schlichte Gewalt! Sei gebenedeit, Madonna mit dem flüchtigen Herzen, Nike mit dem rumänischen Akzent. Traum und Betrug, zerbrochener Spiegel eines dunklen Gottes, Ahnungslose — sei bedankt! Nie werde ich es dir sagen, denn du würdest unbarmherzig Kapital daraus schlagen, aber du hast mir wiedergegeben, was weder Plato noch Sternchrysanthemen, weder Flucht noch Freiheit, weder alle Poesie noch alles Erbarmen, weder Verzweiflung noch höchste und geduldigste Hoffnung mir geben konnte: das einfache, starke, direkte Leben, das mir wie ein Verbrechen erschien in dieser Zeit zwischen Katastrophe und Katastrophe! Sei gegrüßt! Sei bedankt! Ich mußte dich verlieren, um es zu wissen! Sei gegrüßt!
Der Regen war zu einem silbernen, flimmernden Vorhang geworden. Die Büsche begannen zu duften. Die Erde roch stark und dankbar. Jemand stürzte aus dem Haus gegenüber und riß das Verdeck über den gelben Roadster. Es war gleich. Alles war gleich. Die Nacht war da, sie schüttete den Regen von den Sternen, mystisch befruchtend stürzte er auf die steinerne Stadt mit ihren Alleen und Gärten, Millionen Blüten hielten ihm ihr buntes Geschlecht hin und empfingen ihn, und er warf sich in Millionen ausgebreitete, gefiederte Astarme und wühlte sich in die Erde zu dunkler Vermählung mit Millionen wartender Wurzeln; der Regen, die Nacht, die Natur, das Wachsen, sie waren da, unbekümmert um Zerstörung, Tod,Verbrecher, falsche Heilige, Sieg oder Niederlage; sie waren da wie in jedem Jahr, und in dieser Nacht gehörte er dazu, aufgebrochene Schale, sich reckendes Leben, Leben, Leben, gegrüßt und gebenedeit!
Er ging rasch durch die Gärten und Straßen. Er sah nicht zurück; er ging und ging, und die Kronen des Bois empfingen ihn wie ein riesiger, summender Bienenkorb; der Regen trommelte auf sie, sie schwankten und antworteten, und es war ihm, als wäre er wieder jung und ginge das erstemal zu einer Frau.