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Der Talbot stand in der Rue de Bassano zwischen einem Renault und einem Mercedes-Benz. Der Mercedes war neu und hatte ein italienisches Nummernschild. Ravic manövrierte den Talbot heraus. Er war so ungeduldig, daß er nicht genau aufpaßte; die hintere Stoßstange des Talbots streifte den linken Kotflügel des Mercedes und hinterließ einen Kratzer. Er kümmerte sich nicht darum. Rasch fuhr er den Wagen zum Boulevard Haussmann hinunter.
Er fuhr sehr schnell. Es war gut, den Wagen in der Hand zu haben. Es war gut gegen die finstere Enttäuschung, die ihm wie Zement im Magen saß.
Es war vier Uhr morgens. Er hätte länger warten sollen. Aber plötzlich war ihm alles sinnlos erschienen. Haake hatte wahrscheinlich längst die kleine Episode vergessen. Vielleicht war er überhaupt nicht wieder nach Paris gekommen. Die hatten drüben jetzt andere Sachen zu tun.
Morosow stand vor der Tür der Scheherazade. Ravic parkte den Wagen um die nächste Ecke und ging zurück. Morosow sah ihm entgegen. »Hast du meinen Anruf bekommen?«
»Nein. Warum?«
»Ich habe vor fünf Minuten angerufen. Da sitzt eine Gruppe von Deutschen bei uns. Einer sieht aus wie...«
»Wo?«
»Neben dem Orchester. Der einzige Tisch mit vier Männern. Du kannst ihn von der Tür aus sehen.«
»Gut.«
»Nimm den kleinen Tisch neben dem Eingang. Ich habe ihn freihalten lassen.« — »Gut, gut, Boris.«
Ravic blieb in der Tür stehen. Der Raum war dunkel. Das Scheinwerferlicht lag voll auf der Tanzfläche. Eine Sängerin stand dort in einem silbernen Kleid. Der schmale Lichtkegel war so stark, daß man nichts außerhalb erkennen konnte. Ravic starrte zu dem Tisch neben dem Orchester hinüber. Er konnte ihn nicht sehen. Das weiße Flirren schloß ihn ab.
Er setzte sich an den Tisch neben der Tür. Ein Kellner brachte eine Karaffe Wodka. Das Orchester schien zu schleppen. Der süßliche Melodiennebel kroch und kroch, schneckenhaft langsam. J’attendrai — j’attendrai.
Die Sängerin verneigte sich. Applaus flatterte auf. Ravic beugte sich vor. Er wartete auf das Erlöschen des Scheinwerfers. Die Sängerin wandte sich zum Orchester. Der Zigeuner nickte und setzte die Geige an. Das Cymbal warf ein paar gedämpfte Läufe hoch. Das zweite Lied. La chapelle au clair de la lune. Ravic schloß die Augen. Das Warten war fast unerträglich.
Er saß wieder aufrecht, lange, bevor das Lied zu Ende war. Der Scheinwerfer erlosch. Die Lichter an den Tischen glühten auf. Er konnte im ersten Moment nichts anderes sehen als undeutliche Umrisse. Er hatte zu lange in den Scheinwerfer gestarrt. Er schloß noch einmal die Augen und sah auf. Er fand den Tisch sofort.
Langsam lehnte er sich zurück. Keiner der Männer war Haake. Er blieb lange so sitzen. Er war plötzlich entsetzlich müde. Müde hinter den Augen. Es trieb in stoßweisen, ungleichen Wellen heran. Die Musik, das Auf und Ab der Stimmen, der gedämpfte Lärm benebelten ihn nach der Stille des Hotelzimmers und der neuen Enttäuschung. Es war wie ein Schlafkaleidoskop, eine sachte Hypnose, die die roh gedachten, verwarteten Gehirnzellen einhüllte.
Irgendwann, in dem matten Lichtpunkt, in dem die Tanzenden trieben, sah er Joan. Das geöffnete, durstige Gesicht war zurückgebeugt, der Kopf nahe der Schulter eines Mannes. Er empfand nichts dabei. Niemand konnte ihm fremder werden als ein Mensch, den man einmal geliebt hatte, dachte er müde. Wenn die rätselhafte Nabelschnur zwischen Phantasie und Objekt gerissen war, konnte es vielleicht noch wetterleuchten von einem zum andern, fluoreszieren, wie von geisterhaften Sternen; aber es war ein totes Licht. Es erregte, aber es zündete nicht mehr — nichts floß mehr herüber und hinüber. Er legte den Kopf zurück gegen die Rücklehne der Banquette. Das bißchen Vertrautheit über Abgründen. Die Dunkelheit der Geschlechter mit all ihren süßen Namen. Sternblumen über einem Meer, in dem man versank, wenn man sie pflücken wollte.
Er richtete sich auf. Er mußte hier heraus, bevor er einschlief. Er winkte dem Kellner. »Zahlen.«
»Da ist nichts zu zahlen«, sagte der Kellner.
»Wieso?«
»Sie haben nichts getrunken.«
»Ach so, richtig.«
Er gab dem Mann ein Trinkgeld und ging.
»Nein?« fragte Morosow draußen.
»Nein«, erwiderte Ravic.
Morosow sah ihn an. »Ich gebe auf«, sagte Ravic. »Es ist ein verdammtes, lächerliches Indianerspiel. Fünf Tage warte ich jetzt schon. Haake hat mir gesagt, daß er immer nur zwei, drei Tage in Paris bleibt. Danach muß er jetzt schon wieder weg sein. Wenn er überhaupt hier war.«
»Geh schlafen«, sagte Morosow.
»Ich kann nicht schlafen. Ich fahre jetzt zurück zum ›Prince de Galles‹, hole meine Koffer und gebe die Bude auf.«
»Gut«, sagte Morosow. »Ich treffe dich dann morgen mittag da.« »Wo?« »Im ›Prince de Galles‹.« Ravic sah ihn an. »Ja, natürlich. Ich rede Unsinn. Oder nicht. Vielleicht auch nicht.« »Warte noch bis morgen abend.« »Gut. Ich will sehen. Gute Nacht, Boris.« »Gute Nacht, Ravic.«
Ravic fuhr an der »Osiris« vorbei. Er parkte den Wagen um die Ecke. Ihm graute davor, in sein Zimmer im »International« zu gehen. Vielleicht konnte er hier ein paar Stunden schlafen. Es war Montag. Ein ruhiger Tag für Bordelle. Der Portier war nicht draußen. Wahrscheinlich kaum jemand da.
Rolande stand in der Nähe der Tür und überblickte den großen Raum. Die Musikorgel lärmte durch den fast leeren Raum. »Nicht viel los heute, wie?« fragte Ravic.
»Nichts. Nur noch dieser Langweiler da. Geil wie ein Affe, will aber nicht ’raufgehen. Kennst ja den Typ. Möchte, aber hat Angst. Wieder mal ein Deutscher. Na, er hat gezahlt; lange kann es nicht mehr dauern.«
Ravic sah gleichgültig zu dem Tisch hinüber. Der Mann saß mit dem Rücken zu ihm. Er hatte zwei Mädchen bei sich. Als er sich zu einer hinüberbeugte und ihre beiden Brüste in seine Hände nahm, sah Ravic sein Gesicht. Es war Haake.
Er hörte Rolande durch einen Wirbel sprechen. Er verstand nicht, was sie sagte. Er merkte nur, daß er zurückgetreten war und jetzt in der Tür stand, so, daß er gerade noch den Rand des Tisches sehen und selbst nicht gesehen werden konnte.
»Einen Kognak?« kam Rolandes Stimme endlich durch den Wirbel.
Das Kreischen der Orgel. Das Schwanken immer noch, der Krampf im Zwerchfell. Ravic grub die Nägel in seine Fäuste.
Haake durfte ihn hier nicht sehen. Und Rolande durfte nicht sehen, daß er ihn kannte.
»Nein«, hörte er sich sagen. »Habe schon genug gehabt. Deutscher, sagst du? Kennst du ihn?«
»Keine Ahnung.« Rolande zuckte die Schultern.
»Einer sieht aus wie der andere. Glaube, dieser war noch nie hier. Willst du nicht noch etwas trinken?«
»Nein. Habe nur mal rasch hineingesehen...«
Er fühlte, daß Rolande ihn ansah, und zwang sich zur Ruhe. »Ich wollte eigentlich nur hören, wann dein Abend ist«, sagte er. »War es Donnerstag oder Freitag?«
»Donnerstag, Ravic. Du kommst doch?«
»Selbstverständlich. Ich wollte nur ganz sicher sein.«
»Donnerstag um sechs Uhr.«
»Gut. Ich werde pünktlich sein. Das war alles, was ich wollte. Ich muß jetzt fort. Gute Nacht, Rolande.«
»Gute Nacht, Ravic.«
Die weiße Nacht, brausend plötzlich. Keine Häuser mehr — Steindickicht, Fensterdschungel. Krieg plötzlich wieder, schleichende Patrouille, die leere Straße entlang. Der Unterstand des Wagens, hineingeduckt, der Motor summend, lauern auf den Gegner.
Niederschießen, wenn er herauskam? Ravic sah die Straße hinauf. Ein paar Wagen. Gelbe Lichter. Ein paar Katzen. Unter einer Laterne, fern, etwas, das wie ein Polizist aussah. Die eigene Wagennummer, der Lärm des Schusses, Rolande, die ihn kurz vorher gesehen hatte — er hörte Morosow: »Riskier nichts, nichts, das ist so was nicht wert.«
Kein Portier. Kein Taxi! Gut! Montags gab es um diese Zeit wenig Fuhren. Im Augenblick, als er es dachte, ratterte ein Citroën heran und hielt vor der Tür. Der Chauffeur zündete sich eine Zigarette an und gähnte laut. Ravic fühlte, wie seine Haut sich zusammenzog.
Er wartete.
Er überlegte, ob er aussteigen und dem Chauffeur sagen sollte, niemand sei mehr da. Unmöglich. Ihn wegschicken, bezahlen, mit irgendeinem Auftrag Zu Morosow. Er riß einen Zettel heraus, schrieb ein paar Zeilen, zerriß sie, schrieb sie neu. Morosow möchte nicht auf ihn warten in der Scheherazade, unterschrieb irgendeinen Namen...
Das Taxi startete und fuhr an. Er starrte hinaus, konnte aber nichts sehen. Er wußte nicht, ob Haake eingestiegen war, während er schrieb. Er schaltete rasch den ersten Gang ein. Der Talbot schoß um die Ecke, dem Taxi nach.
Er sah niemand durch die rückwärtige Scheibe. Aber Haake konnte an der Seite sitzen. Er überholte langsam das Taxi. In der Dunkelheit des Fonds war nichts zu erkennen. Er fiel zurück und kam wieder vor, so dicht wie möglich neben dem andern Wagen. Der Chauffeur drehte sich um und begann zu schimpfen. »He, Idiot! Willst du mich einklemmen?«
»Da ist ein Freund von mir in deinem Wagen.« »Besoffener Hohlkopf«, brüllte der Chauffeur. »Siehst du nicht, daß der Wagen leer ist?«
Ravic hatte im gleichen Moment selbst gesehen, daß die Taxiuhr nicht eingeschaltet war. Er drehte scharf um und jagte zurück. Haake stand am Rande der Straße. Er winkte. »Hallo, Taxi!« Ravic fuhr heran und bremste. »Taxi?« sagte Haake. »Nein«, Ravic beugte sich aus dem Fenster. »Hallo«, sagte er. Haake sah ihn an. Seine Augen verengten sich. »Was?« »Ich glaube, wir kennen uns«, sagte Ravic auf deutsch. Haake beugte sich vor. Das Mißtrauen verschwand aus seinem Gesicht. »Mein Gott — Herr von... von...«
»Horn.«
»Richtig! Richtig! Herr von Horn! Natürlich! So ein Zufall! Mann, wo haben Sie denn all die Zeit gesteckt?«
»Hier in Paris. Kommen Sie, steigen Sie ein. Ich wußte nicht, daß Sie schon zurück waren.«
»Ich habe Sie ein paarmal angerufen. Haben Sie Ihr Hotel gewechselt?«
»Nein. Immer noch im ›Prince de Galles‹.« Ravic öffnete den Schlag des Wagens. »Kommen Sie. Ich nehme Sie mit. Ein Taxi kriegen Sie nicht leicht um diese Zeit.«
Haake setzte einen Fuß auf das Trittbrett. Ravic spürte seinen Atem. Er sah das erhitzte, rote Gesicht. »Prince de Galles«, sagte Haake. »Verdammt, ja, das war es! Prince de Galles! Ich habe dauernd im George V angerufen.« Er lachte laut. »Kannte Sie keiner da. Nun verstehe ich! Prince de Galles, natürlich! Habe das verwechselt. Mein altes Notizbuch nicht mitgenommen. Dachte, ich hätte es im Kopf.
Ravic hatte den Eingang im Auge. Es würde noch eine Zeitlang dauern, ehe jemand herauskam. Die Mädchen mußten sich erst umziehen. Trotzdem mußte er Haake so rasch wie möglich in den Wagen kriegen. »Wollten Sie hier hinein?« fragte Haake gemütlich.
»Ich dachte daran. Wird aber schon zu spät sein.« Haake blies den Atem geräuschvoll durch die Nase. »Sie sagen es, mein Lieber. Ich war der letzte. Schluß hier in der Bude.«
»Macht nichts. Ist sowieso langweilig. Gehen wir anderswohin! Kommen Sie.«
»Gibt’s noch was?«
»Natürlich. Die richtigen Buden fangen erst an. Dies hier ist nur für Touristen.«
»Wirklich? Ich dachte... dies hier ist doch schon allerhand.«
»Gar nichts. Es gibt viel Besseres. Dies hier ist nur ein Puff .«
Ravic tippte ein paarmal auf das Gaspedal. Der Motor brauste auf und verebbte. Er hatte richtig gerechnet; Haake kletterte umständlich auf den Sitz neben ihm. »Nett, Sie wiederzusehen«, sagte er. »Wirklich nett.«
Ravic griff über ihn weg und zog die Tür zu. »Ich freue mich auch sehr.«
»Interessante Bude da! Haufen nackter Mädchen. Daß die Polizei das erlaubt! Sind doch wahrscheinlich meistens krank, wie?«
»Möglich. Man geht in diesen Plätzen natürlich nie sicher.«
Ravic fuhr an. »Gibt’s Plätze, die absolut sicher sind?«
Haake biß eine Zigarre ab. »Möchte nicht gern mit einem Tripper nach Hause kommen. Anderseits: man lebt nur einmal.«
»Ja«, sagte Ravic und gab Haake den elektrischen Anzünder hinüber.
»Wohin fahren wir?«
»Wie wäre es mit einem Maison de Rendezvous für den Anfang?«
»Ein Haus, in dem Frauen der Gesellschaft Abenteuer suchen.«
»Was? Wirkliche Frauen der Gesellschaft ?«
»Ja. Frauen, die zu alte Männer haben. Frauen, die zu langweilige Männer haben. Frauen, deren Männer nicht genug Geld verdienen.«
»Aber wie... die können doch nicht einfach ..., wie geht das denn vor sich?«
»Die Frauen kommen dahin auf eine Stunde oder ein paar Stunden. So wie zu einem Cocktail oder zu einem Nightcup. Manche lassen sich auch anrufen und kommen dann. Es ist natürlich keine Bude wie die hier in Montmartre. Ich kenne da ein sehr schönes Haus, mitten im Bois. Die Besitzerin sieht aus, wie eine Herzogin aussehen sollte. Alles äußerst vornehm und diskret und elegant.«
Ravic sprach langsam und ruhig, mit langsamem Atem. Er hörte sich reden wie einen Touristenführer, aber er zwang sich, weiterzusprechen, um ruhiger zu werden. In seinen Armen zitterten die Adern. Er griff das Steuerrad fest mit beiden Händen, um es zu unterdrücken. »Sie werden erstaunt sein, wenn Sie die Räume sehen«, sagte er. »Die Möbel sind alle echt, die Teppiche und die Gobelins alt, der Wein ist ausgesucht, das Service ist exquisit, und mit den Frauen sind Sie natürlich absolut sicher.«
Haake blies den Rauch seiner Zigarre aus. Er wandte sich Ravic zu. »Hören Sie, das klingt alles wunderbar, mein lieber Herr von Horn. Nur eins ist da die Frage: Das ist sicher nicht billig?«
»Es ist absolut nicht teuer.«
Haake lachte kollernd und etwas verlegen. »Kommt darauf an, was man darunter versteht! Wir Deutschen mit unsern paar Devisen...«
Ravic schüttelte den Kopf. »Ich kenne die Besitzerin sehr gut. Sie ist mir verpflichtet. Sie betrachtet uns als Spezialgäste. Wenn Sie kommen, kommen Sie als Freund von mir und dürfen wahrscheinlich nicht einmal zahlen. Ein paar Trinkgelder höchstens — weniger, als Sie für eine Flasche in der ›Osiris‹ zahlen.«
»Wirklich?« — »Sie werden es sehen.«
Haake rückte sich zurecht. »Donnerwetter, das ist ja allerhand.«
Er schmunzelte breit zu Ravic hinüber. »Sie scheinen glänzend Bescheid zu wissen! Muß schon ein guter Dienst gewesen sein, den Sie der Frau geleistet haben.«
Ravic sah ihn an. Er sah ihm gerade in die Augen. »Häuser dieser Art haben manchmal Schwierigkeiten mit Behörden. Leichte Erpressungsversuche. Sie wissen doch, was ich meine?«
»Und ob!« Haake war einen Augenblick nachdenklich. »Haben Sie so viel Einfluß hier?«
»Nicht viel. Ein paar Freunde in einflußreichen Stellen.«
»Das ist schon etwas! Wir können das gut brauchen. Können wir nicht einmal darüber reden?«
»Gewiß. Wie lange bleiben Sie noch in Paris?«
Haake lachte. »Ich scheine Sie immer zu treffen, wenn ich gerade abreise. Ich fahre um sieben Uhr dreißig früh.« Er sah auf die Uhr im Wagen. »In zweieinhalb Stunden. Wollte es Ihnen schon sagen. Ich muß dann am Gare du Nord sein. Können wir das schaffen?«
»Leicht. Müssen Sie vorher noch ins Hotel?«
»Nein. Mein Handgepäck ist schon am Bahnhof. Habe das Hotel nachmittags aufgegeben. Spare so einen Tag Miete. Mit unseren Devisen...« Er lachte wieder.
Ravic merkte plötzlich, daß er auch lachte. Er preßte die Hände fest um das Steuerrad. Unmöglich, dachte er, das ist unmöglich!
Irgend etwas wird geschehen und noch dazwischenkommen. So viel Zufall ist unmöglich.
Die frische Luft brachte den Alkohol in Haake heraus. Seine Stimme wurde langsamer und schwerer. Er rückte sich in seiner Ecke zurecht und begann zu dösen. Sein Unterkiefer klappte herunter, und seine Augen schlossen sich. Der Wagen bog in das lautlose Dunkel des Bois ein.
Die Scheinwerfer flogen wie lautlose Gespenster dem Wagen voraus und rissen Geisterbäume aus der Finsternis. Der Geruch von Akazien stürzte durch die offenen Fenster. Das Geräusch der Reifen auf dem Asphalt, sanft, ständig, als wolle es nie enden. Der Motor, summend, vertraut, tief und leise in der feuchten Nachtluft. Der Schimmer eines kleinen Teiches, die Silhouette der Weiden, heller vor den dunklen Buchen. Wiesen, übertaut, perlmuttern, fahl. Die Route de Madrid, die Route de la Porte St.-James, die Route de Deuilly. Ein verschlafenes Haus. Der Geruch von Wasser. Die Seine.
Ravic fuhr den Boulevard de la Seine entlang. Auf dem mondbeschienenen Wasser trieben, in Abständen, schwarz, zwei Schifferbarken. Von der entfernteren bellte ein Hund. Über das Wasser kamen Stimmen. Auf dem Vorderteil der ersten Barke brannte ein Licht. Ravic hielt den Wagen nicht an. Er hielt ihn in gleichmäßigem Tempo, um Haake nicht zu wecken, und fuhr die Seine entlang. Er hatte hier halten wollen. Es war unmöglich. Die Barken waren zu dicht am Ufer. Er bog in die Route de la Femme ein, weg vom Fluß, zurück zur Allee de Longchamps. Er folgte ihr über die Allee de la Reine Marguerite und bog dann in die schmaleren Alleen ein.
Als er zu Haake hinüberblickte, sah er, daß dessen Augen offen waren. Haake blickte ihn an. Seine Augen glänzten wie blaue Glasbälle im schwachen Licht des Instrumentenbrettes. Es war wie ein elektrischer Schlag. »Aufgewacht?« fragte Ravic.
Haake antwortete nicht. Er sah Ravic an. Er bewegte sich nicht. Selbst seine Augen bewegten sich nicht.
»Wo sind wir?« fragte er endlich.
»Im Bois de Boulogne. Dicht beim ›Restaurant des Cascades‹.«
»Wie lange fahren wir schon?«
»Zehn Minuten.«
»Wir fahren länger.«
»Kaum.«
»Bevor ich einschlief, habe ich auf die Uhr gesehen.Wir fahren über eine halbe Stunde.«
»Wirklich?« sagte Ravic. »Ich dachte, es wäre kürzer. Wir sind bald da.«
Haake hatte seine Augen nicht von Ravic gelassen. »Wo?«
»In dem Maison de Rendez-vous.«
Haake bewegte sich. »Fahren Sie zurück«, sagte er.
»Jetzt?«
»Ja.«
Er war nicht mehr betrunken. Er war klar und wach.
Sein Gesicht war verändert. Die Jovialität und Bonhomie war verschwunden. Ravic sah jetzt zum erstenmal das Gesicht wieder, das er kannte, das Gesicht, das sich ihm in der Schreckenskammer der Gestapo für immer ins Gehirn gegraben hatte. Und plötzlich verschwand die Irritation, die er die ganze Zeit gespürt hatte — das Gefühl, einen Fremden, der ihn eigentlich nichts anging, ermorden zu wollen. Er hatte einen gemütlichen Rotweintrinker im Wagen gehabt, und er hatte vergeblich nach den Gründen in dem Gesicht des Mannes gesucht — den Gründen, die in seinem Kopf vor allem standen, was er auch zu denken versuchte. Jetzt plötzlich waren wieder dieselben Augen, die vor ihm gewesen waren, wenn er aus Ohnmachten in Agonien von Schmerzen erwacht war. Dieselben kalten Augen, dieselbe kalte, leise, eindringliche Stimme...
Irgend etwas schwang in ihm jäh herum. Es war wie ein Strom, der die Pole wechselte. Die Spannung war dieselbe; aber das Flackernde, Nervöse,Wechselnde richtete sich in einen gleichen Strom, der nur ein Ziel hatte, und nichts war mehr da als das. Jahre zerfielen in Asche, der Raum mit den grauen Wänden war wieder da, die schirmlosen, weißen Lichter, der Geruch nach Blut, Leder, Schweiß, Qual und Angst...
»Warum?« fragte Ravic.
»Ich muß zurück. Man wartet auf mich im Hotel.«
»Aber Sie sagten doch, Ihre Sachen seien schon am Bahnhof.«
»Das sind sie. Aber ich habe noch etwas zu tun. Ich hatte das vergessen. Fahren Sie zurück.«
»Gut.«
Ravic hatte vor einer Woche den Bois ein dutzendmal abgefahren; am Tag und in der Nacht. Er wußte, wo er war. Einige Minuten noch. Er bog in eine schmale Allee nach links.
»Fahren wir zurück?«
»Ja.«
Der schwere Geruch der Luft unter Bäumen, durch die keine Sonne am Tage schien. Die dichtere Dunkelheit. Das hellere Licht der Scheinwerfer. Ravic sah im Spiegel, wie Haakes linke Hand vom Wagenschlag zurückkroch, langsam, vorsichtig. Rechtssteuerung, dachte er, gelobt, daß dieser Talbot Rechtssteuerung hat! Er nahm eine Kurve, hielt das Steuer mit der linken Hand, tat, als schwanke er in der Biegung, gab alles Gas in die gerade Allee hinein; der Wagen schoß vorwärts, und ein paar Sekunden später bremste er mit voller Kraft .
Der Talbot bockte. Die Bremsen kreischten. Ravic hielt, einen Fuß gegen das Gaspedal, den anderen gegen die Verschalung gestemmt, seine Balance. Haake, dessen Füße keinen Widerstand hatten und der den Ruck nicht erwartet hatte, fiel mit dem Oberkörper vorwärts. Er bekam die Hand aus der Tasche nicht rechtzeitig frei und prallte mit der Stirn gegen die Kante von Windschutzscheibe und Instrumentenbrett. Im selben Moment schlug ihm Ravic den schweren Engländer, den er aus der rechten Seitentasche gegriffen hatte, in den Nacken, gerade unterhalb des Schädels.
Haake kam nicht mehr hoch. Er rutschte seitlich herunter. Die rechte Schulter hielt den Fall auf. Sie klemmte den Körper gegen das Instrumentenbrett.
Ravic fuhr sofort weiter. Er kreuzte die Allee und schirmte den Scheinwerfer ab. Er fuhr weiter und wartete, ob jemand das Kreischen der Bremsen gehört habe. Er überlegte, ob er Haake irgendwo aus dem Wagen stoßen und im Gebüsch verbergen sollte, wenn jemand kam. Er hielt schließlich neben einer Kreuzung, stellte das Licht und den Motor ab, sprang aus dem Wagen, öffnete die Motorhaube und den Wagenschlag an Haakes Seite und horchte.Wenn jemand kam, konnte er es hier von weitem sehen und hören. Zeit genug, Haake hinter einen Busch zu ziehen und so zu tun, als ob der Motor nicht in Ordnung sei.
Die Stille war wie ein Lärm. Sie war so plötzlich und unfaßbar, daß sie brauste. Ravic preßte die Hände zu Fäusten, bis sie schmerzten. Er wußte, daß es sein Blut war, das in seinen Ohren brauste.
Er atmete tief und langsam.
Das Brausen ging in Rauschen über. Durch das Rauschen klang ein Schrillen, das lauter wurde. Ravic horchte mit aller Kraft. Es wurde lauter, metallen — und auf einmal merkte er, daß es Grillen waren und daß das Rauschen nicht mehr da war. Nur noch die Grillen an einem erwachenden Morgen auf einem schmalen Wiesenstück schräg vor ihm.
Das Wiesenstück lag im frühen Licht. Ravic schloß die Motorhaube. Es war höchste Zeit. Er mußte fertig werden, bevor es zu hell wurde. Er sah sich um. Der Platz war nicht gut. Kein Platz im Bois war gut. Für die Seine war es zu hell. Er hatte nicht damit gerechnet, daß es so spät werden würde. Er fuhr herum. Er hatte ein Scharren gehört, ein Kratzen und dann ein Stöhnen. Eine der Hände Haakes kroch aus dem offenen Wagenschlag und kratzte auf dem Trittbrett. Ravic bemerkte, daß er noch immer den Engländer in der Hand hatte. Er griff Haake nach dem Rockkragen, zerrte ihn heraus, so daß der Kopf frei war, und schlug ihm zweimal in den Nacken. Das Stöhnen hörte auf.
Etwas klapperte. Ravic stand still. Dann sah er, daß es ein Revolver war, der vom Sitz auf das Trittbrett gefallen war. Haake mußte ihn in der Hand gehabt haben, bevor der Wagen bremste. Ravic warf ihn zurück in den Wagen.
Er horchte wieder. Die Grillen. Das Wiesenstück. Der Himmel, der sich aufhellte und zurückwich. In kurzer Zeit würde die Sonne da sein. Ravic öffnete den Wagenschlag, zerrte Haake heraus, legte den Vordersitz um und versuchte, Haake zwischen die Vorder- und Rücksitze auf den Boden des Wagens zu schieben. Es ging nicht. Der Platz war zu schmal. Er lief um den Wagen herum und öffnete den Kofferverschlag. Rasch räumte er ihn aus. Dann zog er Haake wieder aus dem Wagen und schleppte ihn zum Rückende des Wagens. Haake war noch nicht tot. Er war sehr schwer. Der Schweiß rann Ravic vom Gesicht. Es gelang ihm, den Körper in den Kofferverschlag zu pressen. Er preßte ihn hinein wie ein Embryo, die Knie hochgeschoben.
Er nahm das Werkzeug, eine Schaufel und den Wagenheber vom Straßenrand und legte sie vorne in den Wagen. Ein Vogel begann in einem der Bäume neben ihm zu singen. Er schrak zusammen. Es schien ihm lauter als alles, was er je gehört hatte. Er sah auf die Wiese. Sie war wieder heller geworden.
Er konnte kein Risiko nehmen. Er ging zurück und hob den Deckel des Kofferverschlags halb an. Er stellte den linken Fuß auf die hintere Stoßstange und hielt mit den Knien den Deckel halb offen und nur so weit, daß er mit den Händen darunterfassen konnte. Wenn jemand kam, sah es dann aus, als arbeite er harmlos an etwas, und er konnte den Deckel sofort fallen lassen. Er hatte einen langen Weg vor sich. Er mußte Haake vorher töten.
Der Kopf war nahe der rechten Ecke. Er konnte ihn sehen. Der Hals war weich; der Puls der Adern ging noch. Er preßte die Hände scharf um die Gurgel und hielt fest.
Es schien ewig zu dauern. Der Kopf ruckte etwas. Nur wenig. Der Körper versuchte, sich zu strecken. Es schien, als sei er gefangen in den Kleidern. Der Mund öffnete sich.
Schrill begann der Vogel wieder zu schmettern. Die Zunge kam heraus, dick, gelb, belegt. Und plötzlich öffnete Haake ein Auge. Es quoll heraus, schien Licht zu bekommen und Sehen, es schien sich zu lösen und auf Ravic zuzukommen — dann gab der Körper nach. Ravic hielt ihn noch eine Zeitlang. Aus. Der Deckel klappte herunter. Ravic ging noch ein paar Schritte.
Dann spürte er seine Knie zittern. Er hielt sich an einem Baum fest und kotzte. Es war ihm, als riß es ihm den Magen heraus. Er versuchte, sich zu halten. Es nützte nichts.
Als er aufblickte, sah er einen Mann über die Wiese kommen. Der Mann sah zu ihm hinüber. Ravic blieb stehen. Der Mann kam näher. Er ging mit langsamen, achtlosen Schritten. Er war angezogen wie ein Gärtner oder ein Arbeiter. Er sah zu Ravic hinüber. Ravic spuckte aus und zog ein Pack Zigaretten heraus. Er zündete eine an und zog den Rauch ein. Der Rauch war beißend und brannte im Hals. Der Mann kreuzte die Allee. Er blickte auf die Stelle, wo Ravic gekotzt hatte, und dann auf den Wagen und dann auf Ravic. Er sagte nichts, und Ravic konnte nichts in seinem Gesicht sehen. Er verschwand hinter der Kreuzung mit langsamen Schritten.
Ravic wartete noch einige Sekunden. Dann schloß er den Kofferdeckel des Wagens ab und ließ den Motor an. Er konnte nichts mehr im Bois tun. Es war zu hell. Er mußte nach St. Germain fahren. Er kannte die Wälder dort.