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Der Wagen stoppte an der Ecke der Rue de Vaugirard. »Was ist los?« fragte Ravic.

»Demonstrationszug.« Der Chauffeur sah sich nicht um. »Kommunisten dieses Mal.«

Ravic blickte zu Kate Hegström hinüber. Sie saß schmal und zart im Kostüm einer Hofdame Louis XIV. in ihrer Ecke. Ihr Gesicht war stark gepudert. Es wirkte trotzdem blaß. Die Knochen hatten sich durchgearbeitet an den Schläfen und an den Wangen.

»Gut«, sagte er. »Juli 1939, eine faschistische Demonstration des Croix de feu vor fünf Minuten — jetzt eine der Kommunisten —, und wir beide dazwischen im Kostüm des großen 17. Jahrhunderts. Gut, Kate.«

»Es macht nichts.« Sie lächelte.

Ravic sah auf seine Escarpins herunter. Die Ironie der Situation war stark. Es war unnötig, noch darüber nachzudenken, daß jeder Polizist ihn außerdem verhaften konnte.

»Soll ich einen andern Weg nehmen?« fragte Kate Hegströms Chauffeur.

»Sie können nicht mehr wenden«, sagte Ravic. »Es sind bereits zu viele Wagen hinter uns.«

Die Demonstration zog ruhig über die Querstraße. Sie hatten Fahnen und Schilder. Niemand sang. Eine ganze Anzahl Polizisten begleitete den Zug. An der Ecke der Rue de Vaugirard stand unauffällig eine andere Gruppe Polizisten. Sie hatten Fahrräder bei sich. Einer von ihnen patrouillierte die Straße entlang. Er blickte in Kate Hegströms Wagen. Ohne eine Miene zu verziehen, schlenderte er weiter.

Kate Hegström sah Ravics Blick. »Er ist nicht überrascht«, sagte sie. »Er weiß es. Die Polizei weiß alles. Der Ball bei den Montforts ist das Ereignis des Sommers. Das Haus und der Garten werden von Polizei umringt sein.«

»Das beruhigt mich außerordentlich.«

Kate Hegström lächelte. Sie wußte nichts von Ravics Situation. »So viele Juwelen werden so bald nicht wieder zusammenkommen in Paris. Echte Kostüme mit echten Juwelen. Die Polizei nimmt bei so etwas kein Risiko. In der Gesellschaft werden bestimmt auch noch Detektive sein.«

»In Kostüm?«

»Möglich. Warum?«

»Gut zu wissen. Ich hatte vor, die Rothschildschen Smaragde zu stehlen.«

Kate Hegström drehte das Fenster herunter. »Es langweilt Sie, ich weiß es. Aber es hilft Ihnen diesmal nichts.«

»Es langweilt mich nicht. Im Gegenteil. Ich wüßte nicht, was ich sonst hätte machen sollen. Gibt es genug zu trinken?«

»Ich glaube. Aber ich kann dem Headbutler einen Wink geben. Ich kenne ihn ziemlich gut.«

Man hörte die Tritte der Demonstranten auf dem Pflaster. Sie marschierten nicht. Sie gingen regellos. Es klang, als wandere eine müde Herde vorüber.

»In welchem Jahrhundert möchten Sie leben, wenn Sie es sich aussuchen könnten?«

»In diesem. Sonst wäre ich ja tot, und irgendein Idiot würde mein Kostüm zu dieser Party tragen.«

»Das meine ich nicht. Ich meine, in welchem Sie Ihr Leben noch einmal leben möchten?«

Ravic blickte auf den Samtärmel seines Kostüms. »Es hilft nichts«, sagte er. »In unserem. Es ist das lausigste, blutigste, korrupteste, farbloseste, feigste und dreckigste soweit — aber trotzdem.«

»Ich nicht.« Kate Hegström drängte die Hände zusammen, als fröstele sie. Der weiche Brokat fiel über ihre dünnen Gelenke. »In diesem«, sagte sie. »Im siebzehnten oder in einem früheren. In jedem — nur nicht in unserem. Ich weiß das erst seit ein paar Monaten. Ich habe früher nie darüber nachgedacht.« Sie drehte das Fenster ganz herunter. »Wie heiß es ist! Und wie schwül! Ist der Zug noch nicht bald vorbei?« — »Ja. Das dort ist das Ende.«

Ein Schuß fiel aus der Richtung der Rue Cambronne. Im nächsten Augenblick saßen die Polizisten an der Ecke auf ihren Fahrrädern. Eine Frau schrie etwas. Ein plötzliches Grollen antwortete aus der Menge. Leute begannen zu laufen. Die Polizisten traten in die Pedale und fuhren dazwischen, ihre Knüppel schwingend.

»Was war das?« fragte Kate Hegström erschrocken.

»Nichts. Ein geplatzter Autoreifen.«

Der Chauffeur drehte sich um. Sein Gesicht hatte sich verändernt. »Diese...«

»Fahren Sie zu«, unterbrach Ravic ihn. »Sie können jetzt durch.«

Die Kreuzung war leer, als hätte ein Windstoß sie leergefegt. »Los«, sagte Ravic.

Von der Rue Cambronne kamen Schreie. Ein zweiter Schuß fiel. Der Chauff eur fuhr an.

Sie standen auf der Terrasse zum Garten. Alles war bereits voll von Kostümen. Aus der tiefen Dämmerung der Bäume blühten Rosen. Kerzen in Windlichtern gaben ein flackerndes, warmes Licht. In einem Pavillon spielte ein kleines Orchester ein Menuett. Das Ganze wirkte wie ein Watteau, der lebendig geworden war.

»Schön?« fragte Kate Hegström. »Ja.«

»Wirklich?«

»Ja, Kate. Wenigstens so, von weitem.« »Kommen Sie. Lassen Sie uns durch den Garten gehen.« Unter den hohen, alten Bäumen entfaltete sich ein unwirkliches Bild. Das Ungewisse Licht von vielen Kerzen schimmerte auf silbernen und goldenen Brokaten, auf kostbaren, altblauen und rosa und seegrünen Samten, es warf sanfte Reflexe auf Allongeperücken und nackte, gepuderte Schultern, um die das zärtliche Geglitzer der Geigen wehte; Paare und Gruppen wandelten gemessen auf und ab, Degengriffe funkelten, ein Springbrunnen rauschte, und die verschnittenen Buchsbaumbosketts bildeten dunkel einen stilvollen Hintergrund.

Ravic sah, daß selbst die Diener in Kostümen waren. Er nahm an, daß die Detektive es dann auch waren. Es wäre nicht schlecht, dachte er, von Molière oder Racine verhaftet zu werden. Oder zur Abwechslung von einem Hofzwerg.

Er blickte auf. Ein schwerer, warmer Tropfen war auf seine Hand gefallen. Der rötliche Himmel war verfinstert. »Es gibt Regen, Kate«, sagte er.

»Nein. Das ist unmöglich. Der Garten...«

»Doch. Kommen Sie rasch!«

Er nahm ihren Arm und brachte sie zur Terrasse. Sie waren kaum da, als es schon zu gießen begann. Das Wasser stürzte nur so herunter, die Kerzen in den Windlichtern verlöschten, die Tafeldekorationen hingen nach wenigen Sekunden als farblose Lappen herunter, und eine Panik brach aus. Marquisen, Herzoginnen und Hofdamen stürzten mit gerafften Brokatröcken der Terrasse zu; Grafen, Exzellenzen und Feldmarschälle versuchten die Perücken zu schützen und drängten wie aufgescheuchte bunte Hühner durcheinander.

Das Wasser stürzte in die Allongen, Kragen und Dekolletées, es wusch Puder und Rouge herunter, ein fahler Blitz riß den Garten in stoffloses Licht, und schwer prasselte der Donner hinterher.

Kate Hegström stand regungslos unter der Markise auf der Terrasse, eng an Ravic gedrängt. »Das ist noch nie passiert«, sagte sie fassungslos. »Ich war oft hier. Das war noch nie. In keinem Jahr.«

»Eine glänzende Gelegenheit für die Smaragde.«

»Ja. Mein Gott...«

Diener in Regenmänteln und Schirmen rannten durch den Garten. Ihre seidenen Eskarpins stachen sonderbar unter den Mänteln heraus. Sie geleiteten die letzten, verlorenen, nassen Hofdamen zur Terrasse und suchten dann nach verlorenen Umhängen und Sachen. Einer brachte ein Paar goldene Schuhe. Sie waren zierlich, und er hielt sie vorsichtig in seinen großen Händen. Das Wasser stürzte auf die leeren Tische. Es donnerte auf die gespannte Markise, als trommle der Himmel mit kristallenen Schlegeln zu einer unbekannten Reveille.

»Wir wollen hineingehen«, sagte Kate Hegström.

Die Räume des Hauses waren viel zu klein für die Anzahl der Gäste. Niemand hatte scheinbar mit schlechtem Wetter gerechnet. Die Schwüle des Tages lag noch schwer in den Zimmern. Das Gedränge erhitzte sie noch mehr. Die weiten Kostüme der Frauen wurden zerdrückt. Seide riß unter den Füßen, die darauf traten. Man konnte sich kaum rühren.

Ravic stand mit Kate Hegström neben der Tür. Vor ihm atmete eine gräfliche Marquise Montespan mit nassem, strähnigem Haar. Ein Halsband aus birnenförmigen Diamanten lag um ihren Nacken, der zu weite Poren hatte. Sie sah jetzt aus wie eine verregnete Gemüsehändlerin auf einem Karneval. Neben ihr hustete ein kahlköpfiger Mann ohne Kinn. Ravic erkannte ihn. Es war Blancher vom Auswärtigen Amt im Kostüm Colberts. Zwei schöne, schmale Hofdamen mit Profilen wie Windhunde standen vor ihm; ein jüdischer Baron, dick, laut, mit juwelenbesetztem Hut, betatschte genießerisch ihre Schultern. Ein paar Südamerikaner, als Pagen verkleidet, betrachteten ihn aufmerksam und erstaunt. Zwischen ihnen stand die Gräfin Bellin als La Vallière, mit dem Gesicht eines gefallenen Engels und vielen Rubinen; Ravic erinnerte sich, ihr vor einem Jahr die Eierstöcke operiert zu haben — auf eine Diagnose Durants hin. Dies hier überhaupt war Durants Gebiet. Ein paar Schritte weg erkannte er die junge, sehr reiche Baronesse Remplart. Sie hatte einen Engländer geheiratet und keine Gebärmutter mehr. Ravic hatte sie herausgeschnitten. Fehldiagnose Durants. Fünfzigtausend Frank Honorar. Die Sekretärin Durants hatte ihm das verraten. Ravic hatte zweihundert Frank bekommen — die Frau, zehn Jahre ihres Lebens und die Möglichkeit, Kinder zu bekommen, verloren.

Der Geruch des Regens, die tote, heiße Schwüle, die sich mit dem Geruch des Parfüms, der Haut und der feuchten Haare vermischten. Die Gesichter, abgewaschen vom Regen, waren nackter unter den Perücken als je vorher ohne Kostüm. Ravic blickte umher; er sah viel Schönheit um sich herum; er sah auch Geist und skeptische Klugheit — aber sein Auge war ebenso trainiert auf die leichten Zeichen von Krankheit, und er wurde nicht leicht getäuscht durch eine perfekte Oberfläche. Er wußte, daß eine bestimmte Gesellschaft in allen Jahrhunderten, großen und kleinen, dieselbe war — aber er wußte auch, was Fieber und Zerfall waren, und er kannte ihre Symptome. Laue Promiskuität, die Toleranz der Schwäche; der Sport ohne Stärke; Geist ohne Diskretion; Witz des Witzes wegen; Blut, das müde war, zerfunkelt in Ironie, in kleinen Abenteuern, in schaler Gier, in geschliffenem Fatalismus, in matter Zwecklosigkeit. Von hier würde die Welt nicht gerettet werden, dachte er. Aber von wo?

Er blickte zu Kate Hegström hinüber. »Sie bekommen nichts zu trinken«, sagte sie. »Die Diener kommen nicht durch.«

»Das macht nichts.«

Sie wurden langsam in das nächste Zimmer gedrängt. Tische mit Champagner standen an der Wand, sie wurden hereingeholt und rasch aufgebaut.

Irgendwo brannten ein paar Leuchter. Durch ihr weiches Licht zuckten die Blitze von draußen und rissen für Augenblicke die Gesichter in einen fahlen, gespenstischen Sekundentod. Dann rollte der Donner und übertönte die Stimmen und herrschte und drohte — bis das weiche Licht wiederkam und mit ihm das Leben und die Schwüle.

Ravic zeigte zu den Champagnertischen hinüber. »Soll ich Ihnen davon etwas holen?«

»Nein. Es ist zu heiß.« Kate Hegström sah ihn an. »Das ist nun mein Fest.«

»Vielleicht hört es bald auf zu regnen.«

»Nein. Und wenn auch — es ist verdorben. Wissen Sie, was ich möchte? Fort...«

»Gut. Ich auch. Dies hier ist wie kurz vor der Französischen Revolution. Man erwartet jeden Moment die Sansculottes.«

Es dauerte lange, bis sie den Ausgang erreichten. Kate Hegströms Kostüm sah hinterher aus, als hätte sie einige Stunden darin geschlafen. Der Regen fiel draußen schwer und gerade hernieder. Die Häuser gegenüber wirkten, als lägen sie hinter der wasserüberflossenen Scheibe eines Blumengeschäftes.

Der Wagen summte heran. »Wohin wollen Sie?« fragte Ravic. »Ins Hotel zurück?«

»Noch nicht. Aber wir können sonst nirgendwohin in diesen Kostümen gehen. Lassen Sie uns noch etwas herumfahren.«

»Gut.«

Der Wagen glitt langsam durch das abendliche Paris. Der Regen klopfte auf das Dach und übertönte fast alle anderen Geräusche. Der Arc de Triomphe hob sich grau aus dem silbernen Fließen und verschwand. Die Champs-Elysées mit ihren erleuchteten Fenstern glitten vorüber.

Das Rond Point duftete nach Blumen und Frische, eine bunte Woge in all dem Rauch. Weit, wie ein Meer, mit seinen Tritonen und Meerungeheuern, dämmerte der Place de la Concorde. Die Rue de Rivoli schwamm heran mit ihren hellen Bogengängen, ein flüchtiger Glanz von Venedig, bevor der Louvre grau und ewig sich erhob mit dem endlosen Hof, funkelnd in allen Fenstern. Die Kais dann, die Brücken, schwingend, unwirklich in dem sachten Strömen. Lastkähne, ein Schlepper mit einem warmen Licht, tröstlich, als berge es tausend Heimaten. Die Seine. Die Boulevards, mit Omnibussen, Lärm, Menschen und Läden. Die eisernen Gitter des Luxembourg, der Park dahinter wie ein Rilkegedicht. Der Cimetière Montparnasse, schweigend, verlassen. Die schmalen, alten Straßen, eng zusammengeschoben, Häuser, stille Plätze, überraschend sich öffnend, mit Bäumen, windschiefen Fassaden, Kirchen, verwitterten Denkmälern, Laternen, im Regen flatternd, Pissoirs, wie kleine Forts aus der Erde ragend, die Gassen der Stundenhotels und dazwischen die Straßen der Vergangenheit, im reinen Rokoko und Barock ihrer Häuserfronten herniederlächelnd, verdämmerte Tore wie aus Romanen von Proust....

Kate Hegström saß in ihrer Ecke und schwieg. Ravic rauchte. Er sah das Licht der Zigarette, aber er spürte den Rauch nicht. Es war, als rauche er im Dunkel des Wagens eine stofflose Zigarette, und langsam erschien ihm, als wäre alles unreal — diese Fahrt, dieser lautlose Wagen im Regen, die Straßen, die vorüberglitten, die stille Frau in der Ecke in ihrem Kostüm, über daß die Reflexe der Lichter huschten, die Hände, die der Tod schon gezeichnet hatte und die bewegungslos auf dem Brokat lagen, als würden sie sich nie mehr regen — es war eine geisterhafte Fahrt durch ein geisterhaftes Paris, sonderbar durchweht von einem unausgedachten Wissen und einem unausgesprochenen Abschied ohne Grund.

Er dachte an Haake. Er versuchte zu überlegen, was er tun wolle. Er konnte es nicht; es zerrann in Regen. Er dachte an die Frau mit dem rotgoldenen Haar, die er operiert hatte. Er dachte an einen regnerischen Abend in Rothenburg ob der Tauber mit einer Frau, die er vergessen hatte; an das Hotel Eisenhut und eine Geige aus einem unbekannten Fenster. Romberg fiel ihm ein, der 1917 im Gewitter auf einem flandrischen Mohnfeld gefallen war, einem Gewitter, das gespenstisch in das Trommelfeuer gedröhnt hatte, als sei Gott der Menschen müde geworden und hätte begonnen, die Erde zu beschießen. Er dachte an eine Ziehharmonika, jammernd und schlecht und voll unerträglicher Sehnsucht in Houthoulst gespielt von einem Soldaten des Marine-Bataillons — Rom im Regen glitt durch seine Gedanken, eine nasse Landstraße in Rouen — der ewige Novemberregen auf den Dächern der Barakken im Konzentrationslager; tote spanische Bauern, in deren offenen Mündern das Wasser sich gesammelt hatte — das feuchte, helle Gesicht Claires, der Weg mit schwer riechendem Flieder zur Universität in Heidelberg — eine Laterna magica des Gewesenen — die endlose Prozession vergangener Bilder, vorübergleitend wie die Straßen draußen, Gift und Trost...

Er drückte seine Zigarette aus und richtete sich auf. Genug. Wer viel zurückschaute, konnte leicht gegen irgend etwas rennen oder abstürzen.

Der Wagen klomm jetzt die Gassen des Montmartre hinauf. Es hörte auf zu regnen. Wolken strichen über den Himmel, versilbert, schwer und eilig, trächtige Mütter, die rasch etwas Mond gebären wollten. Kate Hegström ließ den Wagen halten. Sie stiegen aus und gingen ein paar Gassen hinauf, um eine Ecke.

Unten lag plötzlich Paris. Weitgestreckt, flimmernd, naß, Paris. Mit Straßen, Plätzen, Nacht, Wolken und Mond, Paris. Der Kranz der Boulevards, der bleiche Schimmer der Abhänge, Türme, Dächer, Dunkelheit gegen Licht geworfen. Paris. Wind von den Horizonten, Funkeln der Ebene, Brücken aus Schwarz und Helle, Schauerregen fern über der Seine verfliegend, die zahllosen Lichter der Wagen, Paris. Abgetrotzt der Nacht, gigantischer Bienenkorb summenden Lebens, aufgebaut über Millionen von Dreckkanälen, Lichtblüte über seinem Gestank unter der Erde, Krebs und Mona Lisa, Paris.

»Einen Augenblick, Kate«, sagte Ravic. »Ich will uns etwas holen.« Er ging in die Kneipe nebenan. Ein warmer Geruch von frischer Blut- und Leberwurst schlug ihm entgegen. Niemand kümmerte sich um sein Kostüm. Er bekam eine Flasche Kognak und zwei Gläser. Der Wirt öffnete die Flasche und steckte den Korken leicht wieder in den Hals.

Kate Hegström stand draußen, genau wie er sie verlassen hatte. Sie stand da in ihrem Kostüm, schmal gegen den bewegten Himmel — als wäre sie vergessen worden aus einem andern Jahrhundert und nicht eine Amerikanerin schwedischer Herkunft aus Boston.

»Hier, Kate. Das Beste gegen Kühle, Regen und den Aufruhr allzu großer Stille. Trinken wir das hier auf die Stadt da unten.«

»Ja.« Sie nahm das Glas. »Gut, daß wir hier heraufgefahren sind, Ravic. Besser als alle Feste der Welt.«

Sie trank das Glas aus. Der Mond fiel über ihre Schultern und ihr Kleid und ihr Gesicht.

»Kognak«, sagte sie. »Guter sogar.«

»Richtig. Solange Sie das erkennen, ist alles in Ordnung.«

»Geben Sie mir noch einen. Und dann lassen Sie uns wieder hinunterfahren, und ich werde mich umziehen und Sie auch, und wir wollen in die Scheherazade gehen, und ich will in eine Orgie von Sentimentalität fallen und mir leid tun und Abschied nehmen von all den herrlichen Oberflächlichkeiten des Lebens, und von morgen an will ich dann Philosophen lesen, Testamente machen und mich meines Zustandes würdig benehmen.«

Auf der Treppe des Hotels traf Ravic die Wirtin. Sie hielt ihn an. »Haben Sie einen Moment Zeit?«

»Natürlich.«

Sie führte ihn in den zweiten Stock und öffnete mit einem Paßschlüssel ein Zimmer. Ravic sah, daß es noch bewohnt war.

»Was soll das?« fragte er. »Wozu brechen Sie hier ein?«

»Rosenfeld wohnt hier«, sagte sie. »Er will ausziehen.«

»Ich will meine Bude nicht wechseln.«

»Er will ausziehen und hat die letzten drei Monate nicht bezahlt.«

»Er hat ja noch seine Sachen hier. Die können Sie ja festhalten.«

Die Wirtin stieß verächtlich gegen einen Koffer, der offen und schäbig neben dem Bett stand. »Was ist da schon dran? Nichts wert. Vulkan-Fieber. Hemden ausgefranst. Den Anzug, das sehen Sie ja von hier schon. Er hat nur zwei. Keine hundert Frank kriegt man für das Ganze.«

Ravic zuckte die Achseln. »Hat er gesagt, daß er ausziehen will?«

»Nein. Aber man sieht so was. Ich habe es ihm heute auf den Kopf zugesagt. Er hat es auch zugegeben. Ich habe ihm erklärt, daß er bis morgen zahlen muß. Ich kann mir das nicht dauernd leisten, Mieter, die nicht zahlen.«

»Gut. Was habe ich dabei zu tun?«

»Die Bilder. Die gehören ihm auch. Er hat gesagt, sie wären wertvoll. Er behauptet, er könne viel mehr als die Miete damit bezahlen. Nun sehen Sie sich das doch mal an!«

Ravic hatte auf die Wände nicht achtgegeben. Er blickte auf. Vor ihm, über dem Bett, hing eine Arles-Landschaft von Van Gogh aus der besten Zeit. Er trat einen Schritt näher. Es war kein Zweifel, das Bild war echt. »Schauderhaft, was?« fragte die Wirtin. »Das sollen Bäume sein, diese krummen Dinger da! Und nun sehen Sie sich nur das an!«

Das da hing über dem Waschtisch und war ein Gauguin. Ein nacktes Südseemädchen vor einer tropischen Landschaft. »Die Beine!« sagte die Wirtin. »Knöchel wie ein Elefant. Und das dämliche Gesicht. Sehen Sie nur, wie sie dasteht! Und da hat er noch eins, das ist nicht einmal zu Ende gemalt.«

Nicht mal zu Ende gemalt war ein Bild der Frau Cezanne von Cezanne. »Der Mund! Schief, und auf der Backe fehlt Farbe. Damit will er mich nun anschmieren! Sie haben meine Bilder gesehen — das sind doch Bilder! Nach der Natur und echt und richtig. Die Schneelandschaft mit den Hirschen im Salle à manger. Aber dieser Schund — der sieht aus, als wenn er ihn selbst gemacht hätte. Meinen Sie nicht.«

»Ungefähr so.«

»Das wollte ich nur wissen. Sie sind doch ein gebildeter Mensch und verstehen etwas davon. Nicht mal Rahmen sind dran.«

Die drei Bilder hingen ohne Rahmen. Sie leuchteten auf den schmutzigen Tapeten wie Fenster in eine andere Welt. »Wenn wenigstens noch gute Goldrahmen drum wären! Dann könnte man die abnehmen. Aber so! Ich sehe schon, daß ich diesen Dreck behalten muß und wieder einmal ’reingefallen bin. Das hat man von seiner Güte!«

»Ich glaube nicht, daß Sie die Bilder zu nehmen brauchen«, sagte Ravic.

»Was sonst?«

»Rosenfeld wird das Geld für Sie schon bekommen.«

»Wieso?« Sie sah ihn rasch an. Ihr Gesicht veränderte sich. »Sind die Sachen das wert? Manchmal sind ja gerade solche Dinge was wert!« Man sah die Gedanken hinter ihrer gelben Stirn springen. »Ich könnte ja ohne weiteres eins beschlagnahmen, schon für den letzten Monat! Welches meinen Sie? Das große über dem Bett?«

»Gar keins. Warten Sie, bis Rosenfeld zurückkommt. Ich bin sicher, daß er mit Geld zurückkommt.«

»Ich nicht. Ich bin Hotelbesitzerin.«

»Warum haben Sie denn so lange gewartet? Das tun Sie doch sonst nicht?«

»Reden! Was der mir alles vorgeredet hat! Sie wissen doch, wie das hier ist.«

Rosenfeld stand plötzlich in der Tür. Schweigend, klein und ruhig. Bevor die Wirtin etwas sagen konnte, zog er Geld aus der Tasche. »Hier — und hier ist meine Rechnung. Wollen Sie mir das bitte quittieren?«

Die Wirtin sah erstaunt auf die Banknoten. Dann sah sie auf die Bilder. Dann zurück auf das Geld. Sie wollte eine Menge sagen — aber es kam nicht heraus. »Sie kriegen noch was zurück«, erklärte sie schließlich.

»Das weiß ich. Können Sie es mir jetzt geben?«

»Ja, gut. Ich habe es nicht hier. Die Kasse ist unten. Ich werde es wechseln.«

Sie ging, als sei sie schwer beleidigt worden. Rosenfeld blickte auf Ravic.

»Entschuldigen Sie«, sagte Ravic. »Die Alte hat mich hierher geschleppt. Ich hatte keine Ahnung, was sie vorhatte. Sie wollte hören, was die Bilder wert seien.«

»Haben Sie es ihr gesagt?«

»Nein.«

»Gut.« Rosenfeld sah Ravic mit einem sonderbaren Lächeln an.

»Wie können Sie solche Bilder hier hängen haben?« fragte Ravic. »Sind sie versichert?«

»Nein. Aber Bilder werden nicht gestohlen. Höchstens einmal alle zwanzig Jahre aus einem Museum.«

»Die Bude hier kann abbrennen.«

Rosenfeld zuckte die Achseln. »Ein Risiko muß man nehmen. Versichern ist zu teuer für mich.«

Ravic betrachtete den Van Gogh. Er war mindestens eine Million Frank wert. Rosenfeld folgte seinem Blick.

»Ich weiß, was Sie denken. Wer das hat, sollte auch Geld haben, es zu versichern. Aber ich habe es nicht. Ich lebe von meinen Bildern. Ich verkaufe sie langsam, und ich verkaufe sie nicht gern.«

Unter dem Cezanne stand ein Spirituskocher auf dem Tisch. Eine Büchse mit Kaffee, ein Brot, ein Topf Butter und ein paar Tüten daneben. Das Zimmer war ärmlich und klein. Aber von den Wänden leuchtete die Herrlichkeit der Welt.

»Das verstehe ich«, sagte Ravic.

»Ich dachte, ich würde es schaffen«, sagte Rosenfeld. »Ich habe alles bezahlen können. Die Eisenbahn, die Überfahrt, alles, nur nicht diese drei Monate Miete. Ich habe kaum gegessen, aber ich konnte es nicht schaffen. Das Visum dauerte zu lange. Ich mußte heute abend einen Monet verkaufen. Eine Vétheuil-Landschaft. — Dachte, ich könnte sie noch mitnehmen.«

»Hätten Sie sie anderswo nicht auch verkaufen müssen?«

»Ja. Aber in Dollars. Sie hätten das Doppelte gebracht.«

»Gehen Sie nach Amerika?«

Rosenfeld nickte. »Es ist Zeit, hier wegzugehen.«

Ravic sah ihn an. »Der Totenvogel geht«, sagte Rosenfeld.

»Was für ein Totenvogel?«

»Ach so — Markus Meyer. Wir nennen ihn den Totenvogel. Er riecht, wenn man fliehen muß.«

»Meyer?« sagte Ravic. »Ist das der kleine Kahlkopf, der ab und zu in der Katakombe Klavier spielt?«

»Ja. Er heißt der Totenvogel — seit Prag.«

»Guter Name.«

»Er hat es immer gerochen. Zwei Monate vor Hitler ging er’ aus Deutschland heraus. Drei Monate vor den Nazis aus Wien. Sechs Wochen vor dem Einmarsch aus Prag. Ich habe mich an ihn gehalten. Immer. Er riecht es. Dadurch habe ich die Bilder gerettet. Geld konnte man aus Deutschland ja nicht mehr mitnehmen. Sperrmark. Hatte anderthalb Millionen angelegt. Versuchte, sie flüssig zu machen. Dann kamen die Nazis, und es war zu spät. Meyer war klüger. Schmuggelte einen Teil ’raus. Ich hatte nicht die Nerven. Und jetzt geht er nach Amerika. Ich auch. Schade um den Monet.«

»Sie können doch den Rest des Geldes, das Sie dafür bekommen haben, mitnehmen. Hier gibt es noch keine Sperrfrank.«

»Ja. Aber wenn ich es drüben verkauft hätte, hätte ich länger davon leben können. So aber muß ich wahrscheinlich bald den Gauguin opfern.«

Rosenfeld fummelte an seinem Spirituskocher herum. »Es sind die letzten«, sagte er. »Nur noch diese drei. Ich muß davon leben. Arbeit — damit rechne ich nicht. Das wäre ein Wunder. Nur noch drei. Eines weniger ist ein Stück Leben weniger.«

Er stand dürftig vor seinem Koffer. »In Wien — fünf Jahre; es war noch nicht teuer, ich konnte billig leben; aber es hat mich zwei Renoirs und ein Degas-Pastell gekostet. In Prag habe ich einen Sisley und fünf Zeichnungen verwohnt und aufgegessen. Kein Mensch wollte etwas für Zeichnungen geben — es waren zwei Degas, eine Kreide von Renoir und zwei Sepias von Delacroix. In Amerika hätte ich ein Jahr länger davon leben können. Sehen Sie«, sagte er ziemlich trostlos, »jetzt habe ich nur noch diese drei Bilder. Gestern waren es noch vier. Dieses Visum kostet mich zwei Jahre Leben mindestens. Wenn nicht drei!«

»Es gibt eine Menge Leute, die haben keine Bilder, um davon zu leben.«

Rosenfeld hob die mageren Schultern. »Das ist kein Trost.«

»Nein«, sagte Ravic. »Das ist wahr.«

»Ich muß damit über den Krieg wegkommen. Und der Krieg wird lange dauern.«

Ravic antwortete nicht. »Der Totenvogel behauptet es«, sagte Rosenfeld. »Und er weiß nicht einmal, ob Amerika sicher bleiben wird.«

»Wohin will er dann?« fragte Ravic. »Da ist nicht mehr viel übrig.«

»Er weiß es noch nicht genau. Er denkt an Haiti. Er glaubt nicht, daß eine Negerrepublik in den Krieg gehen wird.«

Rosenfeld war völlig ernst. »Oder Honduras. Eine kleine, südamerikanische Republik. San Salvador. Neuseeland vielleicht auch.«

»Neuseeland. Das ist ziemlich weit weg — wie?« »Weit?« sagte Rosenfeld trübe lächelnd. »Von wo?«