37349.fb2 Arc de Triomphe - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 27

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Ein Meer. Ein Meer donnernder Finsternis, das gegen die Ohren klatschte. Dann das schrille Klingeln durch Gänge, ein Schiff, tosend mit Untergang, klingelnd — und Nacht, das bleichere Fenster, vertraut in den weichenden Schlaf hineinlehnend, das Klingeln immer noch — Telefon. Ravic hob den Hörer ab. »Hallo...« »Ravic...« »Was ist los? Wer ist da?« »Ich. Erkennst du mich nicht?« »Ja, jetzt. Was ist los?« »Du mußt kommen! Rasch! Sofort!« »Was ist los?« »Komm, Ravic! Es ist etwas passiert!« »Was ist passiert?« »Es ist etwas passiert! Ich habe Angst! Komm! Komm sofort! Hilf mir! Ravic! Komm!«

Das Telefon klickte. Ravic wartete. Das Freizeichen surrte. Joan hatte angehängt. Er legte den Hörer zurück und starrte in die blasse Nacht. Der künstliche Schlaf hing noch schwer hinter seiner Stirn. Haake, hatte er zuerst geglaubt. Haake sei es — bis er das Fenster sah und wußte, er war im »International«, nicht im »Prince de Galles«. Er sah auf die Uhr. Die Leuchtzeiger standen auf vier Uhr zwanzig. Plötzlich sprang er aus dem Bett. Joan hatte, als er Haake traf, etwas gesagt — von Gefahr, Angst. — Wenn... es war alles möglich! Er hatte schon Blödsinnigeres gesehen. Er packte eilig das Nötigste zusammen und zog sich an.

Er fand ein Taxi an der nächsten Ecke. Der Fahrer hatte einen kleinen Rehpinscher bei sich. Der Hund lag wie ein Pelzkragen um die Schultern des Mannes. Er schwankte mit, wenn das Taxi schwankte. Es machte Ravic verrückt. Er hätte den Hund am liebsten auf den Sitz geworfen. Aber er kannte die Pariser Taxichauffeure.

Der Wagen ratterte durch die laue Julinacht. Ein verwehter Geruch von schüchtern atmendem Laub. Geblüht, irgendwo Linden, Schatten, ein Jasminhimmel voll Sterne, dazwischen ein Flugzeug mit grünen und roten Blinklichtern, wie ein schwer drohender Käfer zwischen Leuchtfliegen; fahle Straßen, summende Leere, Gesang von zwei Besoffenen, ein Akkordeon von einem Keller her, und plötzlich ein Stocken und Angst und peitschende Eile, das Zerren — zu spät vielleicht…

Das Haus. Laue Schlafdunkelheit. Der Aufzug kroch herunter. Kroch, ein langsames, helles Insekt. Ravic war schon auf der ersten Treppe, als er sich besann und umkehrte. Der Aufzug war schneller, so langsam er auch war.

Diese Spielzeuglifts von Paris! Flimsige Gefängnisse, knarrend, hustend, oben offen, nach den Seiten offen, nichts als ein Boden mit ein paar Eisenstreben, eine Birne, halb ausgebrannt, trübe flackernd, lose im Kontakt die andere — endlich das oberste Stockwerk. Er schob das Gitter auf, klingelte.

Joan öffnete. Ravic starrte sie an. Kein Blut — das Gesicht normal, nichts. »Was ist los?« fragte er. »Wo ist...«

»Ravic. Du bist gekommen!«

»Wo ist... hast du irgend etwas gemacht?«

Sie trat zurück. Er machte ein paar Schritte. Übersah den Raum. Niemand da. »Wo? Im Schlafzimmer?«

»Was?« fragte sie.

»Ist jemand im Schlafzimmer? Hast du jemand da?«

»Nein. Warum?«

Er sah sie an. »Ich werde doch niemand hier haben, wenn du kommst«, sagte sie.

Er sah sie immer noch an. Sie stand da, gesund, und lächelte ihn an. »Wie kommst du darauf?« Ihr Lächeln vertiefte sich. »Ravic«, sagte sie, und er spürte, als schlüge ihm Hagel ins Gesicht, daß sie glaubte, er sei eifersüchtig, und daß sie es genoß. Die Tasche mit den Instrumenten in seiner Hand wog plötzlich einen Zentner. Er stellte sie auf einen Stuhl. »Du gottverdammtes Luder«, sagte er.

»Was? Was hast du?« — »Du gottverdammtes Luder«, wiederholte er. »Und ich Esel, darauf hereinzufallen.«

Er nahm die Tasche wieder auf und drehte sich zur Tür. Sie war sofort neben ihm. »Was willst du? Geh nicht! Du kannst mich nicht allein lassen! Ich weiß nicht, was passiert, wenn du mich allein läßt!«

»Lügnerin«, sagte er. »Jammervolle Lügnerin! Es macht nichts, daß du lügst, aber daß du es so billig tust, ist zum Kotzen. Mit so etwas spielt man nicht!«

Sie drängte ihn von der Tür weg. »Aber sieh dich doch um! Es ist etwas passiert! Du kannst es doch selbst sehen! Sieh doch, wie er getobt hat. Und ich habe Angst, daß er wiederkommt! Du weißt nicht, was er tun kann.«

Ein Stuhl lag am Boden. Eine Lampe. Ein paar zerbrochene Scherben Glas. »Zieh dir die Schuhe an, wenn du herumgehst«, sagte Ravic. »Damit du dich nicht schneidest. Das ist alles, was ich dir raten kann.«

Zwischen den Scherben lag eine Fotografie. Er schob das Glas mit dem Fuß beiseite und hob die Fotografie auf. »Hier...« Er warf sie auf den Tisch. »Und nun laß mich in Ruhe.«

Sie stand vor ihm. Sie sah ihn an. Ihr Gesicht hatte sich verändert. »Ravic«, sagte sie leise und unterdrückt. »Ich mache mir nichts daraus, wie du mich nennst. Ich habe oft gelogen. Und ich werde weiter lügen. Ich wollte es ja so.« Sie gab dem Foto einen Stoß. Es glitt über den Tisch und fiel so, daß Ravic es sehen konnte. Es war nicht das Bild des Mannes, den er mit Joan in der »Cloche d’Or« gesehen hatte.

»Alle wollen es«, sagte sie voll Verachtung. »Lüg nicht, lüg nicht! Sag nur die Wahrheit! Und wenn man es tut, können sie es nicht ertragen. Keiner! Aber dich habe ich nicht oft belogen. Dich nicht. Bei dir wollte ich es nicht...«

»Gut«, sagte Ravic. »Wir brauchen das nicht zu erörtern.« Er war plötzlich auf eine sonderbare Weise gerührt. Irgend etwas hatte ihn getroffen. Er wurde ärgerlich. Er wollte nicht mehr getroffen werden.

»Nein. Bei dir hatte ich es nicht nötig«, sagte sie und sah ihn fast flehend an.

»Joan...«

»Und ich lüge jetzt auch nicht. Ich lüge nicht ganz, Ravic. Ich habe dich wirklich angerufen, weil ich Angst habe. Ich hatte ihn glücklich aus der Tür ’raus und abgeschlossen. Es war das erste, was mir in den Sinn kam. Ist das so schlimm?«

»Du warst verdammt ruhig und ohne Angst, als ich kam.«

»Weil er fort war. Und weil ich dachte, du wirst kommen und mir helfen.«

»Gut. Dann ist jetzt alles in Ordnung, und ich kann gehen.«

»Er kommt wieder. Er hat geschrien, er würde wiederkommen. Er sitzt jetzt irgendwo und trinkt. Ich weiß das. Und wenn er betrunken ist und wiederkommt, ist er nicht wie du — er kann nicht trinken.«

»Genug!« sagte Ravic. »Laß das. Es ist zu albern. Deine Tür ist gut. Und mach so etwas nicht wieder.«

Sie blieb stehen. »Was soll ich denn sonst machen?« stieß sie plötzlich hervor.

»Nichts.«

»Ich rufe dich an — dreimal, viermal —, du antwortest nicht. Und wenn du antwortest, sagst du mir, ich solle dich in Ruhe lassen. Wie denkst du dir das?« — »Genauso.«

»Genauso? Wie genauso? Sind wir Automaten, die man an und abstellen kann? Eine Nacht ist alles wunderbar und voll Liebe und dann plötzlich...«

Sie schwieg, als sie Ravics Gesicht sah. »Ich habe mir gedacht, daß das kommen würde«, sagte er leise. »Ich habe mir gedacht, daß du versuchen würdest, es auszunützen! Es paßt zu dir! Du wußtest, es war das letztemal damals, und du hättest es damit genug sein lassen sollen. Du warst bei mir, und weil es das letztemal war, war es so, wie es war, und es war gut, und es war ein Abschied, und wir waren voll voneinander, und wir würden es in unserer Erinnerung geblieben sein — du aber konntest nichts weiter tun, als es wie ein Händler ausnützen, es umdrehen in eine neue Forderung, um etwas Einmaligem, Fliegendem eine kriechende Fortsetzung zu machen! Und da ich nicht wollte, greifst du jetzt zu diesem ekelhaften Trick hier, und man muß widerkauen, worüber Sprechen allein schon eine Schamlosigkeit ist.«

»Ich...«

»Du wußtest es«, unterbrach er sie. »Lüg nicht wieder. Ich will nicht wiederholen, was du gesagt hast. Ich kann so etwas noch nicht! Wir beide wußten es. Du wolltest nie wiederkommen.«

»Ich bin nicht wiedergekommen!«

Ravic starrte sie an. Er beherrschte sich mühsam. »Gut. Dann hast du telefoniert.«

»Ich habe telefoniert, weil ich Angst hatte!«

»O Gott«, sagte Ravic. »Dies ist zu idiotisch! Ich gebe auf!«

Sie lächelte langsam. »Ich auch, Ravic. Siehst du nicht, daß ich nur will, daß du hierbleibst?«

»Das ist genau, was ich nicht will.«

»Warum?« Sie lächelte immer noch.

Ravic kam sich ziemlich geschlagen vor. Sie weigerte sich einfach, ihn zu verstehen, und wenn er anfangen würde, es zu erklären, würde er weiß wo enden. »Es ist eine verfluchte Korruption«, sagte er schließlich. »Du kannst das nicht verstehen.«

»Doch«, erwiderte sie langsam. »Vielleicht. Aber warum ist es anders als vor einer Woche?«

»Da war es dasselbe.«

Sie schwieg und sah ihn an. »Ich kümmere mich nicht um Namen«, sagte sie dann. Er antwortete nicht. Er spürte, wie überlegen sie war. »Ravic«, sagte sie und kam näher. »Ja, ich habe gesagt, damals, es sei zu Ende. Ich habe gesagt, du würdest nie wieder etwas von mir hören. Ich habe es gesagt, weil du es wolltest. Daß ich es trotzdem nicht tue — verstehst du das nicht?« Sie sah ihn an.

»Nein«, erwiderte er grob. »Alles, was ich verstehe, ist, daß du mit zwei Männern schlafen willst.«

Sie rührte sich nicht. »Es ist nicht so«, sagte sie dann. »Aber selbst, wenn es so wäre, was geht es dich an?« Er starrte sie an. — »Was geht es dich wirklich an?« wiederholte sie. »Ich liebe dich. Ist das nicht genug?«

»Nein.« — »Du brauchst nicht eifersüchtig zu sein. Du nicht. Du warst es auch nie...«

»So?«

»Nein. Du weißt überhaupt nicht, was es ist.«

»Natürlich nicht. Weil ich keine Theateraufführungen veranstaltet habe, wie dein Knabe da...«

Sie lächelte. »Ravic«, sagte sie. »Eifersucht beginnt mit der Luft, die der andere atmet.«

Er antwortete nicht. Sie stand vor ihm und sah ihn an. Sie sah ihn an und schwieg. Die Luft, der schmale Korridor, das halbe Licht — alles war plötzlich voll von ihr. Voll von einem Warten, einem atemlosen, sanften Ziehen, wie die Erde, wenn man sich über die Brüstung eines Turms schwindelnd beugt. Ravic fühlte es. Er wollte nicht gefangen werden. Er dachte jetzt nicht mehr daran, zu gehen. Wenn er ginge, würde ihn dieses hier verfolgen. Und er wollte nicht verfolgt werden. Er wollte ein klares Ende machen. Er brauchte Klarheit morgen.

»Hast du einen Schnaps da?« fragte er.

»Ja. Was willst du? Calvados?«

»Kognak, wenn du ihn hast. Oder meinetwegen auch Calvados. Ganz gleich.«

Sie ging zu dem kleinen Schrank. Er blickte hinter ihr her. Die helle Luft, die unsichtbare Strahlung der Lockung, das: hier laßt uns Hütten bauen, die alte, ewige Gaukelei — als wenn Friede jemals länger als für eine Nacht aus dem Blute kommen konnte!

Eifersucht. Er wußte nichts davon? Aber wußte er nicht etwas von der Unvollkommenheit der Liebe? War das nicht älterer Schmerz, unstillbarer als das bißchen persönliche Elend: Eifersucht? Begann es nicht schon damit, daß man wußte, daß einer zuerst sterben würde?

Joan brachte keinen Calvados. Sie brachte eine Flasche Kognak. Gut, dachte er. Manchmal begriff sie etwas. Er schob die Fotografie beiseite, um sein Glas hinzustellen. Dann nahm er sie wieder auf. Es war das einfachste, um die Wirkung zu brechen — den Nachfolger zu betrachten. »Sonderbar, wie schlecht mein Gedächtnis ist«, sagte er. »Ich dachte, dein Knabe sähe ganz anders aus.«

Sie setzte die Flasche nieder. »Das ist er doch gar nicht.«

»Ach so — schon jemand anders.«

»Ja — deshalb war doch das Ganze.«

Ravic trank einen großen Schluck Kognak. »Du solltest wissen, daß man keine Fotografien von Männern herumstehen hat, wenn der frühere Liebhaber kommt. Man hat überhaupt keine Fotografien herumstehen. Es ist geschmacklos.«

»Sie stand nicht herum. Er hat sie gefunden. Er hat herumgesucht. Und Fotografien hat man. Du verstehst das nicht. Eine Frau versteht das. Ich wollte nicht, daß er sie sah.«

»Dafür hast du jetzt Krach. Bist du abhängig von ihm?«

»Nein. Ich habe meinen Kontrakt. Für zwei Jahre.«

»Hat er ihn dir besorgt?«

»Warum nicht?« Sie war ehrlich erstaunt. »Ist etwas dabei?«

»Nein. Aber es gibt Menschen, die so etwas verbittert.«

Sie hob die Schultern. Er sah es. Eine Erinnerung. Eine Nostalgie. Schultern, die einmal neben einem atmend sich hoben, leise, regelmäßig im Schlaf. Eine flüchtige Wolke beglänzter Vögel am rötlichen Nachthimmel? Weit? Wie weit vorbei? Rede, unsichtbarer Buchhalter! Ist es nur begraben oder sind es wirklich letzte, flüchtige Reflexe? Aber wer wußte das?

Die Fenster standen weit offen. Etwas flog herein, taumelnd, ein dunkler Fetzen, unsicher flatternd, sich haltend am Schirm der Lampe, Flügel aufschlagend, sich breitend — und gleich darauf eine Vision aus Purpur, Blau und allem Braun —, ein Orden der Nacht, an dem seidenen Schirm hängend, hereingeweht — ein buntes Nachtpfauenauge. Die Samtflügel atmeten leise — leise, wie die Brust gegenüber unter dem dünnen Stoff des Kleides — wann war das doch schon einmal so gewesen, endlose Zeiten, hundert Jahre vorbei?

Das Louvre. Die Nike. Nein, viel früher. Zurück zu einer Urdämmerung aus Staub und Gold. Rauch von Topaz-Altären; lauter das Rumoren von Vulkanen, dunkler der Vorhang aus Verschattung und Brunst und Blut, kleiner das Boot der Erkenntnis, kochender der Strudel, glänzender die Lava, schwarzfingrig die Hänge hinabkriechend, Leben verschüttend, fressend — und darüber das ewige Lächeln der Meduse auf die paar flüchtigen Hieroglyphen im Sande der Zeit: Geist.

Der Falter hob sich, glitt unter die Seide und begann, sich die Flügel an der heißen elektrischen Birne zu zerschlagen. Violetter Puder. Ravic nahm ihn, trug ihn zum Fenster und warf ihn in die Nacht.

»Er wird wiederkommen«, sagte Joan.

»Vielleicht auch nicht.«

»Sie kommen jede Nacht. Sie kommen aus den Anlagen. Immer dieselben. Vor ein paar Wochen waren es zitronengelbe. Jetzt sind es diese.«

»Ja. Immer dieselben. Und immer andere. Und immer andere und immer dieselben.«

Was redete er da. Etwas hinter ihm redete. Eine Resonanz, ein Echo, hallend von weit her, hinter einer letzten Hoffnung. Was hatte er gehofft? Was schlug ihn plötzlich in dieser schwachen Stunde, was schnitt wie ein Skalpell irgendwo durch, wo er längst gesunde Muskeln geglaubt hatte? War versteckt, verlarvt, verpuppt, winterschlafend immer noch — eine Erwartung, lebendig geblieben, die er hatte täuschen wollen? Er nahm das Foto hoch, das auf dem Tisch lag. Ein Gesicht. Irgendein Gesicht. Eines von Millionen.

»Seit wann?« fragte er.

»Noch nicht lange. Wir arbeiten zusammen. Vor ein paar Tagen. Nachdem du bei Fouquet’s...«

Er hob die Hand. »Gut, gut! Ich weiß! Hätte ich an diesem Abend... du weißt, daß es nicht wahr ist.«

Sie zögerte. »Nein...«

»Du weißt es! Lüge nicht! Nichts, was wichtig ist, hat einen so kurzen Atem.«

Was wollte er hören? Wozu sagte er das? Wollte er nicht doch noch eine barmherzige Lüge hören? »Es ist wahr und es ist nicht wahr«, sagte sie. »Ich kann mir nicht helfen, Ravic. Es treibt mich. Es ist, als versäumte ich etwas. Ich greife es, ich muß es haben, und damit ist es nichts. Und ich greife nach etwas Neuem. Ich weiß im voraus, daß es enden wird, wie das andere, aber ich kann es nicht lassen. Es treibt mich, es wirft mich irgendwohin, es füllt mich eine Zeitlang, und es läßt mich los und macht mich wieder leer, wie Hunger, und dann kommt es wieder.«

Verloren, dachte Ravic.Wirklich und jetzt ganz verloren. Kein Irrtum mehr, kein Verstricktsein, kein Erwachen, kein Zurückkommen. Es war gut, es zu wissen, wenn die Dämpfe der Phantasie wieder beginnen würden, die Linsen der Erkenntnis zu trüben.

Die sanfte, unerbittliche, trostlose Chemie! Blut, das einmal ineinander gestürzt war, konnte es nie gleich stark wieder. Was Joan immer noch hielt und ab und zu zurücktrieb zu ihm, war ein Rest in ihm, den sie noch nicht durchdrungen hatte. Wenn sie ihn durchdrungen haben würde, würde sie gehen für immer. Wer wollte darauf warten? Wer damit zufrieden sein? Wer sich aufgeben dafür?

»Ich wollte, ich wäre so stark wie du, Ravic.«

Er lachte. Das auch noch. »Du bist viel stärker als ich.«

»Nein. Du siehst ja, wie ich hinter dir herlaufe.«

»Das zeigt es gerade. Du kannst dir das erlauben. Ich nicht.« Sie sah ihn einen Moment aufmerksam an. Dann erlosch die Helligkeit, die ihr Gesicht überflogen hatte.

»Du kannst nicht lieben«, sagte sie. »Du gibst dich nie her.«

»Du immer. Deshalb wirst du auch immer gerettet.«

»Kannst du nicht ernsthaft mit mir reden?«

»Ich rede ernsthaft mit dir.«

»Wenn ich immer gerettet werde, warum komme ich dann nicht von dir los?«

»Du kommst ganz gut von mir los.«

»Laß das! Du weißt, das hat nichts damit zu tun. Wenn ich von dir loskommen würde, liefe ich nicht hinter dir her. Andere habe ich vergessen. Dich nicht. Weshalb?«

Ravic nahm einen Schluck. »Vielleicht, weil du mich nicht ganz unter die Füße gekriegt hast.«

Sie stutzte. Dann schüttelte sie den Kopf. »Ich habe nicht alle unter die Füße gekriegt, wie du das nennst. Manche überhaupt nicht. Und ich habe sie vergessen. Ich war unglücklich, aber ich habe sie vergessen.«

»Du wirst mich auch vergessen.«

»Nein. Du machst mich unruhig. Nein, nie.«

»Man glaubt gar nicht, wieviel man vergessen kann«, sagte Ravic. »Das ist ein großer Segen und ein verdammtes Elend.«

»Du hast mir immer noch nicht gesagt, weshalb das so ist mit uns.«

»Das können wir beide uns nicht erklären. Wir können reden, solange wir wollen. Es würde nur immer konfuser. Es gibt Dinge, die man nicht erklären kann. Und andere, die man nicht versteht. Gesegnet sei das bißchen Dschungel in uns. Ich gehe jetzt.«

Sie stand rasch auf. »Du kannst mich nicht allein lassen.«

»Willst du mit mir schlafen?« Sie sah ihn an und sagte nichts. »Ich hoffe nicht«, sagte er.

»Wozu fragst du das?«

»Um mich zu erheitern. Geh schlafen. Es ist schon hell draußen. Keine Zeit für Tragödien.«

»Du willst nicht bleiben?«

»Nein. Und ich werde nie wiederkommen.«

Sie stand sehr still. »Nie?«

»Nie. Und du wirst nie wieder zu mir kommen.«

Sie schüttelte langsam den Kopf. Dann deutete sie auf den Tisch. »Deswegen?«

»Nein.«

»Ich verstehe dich nicht. Wir können doch...«

»Nein«, sagte er rasch. »Nicht das noch. Die Formel von der Freundschaft. Der kleine Gemüsegarten auf der Lava erloschener Gefühle. Nein, wir können das nicht. Wir nicht. Man mag das können bei kleinen Affären. Und dann ist es auch schmierig. Liebe soll man nicht durch Freundschaft besudeln. Ein Ende ist ein Ende.«

»Aber warum gerade jetzt?«

»Du hast recht. Es hätte früher sein sollen. Als ich zurückkam aus der Schweiz. Aber niemand ist allwissend. Und manchmal will man auch nicht alles wissen. Es war...«, er brach ab.

»Was war es?« Sie stand vor ihm, als verstände sie etwas nicht und müsse es dringend wissen. Sie war blaß, und ihre Augen waren durchsichtig. »Was war das nur mit uns, Ravic?« flüsterte sie.

Der Korridor hinter ihrem Haar, halb erleuchtet, schwankend im Licht, als führe er weit in einen Schacht, in dem Versprechen dämmerte, betaut von vielen Generationen, betaut von immer neuen Hoffnungen. »Liebe...«, sagte er.

»Liebe?«

»Liebe. Und deshalb ist dieses das Ende.«

Er schloß die Tür hinter sich. Der Aufzug. Er drückte den Knopf. Aber er wartete nicht, bis der Lift heraufkroch. Er fürchtete, Joan würde ihm nachkommen. Er ging rasch die Treppen hinunter. Er wunderte sich, die Tür nicht zu hören. Auf dem zweiten Absatz blieb er stehen und horchte. Nichts regte sich. Niemand kam.

Das Taxi stand noch vor dem Haus. Er hatte es vergessen gehabt. Der Fahrer tippte an seine Mütze und grinste vertraulich. »Wieviel?« fragte Ravic. — »Siebzehnfünfzig.«

Ravic zahlte. »Wollen Sie nicht zurückfahren?« fragte der Chauff eur erstaunt.

»Nein. Ich will gehen.«

»Ziemlich weit, mein Herr.«

»Ich weiß.«

»Da hätten Sie mich doch nicht warten zu lassen brauchen. Kostet Sie elf Frank für nichts.«

»Macht nichts.«

Der Fahrer versuchte einen Zigarettenstummel, der ihm braun und feucht an der Oberlippe klebte, anzuzünden. »Na, hoffentlich war’s das wert.«

»Mehr!« sagte Ravic.

Die Anlagen standen in der kalten Morgenhelle. Die Luft war schon warm, aber das Licht war kalt. Büsche von Flieder, grau überstaubt. Bänke. Auf einer schlief ein Mann, das Gesicht mit einer Nummer des »Paris Soir« zugedeckt. Es war dieselbe Bank, auf der Ravic in der Regennacht gesessen hatte.

Er sah den Schlafenden an. Der »Paris Soir« hob sich atmend über dem verdeckten Gesicht, als habe das Schundblatt eine Seele oder sei ein Schmetterling, der gleich, mit großen Nachrichten, zum Himmel fliegen wolle. Sacht atmete die fette Überschrift: Hitler erklärt, außer dem polnischen Korridor keine territorialen Wünsche mehr zu haben. Und darunter: Plätterin erschlägt Mann mit heißem Bügeleisen. Eine vollbusige Frau im Sonntagskleid starrte aus einer Fotogravüre. Neben ihr wogte eine zweite Fotografie: Chamberlain erklärt den Frieden immer noch für möglich, mit einer Art Bankclerk mit Regenschirm und einem Gesicht wie ein glückliches Schaf. Unter seinen Füßen, in kleiner Schrift: Hunderte von Juden an der Grenze erschlagen.

Der Mann, der mit all diesem sich vor dem Nachttau und dem frühen Licht geschützt hatte, schlief tief und ruhig.

Er trug alte, brüchige Segeltuchschuhe, eine braunwollene Hose und ein ziemlich zerrissenes Jackett. Ihn ging all dies nichts an. Er war so weit unten, daß ihn nichts mehr anging — so wie ein Tiefseefisch nichts spürt von den Stürmen der Ozeane.

Ravic ging ins »International« zurück. Er war klar und frei. Er ließ nichts zurück. Er konnte es auch nicht gebrauchen. Er konnte nichts mehr brauchen, das ihn noch verwirrte. Er wollte heute in das »Prince de Galles« ziehen. Zwei Tage zu früh. Aber es war besser, zu früh als zu spät auf Haake zu warten.