37349.fb2 Arc de Triomphe - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 24

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»Was soll es sein?« fragte der Kellner Ravic.

»Bringen Sie mir einen...« »Was?« Ravic antwortete nicht.

»Ich habe Sie nicht verstanden, mein Herr«, sagte der Kellner. »Irgend etwas. Bringen Sie mir irgend etwas.« »Einen Pernod?«

»Ja...«

Ravic schloß die Augen. Er öffnete sie langsam wieder. Der Mann saß noch immer da. Dieses Mal war kein Irrtum mehr möglich.

Haake saß am Tisch neben der Tür. Er war allein und aß. Auf dem Tisch stand eine Silberplatte mit zwei halben Langusten und eine Flasche Champagne nature in einem Kühler. Ein Kellner stand am Tisch und mischte einen grünen Salat mit Tomaten. Ravic sah das alles überdeutlich, als präge es sich wie ein Relief hinter seinen Augen in Wachs. Er sah einen Siegelring mit einem Wappen in rotem Stein, als Haake die Flasche aus dem Kühler nahm. Er kannte diesen Ring und die weiße, fleischige Hand wieder. Er hatte sie im Wirbel methodischen Wahnsinns gesehen, als er, zusammengebrochen neben dem Prügeltisch, aus einer Ohnmacht in grelles Licht zurückgeworfen war — Haake vor ihm, vorsichtig zurücktretend, um seine tadellose Uniform zu schützen vor dem Wasser, das über Ravic geschüttet wurde —, die fleischige, zu weiße Hand ausgestreckt, auf ihn zeigend und mit sanfter Stimme erklärend: »Das war nur der Anfang. Es war noch nichts. Wollen Sie uns jetzt die Namen nennen? Oder sollen wir fortfahren? Wir haben noch viele Möglichkeiten. Ihre Fingernägel sind noch heil, wie ich sehe.«

Haake blickte auf. Et sah Ravic direkt in die Augen. Ravic brauchte alle Kraft, sitzen zu bleiben. Er nahm das Glas Pernod, trank einen Schluck und zwang sich, langsam auf die Salatschüssel zu blicken, als interessiere ihn die Zubereitung. Er wußte nicht, ob Haake ihn erkannt hatte. Er spürte, wie sein Rücken in einer Minute vollkommen naß geworden war.

Nach einer Weile streifte er den Tisch wieder mit einem Blick. Haake aß die Languste. Er sah auf seinen Teller. Das Licht spiegelte sich auf seiner Glatze. Ravic blickte sich um. Das Lokal war voll besetzt. Es war unmöglich, etwas zu tun. Er hatte keine Waffe bei sich, und wenn er sich auf Haake gestürzt hätte, wären im nächsten Augenblick zehn Leute dagewesen, um ihn zurückzureißen. Zwei Minuten später die Polizei. Es gab nichts anderes, als zu warten und Haake zu folgen. Herauszufinden, wo er wohnte.

Er zwang sich, eine Zigarette zu rauchen und erst wieder zu Haake hinüberzusehen, als sie zu Ende war. Langsam, als suche er jemand, blickte er um sich. Haake war gerade fertig mit seiner Languste. Er hatte die Serviette in den Händen und wischte sich die Lippen. Er tat es nicht mit einer Hand; er tat es mit beiden. Er hielt die Serviette etwas gespannt und tupfte damit die Lippen ab — erst die eine, dann die andere, wie eine Frau, die Lippenrouge abnimmt. Er sah Ravic dabei voll an.

Ravic ließ seinen Blick weiterwandern. Er spürte, daß Haake ihn ansah. Er winkte dem Kellner und ließ sich einen zweiten Pernod geben. Ein anderer Kellner verdeckte jetzt Haakes Tisch. Er räumte den Rest der Languste weg, schenkte das leere Glas nach und brachte eine Platte mit Käse. Haake deutete auf einen fließenden Brie, der auf einer Strohunterlage lag.

Ravic rauchte eine neue Zigarette. Nach einer Weile, aus schrägen Augenwinkeln, spürte er wieder Haakes Blick. Das war nicht mehr zufällig. Er spürte, wie seine Haut sich zusammenzog. Wenn Haake ihn erkannt hatte — er hielt den Kellner an, als er vorbeikam. »Können Sie mir den Pernod ’rausbringen? Ich möchte auf der Terrasse sitzen. Kühler da.«

Der Kellner zögerte. »Es wäre bequemer, wenn Sie hier bezahlen. Draußen ist ein anderer Kellner. Ich kann Ihnen dann das Glas herausbringen.«

Ravic schüttelte den Kopf und holte einen Geldschein heraus.

»Kann es hier trinken und draußen ein anderes bestellen. Dann gibt es keine Konfusion.«

»Sehr wohl, mein Herr. Danke, mein Herr.«

Ravic trank sein Glas ohne Hast aus. Haake hatte zugehört, das wußte er. Er hatte aufgehört zu essen, während Ravic sprach. Jetzt aß er weiter. Ravic hielt sich noch eine Weile ruhig. Wenn Haake ihn erkannt hatte, gab es nur eins: so zu tun, als ob er selbst Haake nicht erkannt hatte, und ihn aus seinem Versteck weiter zu beobachten.

Er stand nach ein paar Minuten auf und schlenderte hinaus. Draußen waren fast alle Tische besetzt. Ravic blieb stehen, bis er einen Platz fand, von dem aus er ein Stück von Haakes Tisch im Restaurant im Auge hatte. Haake selbst konnte er nicht sehen; aber er mußte ihn sehen, wenn er aufstand, um fortzugehen. Er bestellte einen Pernod und zahlte gleich. Er wollte bereit sein, um sofort zu folgen.

»Ravic...«, sagte jemand neben ihm.

Er fuhr zusammen, als habe ihn jemand geschlagen. Joan stand neben ihm. Er starrte sie an. »Ravic...«, wiederholte sie. »Kennst du mich nicht mehr?«

»Ja, natürlich.« Seine Augen waren an Haakes Tisch. Der Kellner stand dort und brachte Kaffee. Er holte Atem. Es war noch Zeit.

»Joan«, sagte er mit Mühe. »Wie kommst du hierher?«

»Was für eine Frage. Jeder Mensch kommt doch jeden Tag zu Fouquet’s.«

»Bist du allein?«

»Ja.«

Er sah, daß sie immer noch stand und daß er saß. Er stand auf, so daß er den Tisch Haakes schräg vor sich hatte. »Ich habe hier etwas zu tun, Joan«, sagte er eilig, ohne sie anzusehen. »Ich kann dir nicht erklären, was. Aber ich kann dich nicht dabei brauchen. Du mußt mich allein lassen.«

»Ich werde warten.« Joan setzte sich. »Ich will sehen, wie die Frau aussieht.«

»Was für eine Frau?« fragte Ravic verständnislos.

»Die Frau, auf die du wartest.«

»Es ist keine Frau.«

»Was sonst?«

Er sah sie an. »Du erkennst mich nicht«, sagte sie. »Du willst mich wegschicken, du bist aufgeregt — ich weiß, daß da jemand ist. Und ich will sehen, wer das ist.«

Fünf Minuten, dachte Ravic. Vielleicht auch zehn oder fünfzehn für den Kaffee. Haake würde noch eine Zigarette rauchen. Eine Zigarette wahrscheinlich. Er mußte sehen, daß er Joan bis dahin los wurde.

»Gut«, sagte er. »Ich kann dich nicht hindern. Aber setz dich anderswohin.«

Sie antwortete nicht. Ihre Augen wurden heller, und ihr Gesieht wurde gespannt. »Es ist keine Frau«, sagte er. »Und zum Teufel, wenn es eine wäre, was ginge es dich an? Mach dich nicht lächerlich mit deiner Eifersucht, während du dich mit deinem Schauspieler herumtreibst.«

Joan antwortete nicht. Sie drehte sich nach der Richtung seiner Augen um und versuchte zu erkennen, nach wem er sah. »Laß das«, sagte er.

»Ist sie mit einem andern Mann?«

Ravic setzte sich plötzlich. Haake hatte vorher gehört, daß er auf der Terrasse sitzen wolle. Wenn er ihn erkannt hätte, würde er mißtrauisch sein und nachsehen, wo er geblieben war. Es war dann natürlicher und harmloser, mit einer Frau draußen zu sitzen.

»Gut«, sagte er. »Bleib hier. Was du denkst, ist Unsinn. Ich werde irgendwann aufstehen und weggehen. Du wirst mit mir gehen bis zu einem Taxi und nicht mitkommen. Willst du das tun?«

»Weshalb bist du so geheimnisvoll?«

»Ich bin nicht geheimnisvoll. Da ist ein Mann, den ich lange nicht gesehen habe. Ich will wissen, wo er wohnt. Das ist alles.«

»Es ist keine Frau?«

»Nein. Es ist ein Mann, und ich kann dir nichts weiter darüber sagen.«

Der Kellner stand neben dem Tisch. »Was willst du trinken?« fragte Ravic.

»Calvados.«

»Einen Calvados.« Der Kellner schlurfte davon.

»Trinkst du keinen?«

»Nein, ich trinke das hier.«

Joan betrachtete ihn. »Du weißt nicht, wie ich dich manchmal hasse.«

»Das kommt vor.« Ravic streifte Haakes Tisch. Glas, dachte er. Zitterndes, fließendes, schimmerndes Glas. Die Straße, die Tische, die Leute — getaucht alles in ein Gelee von schwankendem Glas.

»Du bist kalt, egoistisch...«

»Joan, wir werden das ein anderes Mal besprechen.«

Sie schwieg, während der Kellner das Glas vor sie setzte.

Ravic zahlte sofort. »Du hast mich in all das hineingebracht...«, sagte sie dann herausfordernd. »Ich weiß...« Er sah einen Augenblick Haakes Hand über dem Tisch, weiß, fleischig, nach Zucker greifend.

»Du! Niemand als du! Du hast mich nie geliebt und mit mir herumgespielt, und du hast gesehen, daß ich dich geliebt habe, und du hast dir nichts daraus gemacht.«

»Das ist wahr.«

»Was?«

»Es ist wahr«, sagte Ravic, ohne sie anzusehen. »Später war es anders.« »Ja später! Später! Da war alles durcheinander. Da war es zu spät. Du bist schuld.« »Ich weiß.« »Sprich nicht so mit mir!« Ihr Gesicht war weiß und zornig. »Du hörst nicht einmal zu.« »Doch!« Er sah sie an. Reden, irgend etwas reden, ganz gleich, was. »Hast du Krach gehabt mit deinem Schauspieler?« »Ja.« »Das wird vorbeigehen.« Blauer Rauch aus der Ecke. Der Kellner schenkte wieder Kaffee ein. Haake schien sich Zeit zu lassen. »Ich hätte nein sagen können«, sagte Joan. »Ich könnte sagen, ich wäre zufällig vorbeigekommen. Ich bin es nicht. Ich habe dich gesucht. Ich will weg von ihm.«

»Das will man immer. Das gehört dazu.«

»Ich habe Angst vor ihm. Er droht mir. Er will mich erschießen.«

»Was?« Ravic sah plötzlich auf. »Was war das?«

»Er sagt, er will mich erschießen.«

»Wer?« Er hatte nur halb zugehört. Dann verstand er. »Ach so! Du glaubst das doch nicht?«

»Er ist furchtbar jähzornig.«

»Unsinn! Wer so etwas sagt, tut es nicht. Ein Schauspieler schon gar nicht.«

Was rede ich da? dachte er. Was ist das alles? Was will ich hier? Irgendeine Stimme, irgendein Gesicht über dem Rauschen in den Ohren. Was geht das mich an? »Wozu erzählst du mir das alles?« fragte er.

»Ich will weg von ihm. Ich will zurück zu dir.«

Wenn er ein Taxi nimmt, wird es mindestens ein paar Sekunden dauern, bis ich eines anhalte, dachte Ravic. Bis es anfährt, kann es dann zu spät sein. Er stand auf. »Warte hier. Ich bin sofort zurück.«

»Was willst du...«

Er antwortete nicht. Rasch kreuzte er den Bürgersteig und hielt ein Taxi an. »Hier sind zehn Frank. Können Sie ein paar Minuten auf mich warten? Ich habe drinnen noch zu tun.«

Der Chauffeur sah den Geldschein an. Dann Ravic. Ravic zwinkerte. Der Chauffeur zwinkerte zurück. Er bewegte den Schein langsam hin und her. »Das ist extra«, sagte Ravic. »Sie verstehen schon, weshalb...«

»Verstehe.« Der Chauffeur grinste. »Gut, ich werde hier warten.«

»Parken Sie so, daß Sie gleich herausfahren können.«

»Schön, Chef.«

Ravic drängte sich eilig durch das Menschengewühl zurück. Seine Kehle verengte sich jäh. Er sah Haake unter der Tür stehen. Er hörte nicht, was Joan sagte. »Warte!« sagte er. »Warte! Gleich! Eine Sekunde!«

»Nein!«

Sie stand auf.

»Du wirst es bereuen!« Sie schluchzte fast.

Er zwang sich zu einem Lächeln. Er hielt ihre Hand fest. Haake stand noch immer da. »Setz dich«, sagte Ravic. »Eine Sekunde!«

»Nein!«

Ihre Hand zerrte unter seinem Griff. Er ließ sie los. Er wollte kein Aufsehen. Sie ging rasch davon, zwischen den Tischen durch, dicht an der Tür vorbei. Haake sah ihr nach. Dann blickte er langsam zurück, zu Ravic hinüber, dann wieder in die Richtung, in die Joan gegangen war. Ravic setzte sich. Das Blut donnerte plötzlich in seinen Schläfen. Er zog seine Brieftasche und tat, als suche er etwas. Er bemerkte, daß Haake zwischen den Tischen entlangschlenderte. Gleichgültig blickte er in die entgegengesetzte Richtung. Haake mußte dort seinen Blick kreuzen.

Er wartete. Es schien endlos lange zu dauern. Plötzlich packte ihn eine rasende Angst. Wie, wenn Haake umgekehrt war? Er wendete rasch den Kopf. Haake war nicht mehr da. Alles drehte sich einen Moment. »Erlauben Sie?« fragte jemand neben ihm.

Ravic hörte es nicht. Er sah zur Tür. Haake war nicht ins Restaurant zurückgegangen. Aufspringen, dachte er. Nachlaufen, versuchen, ihn noch zu erwischen. Hinter ihm war die Stimme wieder. Er drehte sich um und starrte. Haake war hinter seinem Rücken herumgekommen und stand jetzt neben ihm. Er deutete auf den Stuhl, auf dem Joan gesessen hatte. »Erlauben Sie? Es ist sonst kein Tisch mehr frei.«

Ravic nickte. Er war unfähig, etwas zu sagen. Sein Blut strömte zurück. Strömte, strömte, als flösse es unter den Stuhl und ließ den Körper zurück wie einen leeren Sack. Er preßte den Rücken fest gegen die Lehne. Da stand noch das Glas. Die milchige Flüssigkeit. Er hob es und trank. Es war schwer. Er blickte auf das Glas. Es war ruhig in seiner Hand. Das Zittern war in seinen Adern.

Haake bestellte einen Fine Champagne. Einen alten Fine Champagne. Er sprach französisch mit schwerem deutschem Akzent. Ravic winkte einem Zeitungsjungen. »Paris Soir.«

Der Zeitungsjunge blickte nach dem Eingang. Er wußte, dort stand die alte Zeitungsfrau. Er reichte Ravic die Zeitung, gefaltet, wie zufällig, griff nach der Münze und verschwand rasch.

Er muß mich erkannt haben, dachte Ravic. Weshalb ist er sonst gekommen? Er hatte nicht damit gerechnet. Jetzt konnte er nur bleiben und sehen, was Haake wollte, und danach handeln.

Er griff nach der Zeitung, las die Überschriften und legte sie wieder auf den Tisch. Haake sah ihn an. »Schöner Abend«, sagte er auf deutsch.

Ravic nickte.

Haake lächelte. »Gutes Auge, wie?«

»Scheinbar.«

»Ich sah Sie bereits drinnen.«

Ravic nickte aufmerksam und gleichgültig. Er war aufs äußerste gespannt. Er konnte sich nicht denken, was Haake vorhatte. Daß Ravic illegal in Frankreich war, konnte er nicht wissen. Aber vielleicht wußte die Gestapo auch das. Doch dafür war noch Zeit.

»Habe Sie gleich erkannt«, sagte Haake.

Ravic sah ihn an. »Der Schmiß«, sagte Haake und deutete auf Ravics Stirn. »Korpsstudent. Sie mußten also Deutscher sein. Oder in Deutschland studiert haben.«

Er lachte. Ravic sah ihn noch immer an. Das war unmöglich! Es war zu lächerlich! Er atmete tief auf in plötzlicher Entspannung. Haake hatte keine Ahnung, wer er war.

Seine Narbe an der Stirn hatte er für eine Mensurnarbe gehalten. Ravic lachte.

Er lachte zusammen mit Haake. Er mußte sich die Nägel in die Handballen krallen, um aufhören zu lachen.

»Stimmt?« fragte Haake mit einem gemütlichen Stolz.

»Ja, genau.«

Die Narbe an seiner Stirn. Sie war ihm vor den Augen Haakes im Gestapokeller geschlagen worden. Das Blut war ihm in die Augen und in den Mund geflossen. Und Haake saß da und hielt sie für eine Mensurnarbe und war stolz auf sich deshalb.

Der Kellner brachte Haakes Fine. Haake schnupperte genießerisch daran herum. »Das haben sie hier«, erklärte er. »Guten Kognak! Sonst...« Er blinzelte zu Ravic hinüber. »Alles faul. Ein Volk von Rentnern. Wollen nichts als Sicherheit und gutes Leben. Verloren gegen uns.«

Ravic dachte, er könne nicht sprechen. Er glaubte, wenn er sprechen würde, würde er sein Glas hochreißen, es gegen den Tisch kippen, daß es am Rande brach, und die spitzen Scherben Haake in die Augen schlagen. Er nahm vorsichtig und mit Mühe das Glas, trank es aus und stellte es ruhig wieder nieder.

»Was ist das?« fragte Haake.

»Pernod. Ersatz für Absinth.«

»Ah, Absinth. Das Zeug, das die Franzosen impotent macht, was?« Haake schmunzelte. »Entschuldigen Sie! War nicht persönlich gemeint.«

»Absinth ist verboten«, sagte Ravic. »Dies hier ist harmloser Ersatz. Absinth soll steril machen, nicht impotent. Deshalb ist er verboten. Das hier ist Anis. Schmeckt wie Lakritzenwasser.«

Es ging, dachte er. Es ging, ohne viel Erregung sogar. Er konnte antworten, leicht und glatt. Da war ein Wirbel, tief in ihm, sausend und schwarz — aber die Oberfläche war ruhig. »Leben Sie hier?« fragte Haake.

»Ja.«

»Lange?«

»Immer.«

»Verstehe«, sagte Haake. »Auslandsdeutscher. Hier geboren, wie?« Ravic nickte.

Haake trank seinen Fine. »Einige unserer Besten sind Auslandsdeutsche. Der Vertreter des Führers — in Ägypten geboren. Rosenberg in Rußland. Darre aus Argentinien. Die Gesinnung macht es, wie?«

»Nur«, erwiderte Ravic.

»Dachte ich mir.« Haakes Gesicht atmete Zufriedenheit. Dann machte er eine leichte Verbeugung über den Tisch, und es schien, als klappte er dabei unter dem Tisch die Hacken zusammen. »Übrigens — gestatten — von Haake.«

Ravic wiederholte die Zeremonie. »Horn.« Es war eines seiner früheren Pseudonyme. »Von Horn?« fragte Haake. »Ja.«

Haake nickte. Er wurde vertraulicher. Er hatte einen Mann seiner eigenen Klasse getroffen. »Sie kennen Paris sicher gut, wie?«

»Ziemlich.«

»Ich meine: nicht die Museen.« Haake grinste weltmännisch.

»Ich weiß, was Sie meinen.«

Der arische Herrenmensch möchte wahrscheinlich sumpfen gehen und kennt sich nicht aus, dachte Ravic. Wenn er ihn irgendwo hinkriegen könnte, in eine abgelegene Ecke, eine einsame Kneipe, eine verlorene Hurenbude — er überlegte rasch. Irgendwohin, wo er nicht gestört und gehindert werden könnte.

»Hier gibt es allerlei, wie?« fragte Haake.

»Sind Sie noch nicht lange in Paris?«

»Ich komme alle zwei Wochen für zwei oder drei Tage herüber. Art von Kontrolle. Ziemlich wichtig. Wir haben im letzten Jahr hier allerlei aufgebaut. Klappt fabelhaft. Kann nicht darüber reden, aber...« Haake lachte, »... hier kann man fast alles kaufen. Eine korrupte Bande. Wir wissen beinahe alles, was wir wollen. Brauchen nicht einmal danach suchen. Sie bringen es selbst.Vaterlandsverrat als eine Art von Patriotismus. Folge des Parteisystems. Jede Partei verrät die andere und das Land, um für sich zu profitieren. Unser Vorteil. Wir haben hier eine Menge Gesinnungsgenossen. In den einflußreichen Kreisen.« Er hob sein Glas, examinierte es, fand es leer und stellte es wieder zurück. »Sie rüsten hier nicht einmal. Glauben, daß wir nichts von ihnen verlangen werden, wenn sie nicht gerüstet sind. Wenn Sie die Ziffern ihrer Flugzeuge und Tanks wüßten... Sie würden sich totlachen über diese Selbstmordkandidaten.«

Ravic hörte ihm zu. Er war äußerst konzentriert, und trotzdem schwamm alles um ihn herum, wie ein Traum gerade vor dem Erwachen. Die Tische, die Kellner, der süße, abendliche Aufruhr des Lebens, die gleitenden Autoreihen, der Mond über den Häusern, die bunten Lichtreklamen an den Häuserfronten — und der redselige, vielfache Mörder ihm gegenüber, der sein Leben zerstört hatte.

Zwei Frauen in knappen Tailormade-Kostümen kamen vorüber. Sie lächelten Ravic zu. Es waren Yvette und Marthe aus der Osiris. Sie hatten ihren freien Tag.

»Schick, Donnerwetter«, sagte Haake.

Eine Seitenstraße, dachte Ravic. Eine schmale, leere Seitenstraße — wenn ich ihn dahin bekommen könnte. Oder ins Bois. »Das sind zwei Damen, die von der Liebe leben«, sagte er.

Haake sah ihnen nach. »Sehen gut aus. Sie wissen sicher ziemlich gut darüber Bescheid hier, wie?« Er bestellte einen zweiten Fine. »Darf ich Sie zu einem einladen?«

»Danke, ich will lieber bei diesem bleiben.«

»Es soll hier ja fabelhafte Buden geben. Tolle Plätze mit Vorführungen und so was.« Haakes Augen glitzerten. Sie glitzerten wie damals, vor Jahren, im kahlen Licht des Gestapokellers.

Ich darf nicht daran denken, dachte Ravic. Nicht jetzt. »Waren Sie nie in einer?« fragte er.

»Ich war in einigen. Studienhalber, natürlich. Mal sehen, wie weit ein Volk sinken kann. Aber sicher nicht in den richtigen. Ich muß natürlich vorsichtig sein. Könnte falsch ausgelegt werden.«

Ravic nickte. »Davor brauchen Sie keine Sorge zu haben. Es gibt Plätze, wohin nie ein Tourist kommt.«

»Kennen Sie sich da aus?«

»Natürlich. Gut sogar.«

Haake trank seinen zweiten Fine. Er wurde vertraulicher. Die Hemmungen, die er in Deutschland gehabt hätte, fielen fort. Ravic spürte, daß er vollkommen ahnungslos war. »Ich hatte gerade vor, heute ein bißchen herumzugehen«, sagte er zu Haake.

»Wirklich?«

»Ja. Ich mache das ab und zu. Man soll alles kennen, was man kennenlernen kann.«

»Richtig! Durchaus richtig!«

Haake sah ihn einen Augenblick starr an. Betrunken machen, dachte Ravic.Wenn es nicht anders geht, betrunken machen und irgendwohin schleppen.

Haakes Ausdruck hatte sich geändert. Er war nicht angetrunken; er hatte nur nachgedacht. »Schade«, sagte er schließlich. »Ich hätte gern mitgemacht.«

Ravic erwiderte nichts. Er wollte alles vermeiden, was Haake mißtrauisch machen konnte.

»Ich muß heute nacht zurück nach Berlin.« Haake sah auf die Uhr. »In anderthalb Stunden.«

Ravic saß völlig ruhig. Ich muß mitgehen, dachte er. Sicher wohnt er in einem Hotel. Nicht privat. Ich muß mitgehen in sein Zimmer und ihn da erwischen.

»Ich warte hier auf zwei Bekannte«, sagte Haake. »Müssen gleich kommen. Sie fahren mit mir. Meine Sachen sind schon am Bahnhof. Wir gehen gleich von hier aus zum Zug.«

Aus, dachte Ravic. Warum hab’ ich keinen Revolver bei mir? Warum habe ich Idiot in den letzten Monaten geglaubt, damals das hier sei doch eine Täuschung gewesen? Ich könnte ihn auf der Straße erschießen und versuchen, durch den Untergrundeingang zu entkommen.

»Schade«, sagte Haake. »Aber vielleicht können wir es das nächstemal machen. Ich bin in zwei Wochen wieder hier.«

Ravic atmete wieder.

»Gut«, sagte er. »Wo wohnen Sie? Ich könnte Sie dann ja mal anrufen.«

»Im ›Prince de Galles‹. Gleich drüben an der Straße.« Haake zog sein Notizbuch hervor und schrieb die Adresse ein. Ravic sah auf den zierlichen Band in rotem, biegsamem Juchtenleder. Der Bleistift war schmal und aus Gold. Was mag darin stehen? dachte er. Informationen wahrscheinlich, die zu Tortur und Tod führen. Haake steckte das Notizbuch ein. »Schicke Frau, mit der Sie vorhin sprachen«, sagte er. Ravic besann sich eine Sekunde. »Ach so — ja, sehr.« »Film?« »So was Ähnliches.« »Gute Bekannte?« »Gerade das.« Haake sah versonnen vor sich hin. »Das ist das Schwierige hier — jemand Netten kennenzulernen. Man hat zu wenig Zeit und kennt nicht die richtigen Gelegenheiten...«

»Das läßt sich machen«, sagte Ravic.

»Wirklich? Sie sind nicht interessiert?«

»Woran?«

Haake lachte verlegen. »Zum Beispiel an der Dame, mit der Sie sprachen.« »Nicht im geringsten.« »Donnerwetter, das wäre nicht schlecht! Ist sie Französin?« »Italienerin, glaube ich. Und noch ein paar andere Rassen dazwischen gemischt.«

Haake grinste. »Nicht schlecht. Zu Hause gibt’s das natürlich nicht. Aber hier ist man ja inkognito, gewissermaßen.«

»Sind Sie?« fragte Ravic.

Haake stutzte eine Sekunde. Dann lächelte er. »Verstehe! Für die Eingeweihten natürlich nicht — aber sonst, streng. Übrigens, da fällt mir ein — haben Sie irgendwelche Beziehungen zu Refugiés?«

»Wenig«, sagte Ravic achtsam.

»Schade! Wir würden gern so gewisse... Sie verstehen, Informationen ..., wir zahlen sogar dafür...« Haake hob die Hand. »Kommt bei Ihnen selbstverständlich nicht in Frage! Trotzdem, die kleinste Nachricht...«

Ravic bemerkte, daß Haake ihn weiter ansah: »Möglich«, sagte er. »Man weiß ja nie... kann immer mal was vorkommen.«

Haake rückte seinen Stuhl näher. »Eine meiner Aufgaben, wissen Sie. Verbindungen von drinnen nach draußen. Schwer, manchmal ’ranzukommen. Wir haben gute Leute hier.« Er hob verständnisvoll die Augenbrauen. »Unter uns ist das natürlich anders. Ehrensache. Vaterland schließlich.«

»Selbstverständlich.«

Haake blickte auf. »Da kommen meine Bekannten.« Er legte ein paar Scheine auf den Porzellanteller, nachdem er die Summe addiert hatte. »Bequem, daß immer gleich die Preise auf den Tellern stehen. Könnte man bei uns auch einführen.« Er stand auf und streckte die Hand aus. »Auf Wiedersehen, Herr von Horn. Hat mich sehr gefreut. Ich rufe Sie in vierzehn Tagen an.« Er lächelte. »Natürlich Diskretion.«

»Ohne Frage. Vergessen Sie es nicht.«

»Ich vergesse nichts. Kein Gesicht und keine Verabredung. Kann ich mir nicht leisten. Mein Beruf.«

Ravic stand vor ihm. Er hatte das Gefühl, als müsse er seinen Arm durch eine Betonwand durchstoßen. Dann fühlte er die Hand Haakes in seiner. Sie war klein und überraschend weich.

Er stand noch einen Augenblick unentschlossen und sah Haake nach. Dann setzte er sich wieder. Er spürte, daß er plötzlich zitterte. Nach einer Weile zahlte er und ging. Er folgte der Richtung, in der Haake gegangen war. Dann erinnerte er sich, daß er ihn mit zwei andern in ein Taxi hatte steigen sehen. Es hätte keinen Zweck gehabt, ihm zu folgen. Haake hatte sein Hotel schon aufgegeben. Wenn er ihn zufällig irgendwo wiedergesehen hätte, wäre er höchstens mißtrauisch geworden. Ravic kehrte um und ging zum »International«.

»Du bist vernünftig gewesen«, sagte Morosow. Sie saßen vor einem Café am Rond Point.

Ravic sah auf seine rechte Hand. Er hatte sie ein paarmal in Alkohol gewaschen. Er hatte sich albern dabei gefunden, aber er hatte es nicht lassen können. Die Haut war jetzt trocken wie Pergament.

»Du wärest verrückt gewesen, wenn du irgend etwas getan hättest«, sagte Morosow. »Gut, daß du nichts bei dir hattest.«

»Ja«, erwiderte Ravic ohne Überzeugung.

Morosow sah ihn an. »Du bist doch kein solcher Idiot, daß du wegen Mords oder Mordversuchs vor Gericht kommen willst.«

Ravic antwortete nicht.

»Ravic...«

Morosow setzte die Flasche hart auf den Tisch. »Sei kein Phantast.«

»Das bin ich nicht. Aber verstehst du mich, daß es mir in den Knochen sitzt, die Gelegenheit versäumt zu haben? Zwei Stunden früher hätte ich ihn irgendwohin schleppen können — oder sonst etwas tun...«

Morosow schenkte zwei Gläser ein. »Trink das! Wodka. Du wirst ihn wiederkriegen.« »Oder nicht.« »Du wirst ihn kriegen. Er wird kommen. Die Sorte kommt, du hast einen guten Haken ausgehängt. Prost!« Ravic trank sein Glas aus. »Ich kann immer noch zum Gare du Nord gehen. Sehen, ob er abfährt.«

»Natürlich. Du kannst auch versuchen, ihn da zu erschießen. — Zwanzig Jahre Zuchthaus mindestens. Hast du noch mehr solcher Ideen?«

»Ja. Ich könnte beobachten, ob er abfährt.«

»Und gesehen werden von ihm und alles verderben.«

»Ich hätte ihn fragen sollen, in welchem Hotel er absteigt.«

»Und ihn mißtrauisch machen.« Morosow goß die Gläser wieder voll. »Hör zu, Ravic. Ich weiß, du sitzt jetzt da und glaubst, alles falsch gemacht zu haben.Werde das los! Hau was kaputt, wenn du das willst. Irgend etwas Großes und nicht zu Teures. Den Palmengarten im »International« meinetwegen.«

»Zwecklos.«

»Dann rede. Rede darüber, bis du schlapp wirst. Rede es aus dir heraus. Rede dich ruhig. Du bist kein Russe, sonst würdest du das verstehn.«

Ravic richtete sich auf. »Boris«, sagte er. »Ich weiß, Ratten muß man vernichten und sich nicht auf eine Beißerei mit ihnen einlassen. Aber ich kann nicht darüber reden. Ich werde dafür nachdenken. Nachdenken, wie ich es machen kann. Ich werde es präparieren wie eine Operation. Soweit man etwas präparieren kann. Ich werde mich gewöhnen. Ich habe vierzehn Tage Zeit. Das ist gut. Das ist verdammt gut. Ich kann mich darin gewöhnen, ruhig zu sein. Du hast recht. Man kann etwas zerreden, um ruhig und überlegt zu werden. Man kann aber auch etwas zerdenken und dasselbe erreichen. Den Haß. Kalt zerdenken in Zweck. Ich werde so oft töten in meinen Gedanken, daß es schon wie eine Gewohnheit sein wird, wenn er wiederkommt. Das tausendste Mal ist man überlegter und ruhiger als das erstemal. Und jetzt laß uns reden. Aber von was anderem. Von den weißen Rosen drüben meinetwegen! Sieh dir sie an! Sie sind wie Schnee in dieser schwülen Nacht. Wie Gischt auf der unruhigen Brandung der Nacht. Bist du nun zufrieden?«

»Nein«, sagte Morosow.

»Gut. Sieh dir diesen Sommer an. Den Sommer 1939. Er riecht nach Schwefel. Die Rosen sehen bereits aus wie Schnee auf einem Massengrab im nächsten Winter. Eine fröhliche Gesellschaft sind wir dafür, wie? Es lebe das Jahrhundert der Nichteinmischung! Der moralischen Gefühlsversteinerung! Es wird viel getötet in dieser Nacht, Boris. In jeder Nacht. Viel getötet. Städte brennen, Juden heulen irgendwo, Tschechen verrecken in Wäldern, Chinesen brennen unter japanischem Gasolin, durch Konzentrationslager kriecht der Peitschentod — sollten wir da sentimentale Weiber sein, wenn ein Mörder eliminiert wird? Wir werden ihn kriegen und ihn auslöschen, fertig — wie wir es oft genug haben tun müssen mit unschuldigen Leuten, die sich nur durch eine Uniform von uns unterschieden...«

»Gut«, sagte Morosow. »Oder wenigstens besser. Hast du je gelernt, was man mit einem Messer machen kann? Ein Messer knallt nicht.«

»Laß mich damit heute in Ruhe. Ich muß schlafen, irgendwann. Weiß der Teufel, ob ich’s kann, trotzdem ich so ruhig tue. Verstehst du das?«

»Ja.«

»In dieser Nacht werde ich töten und töten. In vierzehn Tagen muß ich ein Automat sein. Es kommt darauf an, die Zeit herumzukriegen. Die Zeit, bis ich zum erstenmal schlafen kann. Saufen nützt nichts. Eine Spritze auch nicht. Ich muß vor Erschöpfung einschlafen. Dann ist es am nächsten Tag richtig. Verstehst du?«

Morosow saß eine Zeitlang still da. »Hol dir eine Frau«, sagte er dann.

»Was soll das nützen?«

»Irgend etwas. Mit einer Frau schlafen ist immer gut. Ruf Joan an. Sie wird kommen.«

Joan. Richtig. Die war vorhin dagewesen. Hatte irgend etwas geredet. Er hatte es schon vergessen. »Ich bin kein Russe«, sagte Ravic. »Sonst noch Vorschläge? Einfache. Nur die einfachsten.«

»Guter Gott! Sei nicht kompliziert! Das einfachste, von einer Frau loszukommen, ist gelegentlich wieder mit ihr zu schlafen. Keine Phantasie ansetzen zu lassen. Wer will einen Naturakt dramatisieren?«

»Ja«, sagte Ravic. »Wer will?«

»Dann laß mich telefonieren gehen. Ich telefoniere dir etwas heran. Ich bin nicht umsonst Portier.«

»Bleib hier. Ist schon alles richtig. Laß uns trinken und die Rosen ansehen. Tote Gesichter können so weiß aussehen im Mond, nach Maschinengewehrfeuer. Sah das einmal in Spanien. Der Himmel war eine Erfindung der Faschisten, sagte der Metallarbeiter Pablo Nonas damals. Hatte nur noch ein Bein. War etwas bitter gegen mich, weil ich ihm das andere nicht in Spiritus konservieren konnte. Kam sich vor, als wäre er schon ein Viertel begraben. Wußte nicht, daß die Hunde es gestohlen und gefressen hatten...«