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Die Halle im »Prince de Galles« war leer, als Ravic herunterkam. Ein tragbares Radio spielte leise am Rezeptionstisch. In den Ecken wirtschafteten ein paar Scheuerfrauen. Ravic ging rasch und unauffällig durch. Er sah auf die Uhr gegenüber der Tür. Es war fünf Uhr morgens.
Er ging die Avenue George V hinauf und hinüber zu Fouquet’s. Niemand saß da. Das Restaurant war längst geschlossen. Er blieb einen Augenblick stehen. Dann hielt er ein Taxi an und fuhr zur Scheherazade.
Morosow stand vor der Tür und sah ihm entgegen. »Nichts«, sagte Ravic.
»Das dachte ich mir. War ja auch heute nicht zu erwarten.«
»Doch heute schon. Heute ist es vierzehn Tage her.«
»Man soll nicht mit einem Tag rechnen. Warst du die ganze Zeit im ›Prince de Galles‹?«
»Ja, von morgens bis jetzt.«
»Er wird morgen anrufen«, sagte Morosow. »Kann heute was zu tun gehabt haben oder einen Tag später abgereist sein.«
»Morgen vormittag muß ich operieren.«
»So früh wird er nicht anrufen.«
Ravic erwiderte nichts. Er sah auf ein Taxi, aus dem ein Gigolo im weißen Smoking stieg. Eine blasse Frau mit großen Zähnen folgte ihm. Morosow öffnete ihnen die Tür. Die Straße roch plötzlich nach Chanel Cinque. Die Frau hinkte leicht. Der Gigolo ging faul hinter ihr her, nachdem er das Taxi bezahlt hatte. Die Frau wartete auf ihn an der Tür. Ihre Augen waren grün im Licht der Lampen. Die Pupillen waren sehr klein zusammengezogen.
»Um diese Zeit ruft er bestimmt nicht an«, sagte Morosow, als er zurückkam.
Ravic antwortete nicht. »Wenn du mir den Schlüssel gibst, kann ich um acht ’raufgehen«, erklärte Morosow. »Ich kann dann warten, bis du zurückkommst.«
»Du mußt schlafen.«
»Unsinn. Ich kann auf deinem Bett schlafen, wenn ich will. Es wird keiner anrufen, aber ich kann es tun, wenn es dich beruhigt.«
»Ich habe bis elf zu operieren.«
»Gut. Gib mir den Schlüssel. Ich möchte nicht, daß du vor Aufregung einer Dame des Faubourg St. Germain die Eierstöcke an den Magen nähst. Sie würde dann nach neun Monaten ein Kind kotzen. Hast du den Schlüssel?«
»Ja. Hier.«
Morosow steckte den Zimmerschlüssel ein. Dann zog er eine Büchse mit Pfefferminzpastillen hervor und bot sie Ravic an. Ravic schüttelte den Kopf. Morosow nahm ein paar heraus und warf sie sich in den Mund. Sie verschwanden in seinem Bart, wie kleine weiße Vögel in einem Wald. »Erfrischt«, erklärte er, »Hast du schon einmal einen ganzen Tag in einer Plüschbude gesessen und gewartet?« fragte Ravic.
»Länger? Du nicht auch?«
»Ja. Aber nicht auf das.«
»Hast du dir nichts zu lesen mitgenommen?«
»Genug. Aber ich habe nichts gelesen. Wie lange hast du hier zu tun?«
Morosow öffnete die Tür eines Taxis. Es war voll von Amerikanern. Er ließ sie ein. »Mindestens noch zwei Stunden«, sagte er, als er zurückkam. »Du siehst ja, was los ist. Der verrückteste Sommer seit Jahren. Joan ist auch drin.«
»So.«
»Ja. Mit einem andern, wenn dich das interessiert.«
»Nein«, sagte Ravic. Er wandte sich zum Gehen. »Ich sehe dich dann morgen.«
»Ravic«, rief Morosow hinter ihm her.
Ravic kam zurück. Morosow zog den Schlüssel hervor. »Hier! Du mußt doch in dein Zimmer im ›Prince de Gal-les‹ ’rein. Ich sehe dich ja nicht vor morgen. Laß die Tür offen, wenn du weggehst.«
»Ich schlafe nicht im ›Prince de Galles‹.« Ravic nahm den Schlüssel. »Ich schlafe im ›International‹. Richtiger, wenn man mein Gesicht drüben so wenig wie möglich sieht.«
»Du solltest doch da schlafen. Man wohnt nicht in Hotels, in denen man nicht schläft. Besser, falls die Polizei bei der Rezeption herumfragen sollte.«
»Das schon, aber es ist auch besser, falls sie herumfragen sollte, daß ich nachweisen kann, die ganze Zeit im »International gewohnt zu haben. Ich habe im ›Prince de Galles‹ alles arrangiert. Das Bett zerwühlt, Waschtisch, Handtücher, Bad und das andere so benützt, daß es aussieht, als ob ich früh weggegangen wäre.«
»Schön. Dann gib mir den Schlüssel wieder.«
Ravic schüttelte den Kopf. »Besser, wenn man dich nicht auch noch da sieht.«
»Es macht nichts.«
»Doch Boris. Wir wollen keine Idioten sein. Dein Bart ist nicht alltäglich. Außerdem hast du recht; ich muß so tun und leben, als wenn nichts Besonderes los wäre. Wenn Haake wirklich morgen früh anruft, wird er nachmittags auch wieder anrufen. Wenn ich damit nicht rechne, bin ich ein nervöses Wrack in einem Tage.«
»Wohin gehst du jetzt?«
»Schlafen. Nicht zu erwarten, daß er um diese Zeit noch anruft .«
»Ich kann dich später irgendwo treffen, wenn du willst.«
»Nein, Boris. Ich werde hoffentlich schon schlafen, wenn du hier frei wirst. Muß um acht operieren.«
Morosow sah ihn ungläubig an. »Gut. Ich komme dann morgen nachmittag bei dir im ›Prince de Galles‹ vorbei. Wenn vorher was ist, rufe mich im Hotel an.«
»Ja.«
Die Straßen. Die Stadt. Der rötliche Himmel. Verflackerndes Rot und Weiß und Blau die Häuser hinunter. Wind, die Ecken der Bistros umspielend wie eine zärtliche Katze. Menschen, Luft, nach einem Tag, verwartet in einem stickigen Hotelzimmer. Ravic ging die Avenue hinter der Scheherazade entlang. Die eisenumgitterten Bäume atmeten zögernd eine Erinnerung an Grün und Wald in die bleierne Nacht. Er fühlte sich plötzlich zum Umfallen leer und erschöpft. Wenn ich es ließe, dachte etwas in ihm, wenn ich es ganz ließe, es vergäße, es abstreifte wie eine Schlange eine längst überjährige Haut! Was geht es mich noch an, dieses Melodrama aus einer fast vergessenen Vergangenheit? Was geht mich selbst dieser Mensch noch an, dieses kleine, zufällige Instrument, dieses belanglose Werkzeug in einem Stück finsteren Mittelalters, einer Sonnenfinsternis in Mitteleuropa?
Was ging es ihn noch an? Eine Hure versuchte, ihn in einen Torgang zu locken. Sie öffnete im Dunkel der Tür ihr Kleid. Es war so gemacht, daß es, wenn sie einen Gürtel öffnete, auseinanderfiel wie ein Schlafrock. Das bleiche Fleisch schimmerte undeutlich. Schwarze, lange Strümpfe, ein schwarzer Schoß, schwarze Augenhöhlen, in deren Schatten man die Augen nicht mehr sah; mürbes, zerfallendes Fleisch, das schon zu phosphoreszieren schien.
Ein Zuhälter, eine Zigarette an der Oberlippe klebend, lehnte an einem Baum und starrte ihn an. Ein paar Gemüsewagen kamen vorbei. Pferde, nickend, schwere, ziehende Muskeln unter dem Fell. Der würzige Geruch von Kräutern, von Blumenkohlköpfen, die aussahen wie versteinerte Gehirne in grünen Blättern. Das Rot der Tomaten, die Körbe mit Bohnen, Zwiebeln, Kirschen und Sellerie.
Was ging es ihn noch an? Einer mehr oder weniger. Einer mehr oder weniger von Hunderttausenden, die ebenso schlimm waren oder noch schlimmer. Einer weniger. Er blieb mit einem Ruck stehen. Das war es! Er war auf einmal ganz wach. Das war es! Das hatte sie groß werden lassen, daß man müde wurde, daß man vergessen wollte, daß man dachte: was geht es mich noch an? Das war es! Einer weniger! Ja, einer weniger — das war nichts, aber es war auch alles! Alles! Er zog langsam eine Zigarette aus der Tasche und zündete sie langsam an. Und plötzlich, während das gelbe Licht des Streichholzes die Innenfläche seiner Hände beleuchtete, wie eine Höhle mit Schluchten von Linien darin, wußte er, daß ihn nichts abhalten konnte, Haake zu töten. In einer sonderbaren Weise kam alles darauf an. Es war auf einmal weit mehr als eine persönliche Rache. Es war so, daß, wenn er es nicht tat, er sich eines unendlichen Verbrechens schuldig machte — daß irgend etwas in der Welt verloren war für immer, wenn er nicht handelte. Er wußte gleichzeitig genau, daß es nicht so war — aber trotzdem weit jenseits von Erklärung und Logik stand das finstere Wissen in seinem Blut, daß er es tun müsse —, als würden unsichtbare Wellen davon auslaufen und weit Größeres später geschehen. Er wußte, Haake war ein kleiner Beamter des Schreckens, und er bedeutet nicht viel — aber er wußte plötzlich auch, daß es unendlich wichtig war, ihn zu töten.
Das Licht in der Höhle seiner Hand erlosch. Er warf das Streichholz weg. Die Dämmerung hing in den Bäumen. Ein Silbergespinst, gehalten vom Pizzikato der erwachenden Spatzen. Er sah sich verwundert um. Etwas in ihm war geschehen. Ein unsichtbares Gericht war abgehalten worden und ein Urteil gesprochen. Er sah überaus klar die Bäume, die gelbe Mauer eines Hauses, die graue Farbe eines Eisengitters neben sich, die Straße im blauen Dunst — er hatte das Gefühl, daß er sie nie vergessen werde. Und er wußte erst in diesem Augenblick wirklich, daß er Haake töten werde und daß es nicht mehr seine eigene kleine Angelegenheit war, sondern weit mehr. Ein Anfang.
Er kam am Eingang der »Osiris« vorbei. Ein paar Betrunkene taumelten heraus. Ihre Augen waren glasig; die Gesichter rot. Es war kein Taxi da. Sie schimpften eine Weile und gingen dann weiter, schwer, kräftig und laut. Sie sprachen deutsch.
Ravic hatte zum Hotel gehen wollen. Er änderte jetzt seine Absicht. Ihm fiel ein, daß Rolande ihm gesagt hatte, daß seit einigen Monaten oft deutsche Touristen in der »Osiris« wären. Er trat ein.
Rolande stand an der Bar, kühl beobachtend, in ihrem schwarzen Gouvernantenkleid. Das Orchestrion tobte hallend gegen die ägyptischen Wände. »Rolande«, sagte Ravic.
Sie drehte sich um. »Ravic! Du warst lange nicht hier. Gut, daß du kommst.«
»Warum?«
Er stand neben ihr an der Bar und überblickte das Lokal. Es waren nicht mehr viel Klienten da. Sie hockten hier und da schläfrig an den Tischen.
»Ich mache Schluß hier«, sagte Rolande. »In einer Woche reise ich.«
»Für immer?«
Sie nickte und holte ein Telegramm aus ihrem Brustausschnitt. »Hier.«
Ravic öffnete es und gab es zurück. »Deine Tante? Ist sie endlich gestorben?«
»Ja, ich gehe zurück. Ich habe es Madame erklärt. Sie ist wütend, aber sie versteht es. Jeanette muß mich ersetzen. Sie muß noch eingearbeitet werden.« Rolande lachte. »Die arme Madame. Sie wollte dieses Jahr in Cannes glänzen. Ihre Villa ist schon voll von Gästen. Sie ist vor einem Jahr Gräfin geworden. Hat einen Pimp aus Toulouse geheiratet. Zahlt ihm fünftausend Frank im Monat, solange er Toulouse nicht verläßt. Jetzt muß sie hierbleiben.«
»Machst du dein Café auf?«
»Ja. Ich laufe schon den ganzen Tag herum, alles zu bestellen. In Paris kann man es billiger haben. Chintz für die Vorhänge. Was sagst du zu diesem Muster?«
Sie holte aus ihrem Brustausschnitt einen zerdrückten Fetzen Stoff hervor. Blumen auf gelbem Grund. »Wunderbar«, sagte Ravic.
»Ich bekomme es mit dreißig Prozent. Zurückgesetzt vom vorigen Jahr.« Rolandes Augen leuchteten warm und zärtlich. »Ich spare dreihundertsiebzig Frank dabei. Gut, wie?«
»Fabelhaft. Wirst du heiraten?«
»Ja.«
»Warum willst du heiraten? Warum wartest du nicht noch und erledigst vorher alles, was du willst?«
Rolande lachte. »Du verstehst das Geschäft nicht, Ravic. Ohne einen Mann geht das nicht. Der Mann gehört da hinein. Ich weiß schon, was ich tue.«
Sie stand da, fest, sicher, ruhig. Sie hatte alles überlegt. Der Mann gehörte ins Geschäft. »Überschreibe ihm nicht gleich dein Geld«, sagte Ravic. »Warte erst, wie alles geht.«
Sie lachte wieder. »Ich weiß schon, wie es gehen wird. Wir sind vernünftig. Wir brauchen uns im Geschäft. Ein Mann ist kein Mann, wenn seine Frau das Geld hat. Ich will keinen Pimp. Ich muß Respekt haben vor einem Mann. Das kann ich nicht, wenn er kommen muß, mich jeden Augenblick um Geld fragen. Siehst du das nicht ein?«
»Ja«, sagte Ravic, ohne es einzusehen.
»Gut.« Sie nickte zufrieden. »Willst du etwas trinken?«
»Nichts. Ich muß gehen. Ich kam nur so vorbei. Muß morgen früh arbeiten.«
Sie sah ihn an. »Du bist vollkommen nüchtern. Willst du ein Mädchen?«
»Nein.«
Rolande dirigierte zwei Mädchen mit einer leichten Handbewegung zu einem Mann hinüber, der auf einer Banquette saß und schlief. Die übrigen tobten herum. Nur noch wenige saßen auf den Hockern, die in zwei Reihen den Mittelgang entlangstanden. Die andern schlitterten auf den glatten Fliesen des Ganges wie Kinder im Winter auf Eis. Immer zwei zogen eine dritte, hockende, im Galopp den langen Gang hinab. Die offenen Haare flogen, die Brüste wippten, die Schultern schimmerten, das bißchen Seide verhüllte nichts mehr, die Mädchen schrien vor Vergnügen, und die »Osiris« war plötzlich eine arkadische Szene klassischer Unschuld.
»Sommer«, sagte Rolande. »Man muß ihnen ein bißchen Freiheit morgens gönnen.« Sie sah ihn an. »Am Donnerstag ist mein Abschiedsabend. Madame gibt ein Essen für mich. Kommst du?«
»Donnerstag?«
»Ja.«
Donnerstag, dachte Ravic. In sieben Tagen. Sieben Tage. Das sind sieben Jahre. Donnerstag — dann ist es längst geschehen. Donnerstag — wer konnte so weit denken? »Natürlich«, sagte er. »Wo?«
»Hier. Um sechs Uhr.«
»Gut. Ich werde da sein. Gute Nacht, Rolande.«
»Gute Nacht, Ravic.«
Es kam, als er den Retraktor einsetzte. Es kam rasch, bestürzend, heiß. Er zögerte einen Moment. Die offene, rote Höhle, der dünne Dampf der heißen, feuchten Tücher, mit denen die Därme hochgeschoben waren, das Blut, das neben den Klammern aus feinen Adern sickerte — er sah plötzlich Eugenie, die ihn fragend anblickte, er sah das Gesicht Vebers, groß, mit allen Poren und jedem Haar des Schnurrbarts unter dem metallischen Licht — und fing sich und arbeitete ruhig weiter.
Er nähte. Seine Hände nähten. Die Wunde schloß sich. Er fühlte, wie das Wasser unter seinen Armen rann. Es lief an seinem Körper herunter. »Wollen Sie fertignähen?« fragte er Veber.
»Ja. Ist was los?«
»Nein. Die Hitze. Nicht genug geschlafen.«
Veber sah Eugeniens Blick. »Kommt vor, Eugenie«, sagte er. »Selbst bei Gerechten.«
Der Raum schwankte einen Augenblick. Eine wilde Müdigkeit. Veber nähte weiter. Ravic half ihm automatisch. Seine Zunge war dick. Der Gaumen wie Watte. Er atmete sehr langsam. Mohn, dachte etwas in ihm. Mohn in Flandern. Offener, roter Bauch. Rot, offene Mohnblüte, schamloses Geheimnis, Leben, so dicht unter Händen mit Messern. Zucken, die Arme herab, magnetischer Kontakt, weit her von einem fernen Tod. Ich kann nicht mehr operieren, dachte er. Dieses muß erst vorbei sein.
Veber pinselte den geschlossenen Schnitt. »Fertig.«
Eugenie kurbelte die Beine der Operierten herunter. Leise rollte der Wagen hinaus. »Zigarette?« fragte Veber.
»Nein. Ich muß fort. Habe etwas zu erledigen. Ist noch was zu tun hier?«
»Nein.« Veber sah Ravic verwundert an. »Wozu haben Sie es so eilig? Wollen Sie nicht einen Vermouth-Soda oder sonst irgend etwas Kühles trinken?«
»Nichts. Ich muß los! Wußte nicht, daß es schon so spät war! Adieu, Veber.«
Er ging rasch hinaus. Taxi, dachte er draußen. Taxi, schnell. Er sah einen Citroën kommen und hielt ihn an. »Zum Hotel ›Prince de Galles‹! Rasch!«
Ich muß Veber sagen, daß er ein paar Tage ohne mich auskommen muß, dachte er. Es geht so nicht. Ich werde verrückt, wenn ich während der Operation plötzlich denke, daß Haake gerade jetzt anrufen könnte.
Er zahlte das Taxi und ging durch die Halle. Es schien endlos zu dauern, bis der Aufzug kam. Er ging den breiten Korridor hinab und schloß das Zimmer auf. Das Telefon. Er hob den Hörer ab, als sei er ein schweres Gewicht. »Hier ist von Horn. Hat jemand für mich angerufen?«
»Einen Augenblick, mein Herr.«
Ravic wartete.
Die Stimme der Telefonistin kam zurück. »Nein. Kein Anruf.«
»Danke.«
Morosow erschien nachmittags. »Hast du gegessen?« fragte er.
»Nein. Ich habe auf dich gewartet. Wir können zusammen hier essen.«
»Unsinn. Würde auffallen. Niemand ißt in Paris in seinem Zimmer, wenn er nicht krank ist. Geh essen. Ich bleibe hier. Um diese Zeit telefoniert niemand. Jeder ißt. Geheiligter Brauch. Sollte er trotzdem anrufen, bin ich dein Valet, nehme seine Nummer und sage, du wärest zurück in einer halben Stunde.«
Ravic zögerte. »Gut«, sagte er dann. »Ich werde in zwanzig Minuten zurück sein.«
»Laß dir Zeit. Du hast lange genug gewartet. Werde jetzt nicht nervös. Gehst du zu Fouquet’s?«
»Ja.«
»Laß dir von dem offenen 37er Vouvray geben. Habe ihn gerade gehabt. Erste Klasse.«
»Gut.«
Ravic fuhr hinunter. Er überquerte rasch die Straße und ging die Terrasse ab. Dann ging er durch das Restaurant. Haake war nicht da. Er setzte sich an einen leeren Tisch an der Avenue George V. und bestellte boeuf à la mode, Salat, Ziegenkäse und eine Karaffe Vouvray.
Er beobachtete sich, während er aß. Er zwang sich zu schmecken, daß der Wein leicht und etwas spritzig war. Er aß langsam, er schaute umher, er sah den Himmel wie eine blaue Seidenfahne über dem Arc de Triomphe hängen, er bestellte noch einen Kaffee, er spürte den bitteren Geschmack, er zündete sich langsam eine Zigarette an, er wollte sich nicht eilen, er saß noch eine Weile, er betrachtete die Menschen, die vorübergingen, dann stand er auf und ging zum »Prince de Galles« hinüber und hatte alles vergessen.
»Wie war der Vouvray?« fragte Morosow.
»Gut.«
Morosow holte ein Taschenschachspiel hervor. »Wollen wir eine Partie machen?« »Ja.«
Sie steckten die Figuren in die Löcher des Spiels. Morosow setzte sich in einen Sessel. Ravic saß auf dem Sofa. »Ich glaube nicht, daß ich hier länger als drei Tage bleiben kann ohne Paß«, sagte er.
»Hat die Rezeption schon danach gefragt?«
»Noch nicht. Manchmal verlangen sie Pässe mit Visa bei der Ankunft. Ich bin deshalb nachts eingezogen. Der Nachtknabe hat nicht viel gefragt. Ich habe ihm gesagt, ich brauche ein Zimmer für fünf Tage.«
»In den teuren Hotels nimmt man es nicht so genau.«
»Wenn sie kommen und meinen Paß verlangen, wird es schwierig.«
»Sie werden vorläufig nicht kommen. Ich habe mich erkundigt im George V. und im Ritz. Hast du dich als Amerikaner eingetragen?«
»Nein. Als Holländer von Utrecht. Stimmt nicht ganz mit dem deutschen Namen. Habe ihn deshalb zur Vorsicht etwas verändert.Van Horn, nicht von. Klingt gleich, wenn Haake anfragt.«
»Gut. Ich glaube, es wird trotzdem klappen. Du hast ja nicht eines der billigen Zimmer gemietet. Man wird sich nicht um dich kümmern.«
»Hoff entlich nicht.«
»Schade, daß du Horn als Namen angegeben hast. Ich weiß eine tadellose Carte d’Identité, noch ein Jahr gültig. Von einem Freund von mir, gestorben vor sieben Monaten. Wir haben ihn bei der Leichenschau als deutschen Refugié ohne Papiere angegeben. Haben so den Ausweis gültig erhalten und gerettet. Es macht ihm nichts aus, als Josef Weiß irgendwo begraben zu liegen. Hier aber haben schon zwei Emigranten mit seinen Papieren gelebt. Iwan Kluge. Kein russischer Name. Das Foto verwischt, Profil, ungestempelt, leicht auszutauschen.«
»Besser so, wie es jetzt ist«, sagte Ravic. »Wenn ich hier ausziehe, gibt es dann keinen Horn mehr und keine Papiere.«
»Es wäre sicherer gewesen für die Polizei. Aber sie wird nicht kommen. Sie kommt nicht in Hotels, wo man mehr als hundert Frank für ein Appartement bezahlt. Ich kenne einen Refugié, der im Ritz seit fünf Jahren ohne Papiere lebt. Der einzige, der es weiß, ist der Nachtportier. Hast du dir überlegt, was du machst, wenn die Brüder trotz alledem nach dir fragen sollten?«
»Natürlich. Mein Paß liegt auf der argentinischen Gesandtschaft für ein Visum. Werde versprechen, ihn am nächsten Tag zu besorgen. Lasse dann den Koffer hier stehen und komme nicht wieder. Ich habe Zeit für das. Die erste Anfrage wird vom Management kommen, nicht von der Polizei direkt. Ich rechne damit. Nur — dann ist es aus hier.«
»Es wird klappen.«
Sie spielten bis halb neun Uhr. »Geh jetzt Abendbrot essen«, sagte Morosow. »Ich warte hier noch. Dann muß ich los.«
»Ich werde später hier essen.«
»Unsinn. Geh jetzt und iß eine anständige Portion. Wenn der Knabe anruft, mußt du wahrscheinlich zuerst mit ihm trinken. Besser, du hast dann reichlich gegessen. Weißt du, wohin du mit ihm gehen willst?«
»Ja.«
»Ich meine, wenn er noch irgendwas sehen oder trinken will.«
»Ja. Ich weiß genug Plätze, wo sich keiner kümmert.«
»Geh jetzt essen. Trink nichts. Iß schwere, fette Sachen.«
»Schön.«
Ravic ging wieder zu Fouquet’s hinüber. Es war alles nicht wirklich, empfand er. Er las das in einem Buch, oder er sah das in einem melodramatischen Film, oder er träumte es. Er ging wieder zuerst beide Seiten von Fouquet’s ab. Die Terrassen waren gedrängt voll. Er kontrollierte jeden einzelnen Tisch. Haake war nirgends.
Er saß an einem kleinen Tisch, nahe der Tür, so daß er den Eingang und die Straße beobachten konnte. Neben ihm unterhielten sich zwei Frauen über Schiaparelli und Mainbocher. Ein Mann mit einem dünnen Bart saß bei ihnen und sagte nichts. Auf der andern Seite sprachen ein paar Franzosen über die Politik. Einer war für das Croix de feu, einer für die Kommunisten — die andern machten sich über beide lustig. Alle betrachteten zwischendurch zwei schöne, selbstsichere Amerikanerinnen, die Vermouth tranken.
Ravic beobachtete die Straße, während er trank. Er war nicht töricht genug, nicht an Zufälle zu glauben. Keine Zufälle gab es nur in guter Literatur — das Leben war täglich voll der albernsten. Er blieb eine halbe Stunde bei Fouquet’s. Es war leichter als mittags. Er ging noch einmal um die Seite an den Champs-Elysées und dann ins Hotel zurück.
»Hier ist der Schlüssel für deinen Wagen«, sagte Morosow. »Ich habe ihn umgetauscht. Es ist ein blauer Talbot jetzt, mit Ledersitzen. Der andere hatte Sitze aus Kord. Leder kann man leichter abwaschen. Es ist ein Kabriolett, du kannst es offen und geschlossen fahren. Laß aber immer die Fenster offen. Wenn du im geschlossenen Wagen schießen mußt, schieß so, daß das Fenster dahinter off en ist, damit die Kugel keine Spuren im Wagen hinterläßt. Ich habe den Talbot für zwei Wochen gemietet. Bringe ihn auf keinen Fall gleich in die Garage hinterher. Laß ihn in einer der Seitenstraßen stehen, die immer voll sind mit Wagen. Auslüften. Er steht jetzt in der Rue de Berri, gegenüber dem ›Lancaster‹.«
»Gut«, sagte Ravic. Er legte den Schlüssel neben das Telefon.
»Hier sind die Wagenpapiere. Einen Führerschein konnte ich nicht besorgen. Wollte nicht zu viele Leute fragen.«
»Ich brauche keinen. Bin in Antibes die ganze Zeit ohne einen gefahren.«
Ravic legte die Wagenpapiere zu den Schlüsseln. »Parke den Wagen heute nacht in einer andern Straße«, sagte Morosow.
Melodrama, dachte Ravic. Schlechtes Melodrama. »Ich werde es machen. Danke, Boris.«
»Ich wollte, ich könnte mit dir kommen.«
»Ich wollte nicht. So was macht man allein.«
»Ja. Aber nimm keine Chance und gib keine. Erledige ihn und fertig.
Ravic lächelte. »Das hast du mir schon ein dutzendmal gesagt.«
»Man kann es nicht oft genug sagen. Es ist verdammt, was für Blödsinn einem in kritischen Momenten in den Schädel kommt. War mit Wolkowski in Moskau 1915 so. Hatte plötzlich den Ehrenfimmel. Jägerfimmel. Nicht kaltblütig abschlachten und so. Wurde erschossen von einem Schwein. Hast du genug Zigaretten?«
»Hundert. Und ich kann hier für alles telefonieren.«
»Komm ’rüber und weck mich, wenn ich nicht mehr in der Scheherazade bin.«
»Ich komme auf jeden Fall. Ganz gleich, ob nun etwas passiert.«
»Gut. Servus, Ravic.«
»Servus, Boris.«
Ravic schloß die Tür hinter Morosow. Das Zimmer war plötzlich sehr still. Er setzte sich in die Ecke des Sofas. Er sah auf die Tapeten. Sie waren aus blauem Stoff, mit Leisten eingefaßt. Er kannte sie besser in zwei Tagen als andere, in denen er viele Jahre gelebt hatte. Er kannte die Spiegel, er kannte den grauen Velour des Fußbodens mit dem dunklen Fleck am Fenster, er kannte jede Linie des Tisches, des Bettes, die Bezüge der Sessel — er kannte alles zum Erbrechen genau —, nur das Telefon kannte er nicht.