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Veber kam in den Verbandsraum. Er winkte Ravic. Sie gingen hinaus. »Durant ist am Telefon. Er möchte, daß Sie sofort ’rüberkommen. Redet was von Spezialfall und besonderen Umständen.«
Ravic sah ihn an. »Das heißt, er hat eine Operation verpfuscht und will sie jetzt mir anhängen, wie?«
»Das glaube ich nicht. Er ist aufgeregt. Weiß scheinbar nicht, was er machen soll.«
Ravic schüttelte den Kopf. Veber schwieg. »Woher weiß er überhaupt, daß ich zurück bin?« fragte Ravic.
Veber zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Durch irgendeine Schwester wahrscheinlich.«
»Warum ruft er Binot nicht an? Binot ist sehr tüchtig.«
»Das habe ich ihm schon gesagt. Er hat mir erklärt, dies sei eine besonders komplizierte Sache. Gerade Ihr Spezialgebiet.«
»Unsinn. Es gibt für jedes Spezialgebiet sehr tüchtige Ärzte in Paris. Warum ruft er Martel nicht an? Das ist einer der besten Chirurgen der Welt.«
»Können Sie sich das nicht denken?«
»Natürlich. Er will sich vor seinen Kollegen nicht blamieren. Bei einem schwarzen Refugié-Arzt ist das anders. Der muß die Schnauze halten.«
Veber sah ihn an.
»Es ist dringend. Wollen Sie gehen?«
Ravic riß die Bänder seines Kittels los. »Natürlich«, sagte er wütend. »Was soll ich anders machen? Aber nur, wenn Sie mitkommen.«
»Gut. Wir können meinen Wagen nehmen.«
Sie gingen die Treppe hinunter. Der Wagen Vebers glänzte vor der Klinik in der Sonne. Sie stiegen ein. »Ich arbeite nur, wenn Sie dabeibleiben«, sagte Ravic. »Weiß Gott, ob der Bruder einen sonst nicht ’reinlegt.«
»Ich glaube nicht, daß er daran im Augenblick denkt.«
Der Wagen fuhr an. »Ich habe andere Sachen gesehen«, sagte Ravic. »Ich habe in Berlin einen jungen Assistenten gekannt, der alles hatte, um ein guter Chirurg zu werden. Sein Professor operierte halb besoffen, verschnitt sich, sagte nichts, ließ den Assistenten weiterarbeiten; der merkte nichts — eine halbe Stunde später machte der Professor Radau, hängte dem Jungen den falschen Schnitt an. Der Patient starb in der Operation. Der Junge einen Tag später. Selbstmord. Der Professor operierte und soff weiter.«
Sie stoppten an der Avenue Marceau; eine Kolonne Lastwagen rasselte die Rue Galilee entlang. Die Sonne schien heiß durch die Fenster. Veber drückte auf einen Knopf am Armaturenbrett. Das Verdeck des Wagens glitt langsam zurück. Er blickte Ravic stolz an. »Habe mir das kürzlich einbauen lassen. Elektrisch. Großartig! Was die Leute alles erfinden, wie?«
Der Wind kam durch das offene Dach. Ravic nickte. »Ja, großartig. Das Neueste sind magnetische Minen und Torpedos. Las das gestern irgendwo. Wenn sie ihr Ziel missen, machen sie in einem Bogen kehrt, bis sie es doch treffen. Fabelhaft konstruktive Rasse sind wir.«
Veber wandte ihm sein rotes Gesicht zu. Er strahlte von Gutmütigkeit. »Sie mit Ihrem Krieg, Ravic! Wir sind weiter davon entfernt als vom Mond. Alles Gerede darüber ist nur ein politisches Druckmittel, weiter nichts, glauben Sie mir!«
Die Haut war blaues Perlmutter. Das Gesicht war Asche. Darum flammte, im weißen Licht der Operationslampen, eine Fülle goldenen Haares. Es flammte um das aschenfarbene Gesicht mit einer Intensität, die fast unanständig wirkte. Es war das einzige, das lebte, funkelnd lebte, schrie, als wäre das Leben bereits aus dem Körper entwichen und hinge nur noch in den Haaren.
Die junge Frau, die da lag, war sehr schön. Schmal, lang, mit einem Gesicht, dem selbst die Schatten tiefster Ohnmacht nichts anhaben konnten — eine Frau, gemacht für Luxus und Liebe.
Die Frau blutete nur wenig. Zu wenig. »Sie haben die Gebärmutter geöffnet?« sagte Ravic zu Durant.
»Ja.« — »Und?«
Durant antwortete nicht. Ravic sah auf. Durant starrte ihn an.
»Gut«, sagte Ravic. »Wir brauchen die Schwestern im Augenblick nicht. Wir sind drei Ärzte, das genügt.«
Durant machte eine Bewegung und nickte. Die Schwestern und der Assistent zogen sich zurück.
»Und?« fragte Ravic noch einmal, als sie fort waren.
»Das sehen Sie doch selbst.«
»Nein.«
Ravic sah es, aber wollte, daß Durant es vor Veber aussprach. Es war sicherer.
»Eine Schwangerschaft im dritten Monat. Blutungen. Notwendigkeit zu curettieren. Curettage. Scheinbare Verletzung der Innenwand.«
»Und?« fragte Ravic weiter.
Er sah in das Gesicht Durants. Es war voll ohnmächtiger Wut. Der wird mich für immer hassen, dachte er. Schon, weil Veber es mit anhört.
»Perforation«, sagte Durant.
»Mit dem Löffel?«
»Natürlich«, sagte Durant nach einer Weile. »Womit sonst?«
Die Blutung hatte völlig aufgehört. Ravic untersuchte schweigend weiter. Dann richtete er sich auf. »Sie haben perforiert. Es nicht gemerkt. Eine Darmschlinge dabei durch die Öffnung hereingezogen. Nicht erkannt, was geschehen war. Sie wahrscheinlich für eine Fötus-Membrane gehalten. Sie angekratzt. Verletzt. Ist das richtig?«
Die Stirn Durants war plötzlich voller Schweiß. Der Bart unter der Gesichtsmaske arbeitete, als kaue er einen zu großen Bissen.
»Könnte sein.«
»Wie lange arbeiten Sie schon?«
»Insgesamt, bis Sie kamen, dreiviertel Stunden.«
»Blutung nach innen. Verletzter Dünndarm. Äußerste Sepsisgefahr. Darm muß genäht, Gebärmutter entfernt werden. Sofort.« — »Was?« fragte Durant.
»Sie wissen das selbst«, sagte Ravic.
Durants Augen flatterten. »Ja, ich weiß es. Dafür habe ich Sie nicht kommen lassen.«
»Es ist alles, was ich Ihnen sagen kann. Rufen Sie Ihre Leute wieder herein und arbeiten Sie weiter. Ich rate Ihnen — schnell.« Durant kaute. »Ich bin zu aufgeregt. Wollen Sie die Operation für mich machen?« »Nein. Ich bin, wie Sie wissen, illegal in Frankreich und habe kein Recht, zu operieren.«
»Sie...«, begann Durant und verstummte.
Heilgehilfen, halb ausgelernte Studenten, Masseure, Assistenten, das gibt sich für Ärzte aus Deutschland aus — Ravic hatte nicht vergessen, was Durant zu Leval gesagt hatte. »Monsieur Leval erklärte mir einiges darüber«, sagte er. »Vor meiner Ausweisung.«
Er sah, daß Veber den Kopf hob. Durant erwiderte nichts. »Doktor Veber kann die Operation für Sie machen«, sagte Ravic.
»Sie haben doch oft genug für mich operiert. Wenn der Preis...«
»Der Preis spielt keine Rolle. Ich operiere nicht mehr, seit ich zurück bin. Besonders nicht an Patienten, die keine Erlaubnis für diese Art von Operation gegeben haben.«
Durant starrte ihn an. »Man kann die Patientin doch jetzt nicht aus der Narkose holen, um sie zu fragen.« »Doch, man kann. Aber Sie riskieren die Sepsis.« Durants Gesicht war naß. Veber sah Ravic an. Ravic nickte.
»Sind Ihre Schwestern zuverlässig?« fragte Veber Durant.
»Ja...« »Den Assistenten brauchen wir nicht«, sagte Veber zu Ravic. »Wir sind drei Ärzte und zwei Schwestern.«
»Ravic...«, Durant verstummte.
»Sie hätten Binot rufen sollen«, erklärte Ravic. »Oder Mallon, oder Martel. Erstklassige Chirurgen.« Durant antwortete nicht. »Wollen Sie hier vor Veber erklären, daß Sie eine Perforation des Uterus gemacht und eine Darmschlinge, die Sie für eine Fötus-Membrane hielten, verletzt haben?«
Es dauerte eine Zeitlang.
»Ja«, sagte Durant dann heiser.
»Wollen Sie weiter erklären, daß Sie Veber bitten, mit mir als zufällig anwesendem Assistenten eine Hysterektomie, eine Darmresektion und eine Anastomose zu machen?«
»Ja.«
»Wollen Sie die volle Verantwortung für die Operation und ihren Ausgang und die Tatsache übernehmen, daß der Patient nicht informiert ist und keine Zustimmung gegeben hat?«
»Ja, natürlich doch«, krächzte Durant.
»Gut. Rufen Sie die Schwestern. Den Assistenten brauchen wir nicht. Erklären Sie ihm, daß Sie Veber und mir erlaubt haben, bei einem komplizierten Spezialfall zu assistieren. Altes Versprechen oder so was. Die Anästhesie können Sie selbst weiter übernehmen. Müssen die Schwestern sich neu sterilisieren?«
»Nicht nötig, sie sind zuverlässig. Haben nichts angerührt.« »Um so besser.«
Der Bauch war offen. Ravic zog die Darmschlinge mit äußerster Vorsicht aus dem Loch in der Gebärmutter und wickelte sie Stück um Stück in sterile Tücher, um die Sepsis zu verhüten, bis die verletzte Stelle heraus war. Dann deckte er die Gebärmutter völlig mit Tüchern ab. »Extrauterine Schwangerschaft«, murmelte er zu Veber hinüber. »Sehen Sie hier — halb in der Gebärmutter, halb in der Tube. Man kann ihm nicht einmal allzu große Vorwürfe machen. Ziemlich seltener Fall. Trotzdem...«
»Was?« fragte Durant hinter dem Schirm am Kopfende des Tisches her. »Was sagten Sie?«
»Nichts.«
Ravic klemmte den Darm ab und machte die Resektion. Dann begann er rasch die offenen Enden zu schließen und machte eine seitliche Anastomose.
Er spürte die Intensität der Operation. Er vergaß Durant. Er unterband die Tube und die zuführenden Blutgefäße und schnitt das Ende der Tube ab. Dann begann er, den Uterus herauszuschneiden. Warum blutet das nicht viel mehr? dachte er. Warum blutet so etwas nicht mehr als das Herz? Wenn man das Wunder des Lebens und die Fähigkeit, es weiterzugeben, herausschneidet?
Der schöne Mensch, der hier lag, war tot. Er konnte weiterleben, aber er war tot. Ein toter Zweig am Baum der Generationen. Blühend, aber ohne das Geheimnis der Frucht. Aus Kohlenwäldern hatten riesige Affenmenschen sich heraufgekämpft durch Tausende von Generationen, Ägypter hatten Tempel gebaut, Hellas hatte geblüht, mystisch war das Blut weitergelaufen, hinauf, hinauf, um endlich diesen Menschen zu schaffen, der nun unfruchtbar wie eine taube Ähre und das Blut nicht mehr weiterreichen würde in einen Sohn oder eine Tochter. Die Kette war unterbrochen worden durch die grobe Hand Durants. Aber hatten an Durant nicht auch Tausende von Generationen gearbeitet, hatten für ihn nicht auch Hellas und die Renaissance geblüht, um seinen faulen Spitzbart hervorzubringen?
»Zum Kotzen«, sagte Ravic.
»Was?« fragte Veber.
»So allerlei.«
Ravic richtete sich auf. »Fertig.« Er sah in das fahle, liebliche Gesicht mit den leuchtenden Haaren hinter dem Anästhesiebügel. Er sah in den Eimer, in dem blutig verschmiert das lag, was dieses Gesicht so schön gemacht hatte. Dann sah er Durant an. »Fertig«, sagte er noch einmal.
Durant beendete die Anästhesie.
Er sah Ravic nicht an.
Er wartete, bis die Schwestern den Wagen hinausschoben. Dann folgte er ihm, ohne etwas zu sagen.
»Morgen wird er fünftausend Frank mehr für die Operation verlangen«, sagte Ravic zu Veber. »Und ihr erklären, daß er ihr das Leben gerettet hat.«
»Es sieht im Augenblick nicht so aus.«
»Ein Tag ist eine lange Zeit. Und Reue ist kurz. Besonders, wenn sie sich in Geschäft umwandeln kann.«
Ravic wusch sich. Durch die Scheiben neben dem weißen Waschstand sah er ein Fensterbrett gegenüber, auf dem rote Geranien blühten. Eine graue Katze saß unter den Blütendolden.
Er telefonierte nachts um ein Uhr zu Durants Klinik. Er telefonierte von der Scheherazade aus. Die Nachtschwester erklärte, die Frau schliefe. Sie sei vor zwei Stunden unruhig geworden. Veber sei dagewesen und habe ihr ein leichtes Sedativ gegeben. Es schien alles in Ordnung.
Ravic öffnete die Telefonzelle. Ein starker Geruch von Parfüm schlug ihm entgegen. Eine Frau mit gebleichten, gelben Haaren rauschte stolz und herausfordernd in die Damentoilette. Das Haar der Frau in der Klinik war echtes Blond gewesen. Rötliches, leuchtendes Blond! Er zündete sich eine Zigarette an und ging in die Scheherazade zurück. Der ewige russische Chor sang dort die ewigen »Schwarzen Augen«; er sang sie seit zwanzig Jahren über die Welt. Tragik, zwanzig Jahre lang, hatte die Gefahr der Lächerlichkeit, dachte Ravic. Tragik mußte kurz sein.
»Entschuldigen Sie«, sagte er zu Kate Hegström. »Aber ich hatte zu telefonieren.«
»Ist alles in Ordnung?«
»Bis jetzt ja.«
Wozu fragte sie das? dachte er irritiert. Bei ihr selbst ist doch wahrhaftig nicht alles in Ordnung. »Haben Sie, was Sie wollen, hier?« Er zeigte auf die Karaffe mit Wodka.
»Nein.«
»Nein?«
Kate Hegström schüttelte den Kopf.
»Das ist der Sommer. Im Sommer soll man nicht in Nachtklubs hocken. Im Sommer soll man auf der Terrasse sitzen. In der Nähe eines noch so schwindsüchtigen Baumes, mit einem Eisengitter darum meinetwegen.«
Er sah auf und blickte gerade in die Augen Joans. Sie mußte in der Zeit gekommen sein, während er telefoniert hatte. Vorher war sie nicht dagewesen. Sie saß in der gegenüberliegenden Ecke.
»Wollen Sie anderswohin gehen?« fragte er Kate Hegström.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Sie? Zu irgendeinem schwindsüchtigen Baum?«
»Da sind die Wodkas meistens auch schwindsüchtig. Dieser hier ist gut.«
Der Chor hörte auf zu singen, und die Musik wechselte. Das Orchester begann einen Blues. Joan erhob sich und ging zur Tanzfläche hinüber. Ravic konnte sie nicht genau sehen. Auch nicht, mit wem sie war. Nur wenn der Scheinwerfer die Fläche blaufahl streifte, tauchte sie jedesmal ins Licht und verschwand dann wieder im Halbdunkel.
»Haben Sie heute operiert?« fragte Kate Hegström.
»Ja...«
»Wie ist das, wenn man dann abends in einem Nachtklub sitzt? Ist das, wie wenn man aus einer Schlacht in eine Stadt zurückkommt? Oder aus einer Krankheit ins Leben?«
»Nicht immer. Manchmal ist es auch nur einfach leer.«
Die Augen Joans waren durchsichtig in dem fahlen Streifen Licht. Sie blickte zu ihm hinüber. Es ist nicht das Herz, das sich rührt, dachte Ravic. Es ist der Magen. Ein Ruck im Solarplexus. Darüber sind Tausende Gedichte geschrieben worden. Und der Ruck kommt nicht von dir dort, leicht schwitzendes, hübsches, tanzendes Stück Fleisch — er kommt aus den Dunkelkammern meines Gehirns —, er ist nur ein zufälliger, loser Kontakt, daß er stärker kommt, wenn du dort durch den Streifen Licht gleitest.
»Ist das nicht die Frau, die hier einmal sang?« fragte Kate Hegström.
»Ja.«
»Singt sie nicht mehr hier?«
»Ich glaube nicht.«
»Sie ist schön.«
»So?«
»Ja. Sie ist sogar mehr als schön. Das ist ein Gesicht, in dem offen das Leben steht.« »Möglich.« Kate Hegström betrachtete Ravic aus schmalen Augenwinkeln. Sie lächelte. Es war ein Lächeln, das in Tränen enden konnte. »Geben Sie mir noch einen Wodka und lassen Sie uns gehen«, sagte sie.
Ravic fühlte Joans Augen, als er aufstand. Er nahm Kates Arm. Es war nicht notwendig; sie konnte gut allein gehen; aber er fand, es könnte Joan nicht schaden, es zu sehen.
»Wollen Sie mir einen Gefallen tun?« fragte Kate Hegström, als sie in ihrem Zimmer im Lancaster waren. »Sicher. Wenn ich es kann.« »Wollen Sie mit mir zum Montfort-Ball gehen?« »Was ist das, Kate? Habe nie davon gehört.« Sie setzte sich in einen Sessel. Der Sessel war zu groß für sie. Sie sah zerbrechlich darin aus — wie eine chinesische Tanzfigur. Die Haut über ihren Augen spannte sich mehr als früher. »Der Montfort-Ball ist das gesellschaftliche Ereignis des Sommers in Paris«, sagte sie. »Er ist nächsten Freitag im Haus und im Garten von Louis Montfort. Das sagt Ihnen nichts, wie?«
»Nichts!«
»Wollen Sie mit mir hingehen?«
»Kann ich das denn?«
»Ich besorge Ihnen eine Einladung.«
Ravic sah sie an. »Warum, Kate?«
»Ich möchte gehen. Ich möchte nicht allein gehen.«
»Müßten Sie das sonst?«
»Ich würde es. Ich will nicht mit einem dieser Leute von früher gehen. Ich kann das nicht mehr aushalten. Verstehen Sie das?«
»Ja.«
»Es ist das schönste und letzte Gartenfest in Paris. Ich war die letzten vier Jahre jedesmal da. Wollen Sie mir den Gefallen tun?«
Ravic wußte, weshalb sie mit ihm gehen wollte. Sie würde sich sicherer fühlen.
Er konnte es nicht ablehnen.
»Gut, Kate«, sagte er. »Sie brauchen mir keine besondere Einladung schicken zu lassen. Wenn man weiß, daß Sie mit jemand kommen, so wird das genügen, nehme ich an.«
Sie nickte. »Natürlich. Danke, Ravic. Ich rufe Sophie Montfort sofort an.«
Er stand auf. »Ich hole Sie dann Freitag ab. Was werden Sie anziehen?«
Sie sah von unten her zu ihm auf. Das Licht warf einen scharfen Reflex auf ihr eng anliegendes Haar. Ein Eidechsenkopf, dachte Ravic. Die schmale, trockene und harte Eleganz fleischloser Vollkommenheit, die die Gesundheit nie erreichen kann. »Das ist das, was ich Ihnen bis jetzt nicht gesagt habe«, sagte sie nach kurzem Zögern. »Es ist ein Kostümfest, Ravic. Ein Gartenfest am Hofe Louis XIV.«
»Großer Gott!« Ravic setzte sich wieder.
Kate Hegström lachte. Es war plötzlich ein ganz freies, kindliches Lachen. »Dort steht guter, alter Kognak«, sagte sie. »Brauchen Sie einen?«
Ravic schüttelte den Kopf. »Was die Leute sich alles ausdenken können!«
»Es ist jedes Jahr so etwas Ähnliches.«
»Das heißt also, ich müßte...«
»Ich werde für alles sorgen«, unterbrach sie ihn rasch. »Sie brauchen sich um nichts zu kümmern. Ich besorge das Kostüm. Irgend etwas Einfaches. Sie brauchen es nicht einmal zu probieren. Geben Sie mir nur Ihre Maße.«
»Ich glaube, ich brauche doch einen Kognak«, sagte Ravic. Kate Hegström schob ihm die Flasche zu. »Sagen Sie jetzt nicht nein.«
Er trank den Kognak. Zwölf Tage, dachte er. Zwölf Tage, bis Haake wieder in Paris sein wird. Zwölf Tage, die herumgebracht werden müssen. Zwölf Tage — sein Leben hatte nicht mehr als sie, und er konnte nicht darüber hinaus denken. Zwölf Tage — dahinter gähnte ein Abgrund. Es war gleich, wie er die Zeit hinter sich brachte. Ein Kostümfest — was war noch grotesk in diesen schwimmenden zwei Wochen? »Gut, Kate.«
Er ging noch einmal zu Durants Klinik. Die Frau mit den rotgoldenen Haaren schlief. Dicke Schweißtropfen standen auf ihrer Stirn. Das Gesicht hatte Farbe, und der Mund war leicht geöffnet. »Fieber?« fragte er die Schwester.
»Siebenunddreißig acht.«
»Gut.« Er beugte sich dichter über das feuchte Gesicht. Er fühlte den Atem. Es war kein Äther mehr darin. Es war ein Atem, frisch wie Thymian.— Thymian, erinnerte er sich, eine Bergwiese im Schwarzwald, kriechend, atemlos durch die heiße Sonne, irgendwo unten die Rufe der Verfolger — und der betäubende Duft von Thymian. Sonderbar, wie man alles vergaß, nur die Gerüche nicht. Thymian — noch in zwanzig Jahren würde sein Geruch das Bild des Tages der Flucht in den Schwarzwald emporreißen aus den verstaubten Falten der Erinnerung, als wäre es gestern gewesen. Nicht in zwanzig Jahren, dachte er — in zwölf Tagen.
Er ging, durch die warme Stadt zum Hotel. Es war gegen drei Uhr. Er stieg die Treppenstufen empor. Vor seiner Tür lag ein weißes Kuvert. Er hob es auf. Es trug seinen Namen, aber es hatte keine Marke und keinen Stempel. Joan, dachte er und öffnete es. Ein Scheck fiel heraus. Es war Durant. Ravic sah gleichgültig auf die Ziffer. Dann sah er noch einmal hin. Er glaubte es nicht. Es waren nicht die üblichen zweihundert Frank. Es waren zweitausend. Muß eine verdammte Angst gehabt haben, dachte er. Zweitausend Frank freiwillig von Durant — das war das achte Weltwunder.
Er steckte den Scheck in seine Brieftasche und legte einen Pack Bücher auf den Tisch neben seinem Bett. Er hatte sie vor zwei Tagen gekauft, um zu lesen, wenn er nicht schlafen konnte. Es war sonderbar mit Büchern — sie wurden wichtiger und wichtiger für ihn. Sie konnten nicht alles ersetzen, aber sie reichten irgendwohin, wohin nichts anderes mehr reichte. Er erinnerte sich, daß er in den ersten Jahren keine angerührt hatte; sie waren blaß gewesen gegen das, was geschehen war. Jetzt aber waren sie bereits ein Wall — wenn sie auch nicht schützten, so konnte man sich doch an sie lehnen. Sie halfen nicht viel; aber sie bewahrten in einer Zeit, die in die Finsternis zurückjagte, vor der letzten Verzweiflung. Das war genug. Irgendwann waren Gedanken gedacht worden, die heute verachtet und verlacht wurden; aber sie waren gedacht worden und sie würden bleiben, und das war genug.
Bevor er zu lesen anfangen konnte, klingelte das Telefon. Er nahm den Hörer nicht ab. Es klingelte lange. Einige Minuten später, als es still war, hob er den Hörer und fragte den Concierge, wer angerufen habe. »Sie hat ihren Namen nicht gesagt«, erklärte der Mann.
Ravic hörte, daß er aß.
»War es eine Frau?«
»Ja.«
»Mit einem Akzent?«
»Das weiß ich nicht.« Der Mann aß weiter. Ravic rief Vebers Klinik an. Niemand hatte von dort telefoniert. Auch von Durants Hospital nicht. Er rief noch das Lancaster an. Die Telefonistin sagte ihm, niemand habe von da seine Nummer angerufen. Es mußte also Joan gewesen sein. Wahrscheinlich hatte sie von der Scheherazade aus telefoniert.
Nach einer Stunde klingelte das Telefon wieder. Ravic legte das Buch beiseite. Er stand auf und ging zum Fenster. Er stützte die Ellbogen auf das Fensterbrett und wartete. Der leichte Wind brachte den Geruch von Lilien herauf. Der Emigrant Wiesenhoff hatte die abgeblühten Nelken vor seinem Fenster damit ersetzt. In warmen Nächten roch das Haus jetzt wie eine Grabkapelle oder ein Klostergarten. Ravic wußte nicht, ob Wiesenhoff es aus Pietät für den alten Goldberg getan hatte, oder einfach, weil Lilien sich gut in Holzkästen ziehen lassen. Das Telefon schwieg. Diese Nacht werde ich vielleicht schlafen, dachte er und ging zum Bett zurück.
Joan kam, während er schlief. Sie knipste sofort das Dekkenlicht an und blieb in der Tür stehen. Er öffnete die Augen. »Bist du allein?« fragte sie.
»Nein. Mach das Licht aus und geh.«
Sie zögerte einen Moment. Dann ging sie und öffnete die Tür des Badezimmers. »Schwindel«, sagte sie und lächelte.
»Scher dich zum Teufel. Ich bin müde.«
»Müde? Wovon?«
»Müde. Adieu.«
Sie kam näher. »Du bist jetzt erst nach Hause gekommen. Ich habe alle zehn Minuten angerufen.«
Sie spähte zu ihm hinüber. Er sagte nicht, daß sie lüge. Sie war umgezogen. Sie hat mit dem Kerl geschlafen, ihn nach Hause geschickt und ist jetzt gekommen, um mich zu überraschen und um Kate Hegström, die sie hier glaubte, zu zeigen, daß ich ein verfluchter Hurenbock bin, bei dem die Frauen nachts aus und ein gehen und dem man ausweichen muß, dachte er. Wider seinen Willen lächelte er. Perfekte Aktion zwang ihn leider stets zur Bewunderung — selbst, wenn sie gegen ihn gerichtet war. »Was lachst du?« fragte Joan heftig. »Ich lache. Das ist alles. Mach das Licht aus. Du siehst schauderhaft darin aus. Und geh.«
Sie beachtete es nicht. »Wer war die Hure, mit der du warst?«
Ravic richtete sich halb auf. »Scher dich ’raus, oder ich werfe dir etwas an den Kopf!«
»Ach so...«, sie betrachtete ihn. »So ist das! Soweit ist das schon.«
Ravic griff nach einer Zigarette. »Sei nicht lächerlich. Du lebst mit einem andern Mann und machst hier eifersüchtiges Theater. Geh zurück zu deinem Schauspieler und laß mich in Ruhe.«
»Das ist ganz was anderes«, sagte sie.
»Natürlich!«
»Natürlich ist es etwas anderes!« Sie brach plötzlich aus. »Du weißt ganz genau, daß es etwas anderes ist. Es ist etwas, wofür ich nichts kann. Ich bin nicht glücklich darüber. Es ist gekommen, ich weiß nicht wie...«
»Es kommt immer, man weiß nicht wie...«
Sie starrte ihn an. »Du... du warst immer so sicher! Du warst so sicher, daß es einen verrückt machen konnte! Da war nichts, was dich aus deiner Sicherheit bringen konnte! Ich haßte deine Überlegenheit! Wie oft habe ich sie gehaßt! Ich brauche Enthusiasmus! Ich brauche jemand, der verrückt mit mir ist! Ich brauche jemand, der ohne mich nicht leben kann! Du kannst ohne mich leben! Du konntest es immer! Du brauchst mich nicht. Du bist kalt! Du bist leer! Du weißt nichts von Liebe! Du warst nie wirklich für mich da! Ich habe gelogen, damals, als ich sagte, es sei so gekommen, weil du zwei Monate fort warst! Es wäre auch gekommen, wenn du hier gewesen wärest. Lach nicht! Ich weiß die Unterschiede, ich weiß alles, ich weiß, daß der andere nicht klug ist und nicht ist wie du, aber er wirft sich weg für mich, nichts ist ihm wichtig außer mir, er denkt nichts als mich, er will nichts als mich, er weiß nichts als mich, und das ist es, was ich brauche!«
Sie stand heftig atmend vor dem Bett. Ravic griff nach einer Flasche Calvados. »Weshalb bist du denn hier?« fragte er.
Sie antwortete nicht gleich. »Du weißt es«, sagte sie dann leise. »Warum fragst du?«
Er goß ein Glas voll und hielt es ihr hinüber. »Ich will nicht trinken«, erklärte sie. »Was war das für eine Frau?« »Eine Patientin.« Ravic hatte keine Lust, zu lügen. »Eine Frau, die sehr krank ist.« »Das ist nicht wahr. Lüg besser. Eine kranke Frau ist im Hospital. Nicht in einem Nachtklub.« Ravic stellte das Glas zurück. Wahrheit wirkte oft so unwahrscheinlich. »Es ist wahr«, sagte er. »Liebst du sie?« »Was geht es dich an?« »Liebst du sie?« »Was geht es dich wirklich an, Joan?« »Alles! Solange du niemand liebst...« Sie stockte. »Vorher hast du die Frau eine Hure genannt. Wie kann da von Liebe die Rede sein?«
»Das habe ich nur so gesagt. Ich habe sofort gesehen, daß sie keine war. Deshalb habe ich es gesagt. Wegen einer Hure wäre ich nicht gekommen. Liebst du sie?«
»Mach das Licht aus und geh.«
Sie kam näher. »Ich wußte es. Ich sah es.«
»Geh zum Teufel«, sagte Ravic. »Ich bin müde. Geh zum Teufel mit deiner billigen Scharade, von der du glaubst, sie sei etwas Niedagewesenes — den einen für den Rausch, die rasche Liebe oder die Karriere — und den andern, dem man erklärt, man liebe ihn, tiefer und anders — als Hafen für die Zwischenzeit, wenn der Esel es hinnimmt. Geh zum Teufel; du hast mir zu viele Arten von Liebe.«
»Das ist nicht wahr. Nicht wie du es sagst. Es ist anders. Es ist nicht wahr. Ich will zu dir zurück. Ich werde zu dir zurückkommen.«
Ravic füllte sein Glas wieder. »Möglich, daß du es willst. Aber es ist nur eine Täuschung. Eine Täuschung, die du dir selbst vormachst, leider, um darüber hinwegzukommen. Du wirst nie zurückkommen.«
»Doch!«
»Nein. Und wennschon, so nur für kurze Zeit. Dann wird wieder ein anderer kommen, der nichts will als dich, nur dich, und so wird es weitergehen. Eine großartige Zukunft für mich.«
»Nein, nein! Ich werde bei dir bleiben.«
Ravic lachte. »Meine Süße«, sagte er fast zärtlich. »Du wirst nicht bei mir bleiben. Man kann den Wind nicht einsperren. Das Wasser auch nicht. Wenn man es tut, werden sie faul. Eingesperrter Wind wird abgestandene Luft. Du bist nicht gemacht für Dableiben.«
»Du auch nicht.«
»Ich?« Ravic trank sein Glas aus. Die mit dem rotgoldenen Haar vom Morgen, dachte er — dann Kate Hegström, mit dem Tod im Bauch und der Haut wie brüchige Seide — und nun diese hier, rücksichtslos, voll Gier zum Leben, fremd noch sich selbst und doch vertrauter sich, als je ein Mann wissen würde, naiv und hingerissen, treu in einem sonderbaren Sinne und treulos wie ihre Mutter, die Natur, treibend und getrieben, halten wollend und verlassend.
»Ich?« wiederholte Ravic. »Was weißt du von mir? Was weißt du davon, wenn in ein Leben, in dem alles fragwürdig geworden ist, die Liebe fällt? Was ist dein billiger Rausch dagegen? Wenn aus Fallen und Fallen plötzlich Halt wird, wenn das endlose Warum zu einem endlichen Du wird, wenn wie eine Fata Morgana über der Wüste des Schweigens auf einmal das Gefühl sich hochwirft, sich formt, und über machtlosen Händen die Gaukelei des Blutes zu einer Landschaft wird, gegen die alle Träume blaß und bürgerlich sind? Eine Landschaft aus Silber, eine Stadt aus Filigran und Rosenquarz, glänzend wie der hellste Widerschein von glühendem Blut — was weißt du davon? Glaubst du, daß man darüber gleich reden kann? Daß eine eilfertige Zunge es sofort pressen kann in das Klischee der Worte und eben der Gefühle? Was weißt du davon, wenn sich Gräben öffnen und man steht in Furcht vor den vielen farblosen Nächten des Gestern — doch sie öffnen sich, und keine Gerippe bleiben mehr darin, nur Erde ist noch darin. Erde, fruchtbarer Keim und das erste Grün bereits. Was weißt du davon? Du liebst den Rausch, die Überwältigung, das fremde Du, das in dir untergehen will und nie untergehen wird, du liebst den stürmischen Betrug des Blutes, aber dein Herz wird leer bleiben — denn man behält nichts, als was selber in einem wächst. Und im Sturm wächst nichf viel. Die leeren Nächte der Einsamkeit sind es, in denen es wächst — wenn man nicht verzweifelt. Was weißt du davon?«
Er hatte langsam gesprochen, ohne Joan anzusehen, als hätte er sie vergessen. Nun sah er sie an. »Was rede ich da?« sagte er. »Alte, törichte Dinge. Zuviel getrunken heute. Komm, trink auch etwas und geh.«
Sie setzte sich zu ihm auf das Bett und nahm das Glas. »Ich habe es verstanden«, sagte sie. Ihr Gesicht hatte sich verändert. Wie ein Spiegel, dachte er. Immer wieder spiegelt es zurück, was man dagegen sprach. Es war jetzt gesammelt und schön. »Ich habe es verstanden«, sagte sie. »Und manchmal auch gefühlt. Aber, Ravic, über deiner Liebe zur Liebe und zum Leben hast du mich oft vergessen. Ich war ein Anlaß — und dann gingst du in deine silbernen Städte und wußtest nur noch wenig von mir.«
Er sah sie lange an. »Vielleicht«, sagte er.
»Du warst so sehr mit dir beschäftigt, du entdecktest so viel in dir, daß ich irgendwie am Rande deines Lebens stehenblieb.«
»Vielleicht. Aber du bist nichts, um etwas darauf zu bauen, Joan. Das weißt du auch.«
»Wolltest du das?«
»Nein«, sagte Ravic nach einigem Nachdenken. Dann lächelte er. »Wenn man ein Refugié ist von allem, was fest war, gerät man manchmal in sonderbare Situationen. Und man tut sonderbare Dinge. Natürlich wollte ich das nicht. Aber wer nur ein einziges Lamm hat, will manchmal so viele Dinge damit tun.«
Die Nacht war plötzlich voll Frieden. Sie war wieder wie eine der Nächte, eine Ewigkeit her, wenn Joan neben ihm gelegen hatte. Die Stadt war weit, fern, nur noch ein sanftes Summen am Horizont, die Kette der Stunden war losgehakt, und die Zeit war so lautlos, als stände sie still. Das Einfachste und Unfaßbarste der Welt war wieder da: zwei Menschen, die miteinander sprachen, jeder für sich — und Laute, Worte genannt, formten trotzdem gleiche Bilder und Gefühle in der zuckenden Masse hinter den Knochen der Schädel — und aus sinnlosen Stimmbandvibrationen und den unerklärlichen Reaktionen darauf und den schmieriggrauen Windungen wuchsen plötzlich wieder Himmel, in denen sich Wolken, Bäche, Vergangenheit, Blühen, Welken und gefaßtes Wissen spiegelten.
»Du liebst mich, Ravic...«, sagte Joan, und es war nur halb eine Frage.
»Ja. Aber ich tue alles, um von dir loszukommen.«
Er sagte es ruhig, wie etwas, was beide wenig anging. Sie beachtete es nicht. »Ich kann mir nicht denken, daß wir jemals nicht mehr zusammen sind. Für eine Zeit, ja. Aber nicht für immer. Nie für immer«, wiederholte sie, und ein Schauer lief über ihre Haut. »Nie ist ein entsetzliches Wort, Ravic. Ich kann es mir nicht denken, daß wir nie mehr zusammen sind.«
Ravic antwortete nicht. »Laß mich hierbleiben«, sagte sie. »Ich will nie wieder zurückgehen. Nie.«
»Du würdest morgen zurückgehen. Du weißt das.«
»Ich kann mir nicht denken, wenn ich hier bin, daß ich nicht hierbleibe.«
»Das ist dasselbe. Du weißt das auch.«
Der Hohlraum inmitten der Zeit. Die kleine, erleuchtete Kabine des Zimmers wieder, dieselbe wie früher — und da war auch der Mensch wieder, den man liebte, und er war es auf eine sonderbare Weise schon nicht mehr, man konnte ihn greifen, wenn man nur die Arme ausstreckte, und man konnte ihn doch wieder nicht erreichen.
Ravic setzte das Glas nieder. »Du weißt, du würdest wieder gehen — morgen, übermorgen, irgendwann...«, sagte er.
Joan senkte den Kopf. »Ja.«
»Und wenn du wiederkämest — du weißt, du würdest immer wieder gehen?«
»Ja.«
Sie hob ihr Gesicht. Es war überströmt von Tränen.
»Was ist das nur, Ravic. Was ist es?«
»Ich weiß es auch nicht.« Er lächelte flüchtig. »Liebe ist nicht sehr fröhlich manchmal, wie?«
»Nein.« Sie sah ihn an. »Was ist das nur mit uns, Ravic?«
Er hob die Schultern. »Ich weiß es auch nicht, Joan. Vielleicht weil wir nichts anderes mehr haben, um uns festzuhalten. Früher hatte man vieles — Sicherheit, Hintergrund, Glauben, Ziele —, alles freundliche Geländer, an denen man sich halten konnte, wenn die Liebe einen schüttelte. Heute hat man nichts — höchstens ein bißchen Verzweiflung, ein bißchen Mut und sonst Fremde innen und außen. Wenn die Liebe dahinfliegt — das ist wie eine Fackel in trockenes Stroh. Man hat nichts als sie, das macht sie anders — wilder, wichtiger und zerstörender.« Er goß sein Glas voll. »Man soll nicht zuviel darüber nachdenken. Wir sind nicht in einer Situation, um viel nachzudenken. Es macht nur kaputt. Und wir wollen doch nicht kaputtgehen, wie?«
Joan schüttelte den Kopf. »Nein. Was war das für eine Frau, Ravic?«
»Eine Patientin. Ich war schon einmal mit ihr da. Damals, als du noch sangst. Hundert Jahre her. Tust du jetzt irgend etwas?«
»Kleine Rollen. Ich glaube, ich bin nicht gut. Aber ich verdiene genug, um unabhängig zu sein. Ich will jeden Augenblick weggehen können. Ich habe keine Ambitionen.«
Ihre Augen waren trocken. Sie trank das Glas Calvados aus und stand auf. Sie wirkte müde. »Warum ist das alles so in einem, Ravic? Warum? Es muß doch einen Grund haben. Wir würden doch sonst nicht fragen?«
Er lächelte trübe.
»Das ist die älteste Frage der Menschheit, Joan. Warum — die Frage, an der alle Logik, alle Philosophie, alle Wissenschaft bis jetzt zerbrochen sind.« Sie ging. Sie ging. Sie war an der Tür. Etwas schnellte in Ravic hoch. Sie ging. Sie ging. Er richtete sich auf. Es war plötzlich unmöglich, alles war unmöglich, nur eine Nacht noch, eine Nacht, einmal noch das schlafende Gesicht an der Schulter, morgen konnte man kämpfen, einmal noch diesen Atem neben sich, einmal noch in dem Fallen die sanfte Illusion, den süßen Betrug. Geh nicht, geh nicht, wir sterben in Schmerzen und leben in Schmerzen, geh nicht, geh nicht, was habe ich denn? Was ist mir mein kahler Mut? Wohin treiben wir? Nur du bist wirklich!
Hellster Traum! Ach, die Asphodelenwiesen des Vergessens! Einmal nur noch! Einmal den Funken Ewigkeit! Für wen bewahre ich mich denn? Für welches trostlose Etwas? Für welches finstere Unbestimmt? Begraben, verloren, zwölf Tage hat mein Leben nur noch, zwölf Tage, und dahinter ist nichts, zwölf Tage und diese Nacht, schimmernde Haut, warum kamst du gerade in dieser Nacht, die losgerissen von den Sternen schwimmt, verwölkt von alten Träumen, warum durchbrachst du die Forts und Verhaue in dieser Nacht, in der niemand mehr lebt als wir? Hob sich nicht die Welle? Warf sie sich nicht... »Joan«, sagte er.
Sie wandte sich um. Ihr Gesicht war plötzlich überflogen von einem wilden, atemlosen Glanz. Sie ließ ihre Sachen fallen und stürzte auf ihn zu.