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Er hielt nach einer Stunde vor einem kleinen Gasthaus. Er war sehr hungrig, und sein Kopf war dumpf. Er parkte den Wagen vor dem Haus, wo zwei Tische und ein paar Stühle standen. Er bestellte Kaffee und Brioches und ging, sich zu waschen. Der Waschraum stank. Er ließ sich ein Glas geben und spülte sich den Mund aus. Dann wusch er seine Hände und ging zurück.
Das Frühstück stand auf dem Tisch. Der Kaffee roch wie alle Kaffees der Welt. Schwalben umflogen die Dächer, die Sonne hängte ihre ersten goldenen Gobelins an die Häuserwände, Leute gingen zur Arbeit, und hinter den Perlenvorhängen des Bistros scheuerte eine Magd mit aufgeschürzten Röcken die Fliesen. Es war der friedlichste Sommermorgen, den Ravic seit langem gesehen hatte.
Er trank den heißen Kaffee. Aber er konnte sich nicht entschließen, zu essen. Er wollte nichts anfassen mit seinen Händen. Er sah sie an. Unsinn, dachte er. Verdammt, ich will keine Komplexe kriegen. Ich muß essen. Er trank noch eine Tasse Kaffee. Er holte eine Zigarette hervor und achtete darauf, nicht das Ende, das er berührt hatte, in den Mund zu stecken. Das kann so nicht weitergehen, dachte er. Aber er aß trotzdem nicht. Ich muß es erst ganz erledigen, beschloß er und stand auf und zahlte.
Eine Herde Kühe. Schmetterlinge. Die Sonne über den Feldern. Die Sonne in der Windschutzscheibe. Die Sonne auf dem Verdeck. Die Sonne auf dem glänzenden Metall des Kofferdeckels, unter dem Haake lag — tot, ohne daß er gehört hatte, warum und durch wen. Es hätte anders sein müssen. Anders...
»Erkennst du mich, Haake? Weißt du, wer ich bin?«
Er sah das rote Gesicht vor sich. »Nein, wieso? Wer sind Sie? Haben wir uns früher schon einmal getroffen?«
»Ja.«
»Wann? Geduzt? Kadettenanstalt vielleicht? Erinnere mich nicht.«
»Du erinnerst dich nicht, Haake. Es war keine Kadettenanstalt. Es war später.«
»Später? Aber Sie haben doch im Ausland gelebt? Ich war nie außerhalb Deutschlands. Nur in den letzten zwei Jahren hier in Paris. Vielleicht, daß wir im Suff...«
»Nein. Nicht im Suff. Und nicht hier. In Deutschland, Haake!«
Eine Barriere. Eisenbahnschienen. Ein Garten, klein, gedrängt voll mit Rosen, Flox und Sonnenblumen. Warten. Ein verlorener, schwarzer Zug, puffend durch den endlosen Morgen. Spiegelnd in der Windschutzscheibe leben die Augen, die quallig im Kofferraum sich mit herabfallendem Staub aus den Ritzen füllten.
»In Deutschland? Ah, ich verstehe. Auf einem der Parteitage. Nürnberg. Glaube, mich zu erinnern. War es nicht im Nürnberger Hof?«
»Nein, Haake«, sagte Ravic langsam in die Windschutzscheibe hinein, und er fühlte, wie die schwere Welle der Jahre zurück, kam. »Nicht in Nürnberg. In Berlin.«
»Berlin?« Das Schattengesicht, durchzittert von Reflexen, wurde eine Spur jovial ungeduldig. »Na, nun kommen Sie schon heraus, Mensch, mit der Geschichte! Halten Sie nicht hinter dem Berg, und spannen Sie mich nicht zu lange auf die Folter. Wo war es?«
Die Welle, in den Armen jetzt, aus der Erde hochsteigend. »Auf der Folter, Haake! Genau das! Auf der Folter!«
Ein Lachen, ungewiß, vorsichtig. »Machen Sie keine Witze, Mann.«
»Auf der Folter, Haake! Weißt du nun, wer ich bin?«
Das Lachen, Ungewisser, vorsichtiger, drohend. »Wie soll ich das wissen? Ich sehe Tausende von Menschen. Kann mir nicht jeden einzelnen merken. Wenn Sie auf die Geheime Staatspolizei anspielen...«
»Ja, Haake. Die Gestapo.«
Achselzucken. Lauern. »Wenn Sie da einmal vernommen worden sind...«
»Ja. Erinnerst du dich?«
Erneutes Achselzucken. »Wie soll ich mich erinnern? Wir haben Tausende vernommen...«
»Vernommen! Gequält, geschlagen bis zur Bewußtlosigkeit, Nieren zerquetscht, Knochen zerbrochen, wie Säcke in den Keller geworfen, wieder hervorgeholt, Gesichter zerrissen, Hoden zermalmt — das nennt ihr ›vernommen‹! Das heiße, entsetzliche Stöhnen derer, die nicht mehr schreien konnten — ›Vernommen‹! Das Winseln zwischen Ohnmacht und Ohnmacht, Fußtritte in den Bauch, Gummiknüppel, Peitschen — ja, alles das nanntet ihr unschuldig ›Vernommen‹!«
Ravic starrte in das unsichtbare Gesicht in der Windschutzscheibe, durch das lautlos die Landschaft mit Korn und Mohn und Heckenrosen glitt — er starrte hinein, seine Lippen bewegten sich, und er sagte alles, was er hatte sagen wollen und einmal sagen mußte.
»Die Hände ruhig! Oder ich schieße dich nieder! Erinnerst du dich an den kleinen Max Rosenberg, der mit zerfetztem Körper im Keller neben mir lag und versuchte, sich den Kopf an der Zementwand zu zerschlagen, um nicht wieder ›vernommen‹ zu werden — vernommen warum? Weil er ein Demokrat war! Und Willmann, der Blut pißte und keine Zähne und nur noch ein Auge hatte, nachdem er zwei Stunden bei euch ›vernommen‹ worden war — vernommen warum? Weil er ein Katholik war und nicht glaubte, daß euer Führer der neue Messias sei. Und Riesenfeld, dessen Kopf und Rücken rohen Fleischklumpen glichen, und der uns anflehte, ihm die Adern aufzubeißen, weil er es nicht mehr konnte ohne Zähne, nachdem er ›vernommen‹ war von dir — vernommen warum? Weil er gegen den Krieg war und nicht glaubte, daß Kultur sich am vollkommensten in Bomben und Flammenwerfern ausdrücke. Vernommen! Tausende habt ihr ›vernommen‹, ja — die Hände ruhig, Schwein! Und jetzt habe ich dich endlich, und wir fahren hinaus, da ist ein Haus mit dicken Mauern und völlig allein, und ich werde dich ›vernehmen‹ — langsam, langsam durch Tage hindurch, die Rosenbergkur, die Willmannkur, die Riesenfeldkur, so, wie ihr es uns gezeigt habt! Und dann, nach all dem...«
Ravic spürte plötzlich, daß der Wagen raste. Er nahm das Gas weg. Häuser. Ein Dorf. Hunde. Hühner. Pferde auf einer Weide, galoppierend, die Hälse gestreckt, die Köpfe hochgeworfen, heidnisch. Zentauren, kraftvolles Leben. Eine lachende Frau mit einem Wäschekorb. Auf den Leinen flatternd bunte Wäschestücke, Fahnen geborgenen Glücks. Ein paar Kinder spielend vor den Türen. Er sah das alles wie getrennt durch eine gläserne Wand, sehr nah und unglaublich fern, voll von Schönheit und Frieden und Unschuld, schmerzhaft stark und getrennt von ihm und unerreichbar für immer, nur durch diese Nacht. Er spürte kein Bedauern — es war so, das war alles.
Langsam fahren. Die einzige Gelegenheit, angehalten zu werden, die Dörfer zu durchrasen. Die Uhr. Er fuhr schon fast zwei Stunden. Wie war das möglich? Er hatte es nicht gemerkt. Er hatte nichts gesehen, nur das Gesicht, gegen das er sprach...
St. Germain. Der Park. Schwarze Gitter vor dem blauen Himmel und dann die Bäume. Bäume. Alleen von Bäumen. Ein Park von Bäumen, erwartet, erwünscht, und plötzlich der Wald.
Der Wagen lief leiser. Der Wald hob sich, eine grüne und goldene Woge, er warf sich rechts und links auf, er überflutete den Horizont und schloß alles ein — auch das schnelle, glitzernde Insekt, das in ihm zickzackte.
Der Grund war weich und mit Gebüsch überwuchert. Es war weitab von der Straße. Ravic ließ den Wagen einige hundert Meter entfernt stehen, so daß er ihn sehen konnte. Dann nahm er den Spaten und begann den Grund aufzuschaufeln. Es ging leicht. Wenn jemand kam und den Wagen sah, konnte er den Spaten verbergen und als harmloser Spaziergänger zurückkommen.
Er grub tief genug, um genügend Erde über dem Körper zu haben. Dann fuhr er den Wagen heran. Ein toter Körper war schwer. Trotzdem fuhr er nur so weit heran, wie harter Grund war, um keine Reifenspuren zu hinterlassen.
Der Körper war noch schlaff. Er schleppte ihn zu dem Erdloch und begann, die Kleider abzureißen und auf einen Haufen zu werfen. Es war einfacher, als er dachte. Er ließ den nackten Körper liegen, nahm die Kleider, steckte sie in den Kofferraum und fuhr den Wagen zurück. Er schloß die Türen und den Kofferraum ab und nahm einen Hammer mit. Er mußte damit rechnen, daß der Körper durch Zufall gefunden wurde, und er wollte jede Identifi kation vermeiden.
Es fiel ihm einen Moment schwer, zurückzugehen. Er spürte einen fast unwiderstehlichen Drang, die Leiche liegenzulassen, in den Wagen zu steigen und davonzujagen. Er blieb stehen und blickte sich um. An einem Buchenstamm, ein paar Meter entfernt, jagten sich zwei Eichhörnchen. Ihre roten Pelze leuchteten in der Sonne. — Er ging weiter.
Gedunsen. Bläulich. Er legte einen Fetzen Wollstoff, voll von Öl, über das Gesicht und begann, es mit dem Hammer zu zerschlagen. Nach dem ersten Schlag hielt er inne. Es klang sehr dumpf. Dann schlug er rasch weiter. Nach einer Weile lüftete er den Stoffl umpen. Das Gesicht war eine unkenntliche Masse, voll von geronnenem, schwarzem Blut. Wie Riesenfelds Kopf, dachte er. Er spürte, daß seine Zähne fest zusammengebissen waren. Nicht wie Riesenfelds Kopf, dachte er. Riesenfelds Kopf war schlimmer: er lebte noch.
Der Ring an der rechten Hand. Er zog ihn ab und schob den Körper in das Loch. Das Loch war etwas zu kurz. Er bog die Knie gegen den Bauch. Dann schaufelte er die Erde ein. Es ging schnell. Er stampfte sie zurecht und packte Moosstücke, die er vorher mit dem Spaten ausgeschnitten hatte, darüber. Sie paßten. Man sah die Ränder nur noch, wenn man sich bückte. Er schob das Gebüsch zurecht.
Der Hammer. Die Schaufel. Der Lappen. Er legte sie zu den Kleidern in den Kofferraum. Dann ging er noch einmal zurück, langsam, nach Spuren suchend. Er fand fast keine mehr. Den Rest würden etwas Regen und ein paar Tage Wachsen besorgen.
Sonderbar: die Schuhe eines toten Mannes. Die Strümpfe. Die Wäsche. Der Anzug weniger. Die Strümpfe, das Hemd, das Unterzeug — geisterhaft verwelkt bereits, voll einer mitgestorbenen Aura. Es war scheußlich, sie anzufassen und nach Monogrammen und Schneideretiketts zu suchen.
Ravic tat es rasch. Er schnitt sie heraus. Dann rollte er die Sachen in ein Bündel zusammen und vergrub sie. Es war mehrere Kilometer von dem Platz entfernt, wo er die Leiche eingegraben hatte — weit genug, um zu verhüten, daß man beide zu gleicher Zeit fand.
Er fuhr weiter, bis er an einen Bach kam. Er nahm die ausgeschnittenen Etiketts und wickelte sie in Papier. Dann zerriß er das Notizbuch Haakes in kleine Stücke und durchsuchte die Brieftasche. Sie enthielt zwei Tausend-Frank-Scheine, das Fahrscheinheft nach Berlin, zehn Mark, einige Zettel mit Adressen und Haakes Paß. Ravic steckte das französische Geld ein. In Haakes Tasche hatte er noch ein paar Fünf-Frank-Scheine gefunden.
Das Fahrscheinheft sah er einen Augenblick an. Nach Berlin, es war merkwürdig, das zu sehen: nach Berlin. Er zerriß es und legte es zu dem andern. Den Paß betrachtete er lange. Er war gültig für drei Jahre. Es war eine Versuchung, ihn zu behalten und damit zu leben. Es paßte zu der ganzen Art von Existenz, die er führte. Er würde sich nicht besonnen haben, wenn es ungefährlich gewesen wäre.
Er zerriß ihn. Den Zehn-Mark-Schein auch. Die Schlüssel Haakes, den Revolver und die Quittung für den Koffer behielt er. Er wollte überlegen, ob er den Koff er abholen sollte, um jede Spur in Paris zu verwischen. Die Hotelquittung hatte er gefunden und zerrissen.
Er verbrannte alles. Es dauerte länger, als er dachte, aber er hatte Zeitungspapier, um die Stoffetzen zu verbrennen. Die Asche streute er in den Bach. Dann untersuchte er den Wagen auf Blut. Es war nichts zu finden. Er wusch den Hammer und den Engländer sorgfältig und packte das Werkzeug zurück in den Kofferraum. Er wusch seine Hände, so gut es ging, holte eine Zigarette hervor und blieb eine Weile sitzen und rauchte.
Die Sonne schien schräg durch die hohen Buchen. Ravic saß und rauchte. Er war leer und dachte an nichts.
Erst als er wieder in die Straße zum Schloß einschwang, dachte er an Sybil. Das Schloß stand weiß im hellen Sommer unter dem ewigen Himmel des achtzehnten Jahrhunderts. Er dachte plötzlich an Sybil, und zum erstenmal seit damals versuchte er nicht, Widerstand zu leisten und es beiseite zu schieben und zu unterdrücken. Er war in seinen Erinnerungen nie weitergekommen als bis zu dem Tag, als Haake sie hatte hereinführen lassen. Er war nie weitergekommen, als bis zu dem Grauen und der wahnsinnigen Angst in ihrem Gesicht. Alles andere war ausgelöscht worden davon. Und er war nie weitergekommen als bis zu der Nachricht, daß sie sich erhängt hatte. Er hatte es nie geglaubt; es war möglich — aber wer wußte, was vorher passiert war? Er hatte nie an sie denken können, ohne den Krampf im Gehirn zu spüren, der aus seinen Händen Klauen machte und sich wie ein Krampf um seine Brust legte und ihn für Tage unfähig machte, aus dem roten Nebel unfähiger Rachehoffnung zu entkommen.
Er dachte an sie, und der Ring und der Krampf und der Nebel waren plötzlich nicht mehr da. Etwas war gelöst, eine Barrikade war weggeräumt, das starre Bild des Entsetzens begann sich zu bewegen, es war nicht mehr festgefroren wie all die Jahre. Der verzerrte Mund fing an, sich zu schließen, die Augen verloren ihre Starrheit, und sanft kehrte das Blut in das kalkweiße Gesicht zurück. Es war nicht mehr eine starre Maske der Furcht — es wurde wieder Sybil, die er kannte, die mit ihm gelebt hatte, deren zärtliche Brüste er gefühlt hatte und die durch zwei Jahre seines Lebens geweht war wie ein Juniabend.
Tage stiegen auf — Abende — wie ein fernes, vergessenes Feuerzeug plötzlich hinter dem Horizont. Eine verklemmte, verschlossene, blutüberkrustete Tür in seiner Vergangenheit öffnete sich auf einmal leicht und lautlos, und ein Garten war wieder dahinter, und nicht ein Gestapokeller.
Ravic fuhr seit mehr als einer Stunde. Er fuhr nicht zurück nach Paris. Er hielt auf der Seinebrücke hinter St. Germain und warf die Schlüssel und den Revolver Haakes ins Wasser. Dann öffnete er das Verdeck des Wagens und fuhr weiter.
Er fuhr durch einen Morgen in Frankreich. Die Nacht war fast vergessen und lag Jahrzehnte hinter ihm. Was vor einigen Stunden geschehen war, war schon undeutlich geworden — aber was seit Jahren versunken gewesen war, stieg rätselhaft auf und kam nahe, und es war nicht mehr durch einen Erdriß getrennt.
Ravic wußte nicht, was mit ihm geschah. Er hatte geglaubt, leer sein zu müssen, müde, gleichgültig, erregt — er hatte Ekel, stumme Rechtfertigung, Sucht nach Schnaps, Saufen, Vergessen erwartet — aber nicht dieses. Er hatte nicht erwartet, leicht und gelöst zu sein, als wenn ein Schloß von seiner Vergangenheit abgefallen wäre. Er sah sich um. Die Landschaft glitt vorüber, Prozessionen von Pappeln reckten ihren fackelhaften, grünen Jubel aufwärts, Felder mit Mohn und Kornblumen breiteten sich aus, aus den Bäckereien der kleinen Dörfer roch es nach frischem Brot, und aus einem Schulhaus sangen Kinderstimmen zu einer Geige.
Was hatte er nur vorhin gedacht, als er hier vorbeikam? Vorhin, ein paar Stunden, eine Ewigkeit früher. Wo war die gläserne Wand, wo das Ausgeschlossensein? Verflüchtigt, wie Nebel in der steigenden Sonne. Er sah die Kinder wieder, spielend auf den Stufen vor den Haustüren, er sah in der Sonne schlafende Katzen und Hunde, er sah die bunte, flatternde Wäsche im Wind, die Pferde auf der Weide, und immer noch stand die Frau mit Klammern in den Händen auf der Wiese und hängte lange Reihen von Hemden auf. Er sah es und gehörte dazu, mehr jetzt als viele Jahre vorher. Es schmolz etwas in ihm, weich und feucht stieg es auf, ein verbrannter Acker begann zu grünen, und irgend etwas in ihm schwang langsam zurück in eine große Balance.
Er saß in seinem Wagen sehr still; er wagte kaum, sich zu bewegen, um es nicht zu verscheuchen. Es wuchs und wuchs um ihn, es perlte hinunter und herauf, er saß still und glaubte es noch nicht ganz und fühlte es doch und wußte, es war da. Er hatte erwartet, der Schatten Haakes würde neben ihm sitzen und ihn anstarren — und nun saß nur sein Leben neben ihm und war zurückgekommen und sah ihn an. Zwei Augen, die durch viele Jahre aufgerissen waren und schweigend und unerbittlich gefordert und angeklagt hatten, schlössen sich; ein Mund bekam Frieden, und Schreckens voll vorgestreckte Arme fielen endlich hinab. Haakes Tod hatte den Tod aus Sybils Gesicht gelöst — es lebte einen Augenblick und fing dann an, undeutlich zu werden. Es konnte endlich ruhig werden, und es sank zurück; es würde nun nie wiederkommen, Pappeln und Linden begruben es sanft, und dann war noch der Sommer da und Bienengesumm und eine klare, starke, überwachte Müdigkeit, als hätte er viele Nächte nicht geschlafen und würde nun sehr lange oder nie mehr schlafen.
Er ließ den Talbot in der Rue Poncelet stehen. Im Augenblick, als der Motor schwieg und er ausstieg, fühlte er, wie müde er war. Es war nicht mehr die gelöste Müdigkeit der Fahrt, es war ein hohles, leeres Nur-Schlafen-Wollen. Er ging zum »International«, und es machte ihm Mühe, zu gehen. Die Sonne lag wie ein Balken auf seinem Nacken. Er dachte daran, daß er sein Appartement im »Prince de Galles« aufgeben mußte. Er hatte es vergessen. Er war so müde, daß er einen Augenblick überlegte, ob er es nicht später tun sollte. Dann zwang er sich und fuhr mit einem Taxi zum »Prince de Galles«. Er vergaß fast, als er seine Rechnung bezahlt hatte, seinen Koffer holen zu lassen.
Er wartete in der kühlen Halle. Rechts, in der Bar, saßen ein paar Leute und tranken Martinis. Er schlief fast ein, bis der Gepäckträger kam. Er gab ihm ein Trinkgeld und nahm ein Taxi. »Zum Gare de l’Est«, sagte er. Er sagte es so laut, daß der Portier und der Träger es deutlich hören konnten.
An der Ecke der Rue de la Boëtie ließ er halten. »Ich habe mich um eine Stunde geirrt«, sagte er zu dem Taxi-chauffeur. »Bin zu früh. Halten Sie hier vor dem Bistro.«
Er zahlte, nahm seinen Koffer, ging zu dem Bistro und sah das Taxi verschwinden. Er ging zurück, nahm ein anderes und fuhr zum »International«.
Niemand war unten außer einem Jungen, der schlief. Es war zwölf Uhr. Die Patronne war beim Mittagessen. Ravic trug den Koffer zu seinem Zimmer. Er zog sich aus und drehte die Brause an. Er wusch sich lange und gründlich. Dann rieb er sich mit Alkohol ab. Es machte ihn frischer. Er verstaute den Koffer und versorgte die Sachen, die darin waren. Er zog frische Wäsche und einen anderen Anzug an und ging hinunter zu Morosow.
»Ich wollte gerade zu dir«, sagte Morosow. »Heute ist mein freier Tag. Wir können im ›Prince de Galles‹...« Er verstummte und sah Ravic genauer an.
»Nicht mehr nötig«, sagte Ravic.
Morosow sah ihn an. »Erledigt«, sagte Ravic. »Heute morgen. Frag mich nicht. Ich will schlafen.«
»Brauchst du noch was?«
»Nichts. Alles Erledigt. Glück.«
»Wo ist der Wagen?«
»Rue Poncelet. Alles in Ordnung.«
»Nichts weiter zu tun?«
»Nichts. Habe plötzlich verdammte Kopfschmerzen. Will schlafen. Ich komme später ’runter.«
»Gut. Ist nichts mehr zu erledigen?«
»Nein«, sagte Ravic. »Nichts mehr, Boris. Es war einfach.«
»Du hast nichts vergessen?«
»Ich glaube nicht. Nein. Ich kann das jetzt nicht noch einmal durchkauen. Muß erst schlafen. Später. Bleibst du hier?«
»Natürlich«, sagte Morosow.
»Gut. Ich komme dann herunter.«
Ravic ging zurück in sein Zimmer. Er hatte auf einmal schwere Kopfschmerzen. Er stand eine Weile am Fenster. Unter ihm schimmerten die Lilien des Emigranten Wiesenhoff. Gegenüber die graue Wand mit den leeren Fenstern. Es war alles zu Ende. Es war richtig und gut und mußte so sein, aber es war zu Ende, und da war kein Weiter mehr. Es war nichts mehr da. Nichts mehr von ihm. Morgen war sein Name ohne Sinn. Steil vor seinem Fenster fiel der Tag ab.
Er zog sich aus und wusch sich noch einmal. Er ließ seine Hände lange im Alkohol und ließ sie in der Luft trocknen. Die Haut spannte sich um die Gelenke der Finger. Sein Kopf war schwer, und sein Gehirn schien wie lose darin umherzurollen. Er holte eine Injektionsspritze und kochte sie in einem kleinen elektrischen Kocher auf der Fensterbank. Das Wasser bubbelte eine Zeitlang. Es erinnerte ihn an den Bach. Nur an den Bach. Er schlug die Köpfe von zwei Ampullen ab und zog den wasserhellen Inhalt in die Spritze. Er machte sich die Injektion und legte sich aufs Bett. Nach einer Weile holte er seinen alten Schlafrock und deckte sich damit zu. Es war ihm, als wäre er zwölf Jahre alt und müde und allein in der sonderbaren Einsamkeit des Wachsens und der Jugend.
Er wachte auf in der Dämmerung. Ein blasses Rosa hing über den Hausdächern. Von unten kamen die Stimmen von Wiesenhoff und Frau Goldberg. Er konnte nicht verstehen, was sie redeten. Er wollte es auch nicht. Er war in der Stimmung eines Menschen, der nachmittags geschlafen hat und es nicht gewohnt ist — herausgefallen aus allen Beziehungen und reif für einen raschen, sinnlosen Selbstmord. Ich wollte, ich könnte jetzt operieren, dachte er. Einen schweren, fast aussichtslosen Fall. Ihm fiel ein, daß er den Tag über nichts gegessen hatte. Er spürte plötzlich rasenden Hunger. Die Kopfschmerzen waren verschwunden. Er zog sich an und ging hinunter.
Morosow saß in Hemdsärmeln in seinem Zimmer am Tisch und löste eine Schachaufgabe. Der Raum war fast kahl. An der einen Wand hing ein Uniformrock. In einer Ecke eine Ikone mit einem Licht davor. In einer andern stand ein Tisch mit einem Samowar, in der dritten ein moderner Eisschrank. Es war der Luxus Morosows. In ihm hielt er Wodka, Lebensmittel und Bier kalt. Ein türkischer Teppich lag vor dem Bett.
Morosow stand ohne ein Wort auf und holte zwei Gläser und eine Wodkaflasche. Er schenkte die Gläser voll. »Subowka«, sagte er.
Ravic setzte sich an den Tisch. »Ich will nichts trinken, Boris. Ich bin nur verdammt hungrig.«
»Gut. Laß uns essen gehen. Einstweilen...« Morosow kramte schwarzes, russisches Brot, Gurken, Butter und eine kleine Büchse Kaviar aus dem Eisschrank, »... nimm das! Der Kaviar ist ein Geschenk des Küchenchefs der Scheherazade. Vertrauenswürdig.«
»Boris«, sagte Ravic. »Laß uns kein Theater spielen. Ich habe den Mann vor der ›Osiris‹ getroffen, ihn im Bois erschlagen und in St. Germain begraben.«
»Hat dich jemand gesehen?«
»Nein. Auch vor der ›Osiris‹ nicht.«
»Nirgendwo?«
»Im Bois kam jemand über die Wiese. Als alles erledigt war. Ich hatte ihn im Wagen. Man konnte nichts sehen als den Wagen und mich, der kotzte. Ich konnte besoffen sein, und mir konnte schlecht geworden sein. Nichts Außergewöhnliches.«
»Was hast du mit seinen Sachen gemacht?«
»Vergraben. Identitätsmarken herausgeschnitten und mit seinen Papieren verbrannt. Ich habe nur noch sein Geld und eine Quittung für sein Gepäck am Gare du Nord. Er hatte sein Zimmer schon aufgegeben und wollte abreisen heute morgen.«
»Verdammt, das war Glück! Irgendwelche Blutspuren?«
»Nein. Da war kaum Blut. Ich habe mein Zimmer im ›Prince de Galles‹ aufgegeben. Meine Sachen sind wieder hier. Es ist wahrscheinlich, daß die Leute, mit denen er hier zu tun hatte, annehmen, er sei abgereist. Wenn man das Gepäck abholen würde, würde keine Spur mehr von ihm hier sein.«
»Man wird in Berlin merken, daß er nicht ankommt, und hier zurückfragen.«
»Wenn das Gepäck nicht da ist, wird man nicht wissen, wohin er gefahren ist.«
»Man wird es wissen. Er hat seine Schlafwagenkarte nicht benutzt. Hast du sie verbrannt?«
»Ja.«
»Dann verbrenne die Quittung auch.«
»Man könnte sie an das Gepäckdepartement schicken und das Gepäck nach Berlin oder sonstwo gegen Nachnahme gehen lassen.«
»Das bleibt dasselbe. Es ist besser, sie zu verbrennen. Wenn du zu gerissen bist, wird man mehr vermuten als jetzt. So ist er einfach verschwunden. Das kommt vor in Paris. Man wird nachforschen und mit Glück herausfinden, wo er zuletzt gesehen worden ist. In der ›Osiris‹. Warst du drin?«
»Ja. Für eine Minute. Ich sah ihn. Er sah mich nicht. Ich habe dann draußen auf ihn gewartet. Da hat uns niemand gesehen.«
»Man kann nachfragen, wer um dieselbe Zeit in der ›Osiris‹ war. Rolande wird sich erinnern, daß du da warst.«
»Ich bin oft da. Das macht noch nichts.«
»Es ist besser, man fragt dich nichts. Emigrant, ohne Papiere. Weiß Rolande, wo du wohnst?«
»Nein. Aber sie kennt Vebers Adresse. Er ist der offizielle Arzt. Rolande gibt ihren Posten in einigen Tagen auf.«
»Man wird wissen, wo sie ist.« Morosow schenkte sich ein Glas ein. »Ravic, ich glaube, es ist besser, du verschwindest für einige Wochen.«
Ravic sah ihn an. »Das ist leicht gesagt, Boris. Wohin?« »Irgendwohin, wo Leute sind. Geh nach Cannes oder Deauville. Da ist jetzt viel los, und du kannst untertauchen. Oder nach Antibes. Du kennst es, und keiner fragt dich da nach Pässen. Ich kann von Veber und Rolande dann immer hören, ob die Polizei bei ihnen angefragt hat, um dich als Zeuge zu vernehmen.«
Ravic schüttelte den Kopf. »Am besten, man bleibt,’ wo man ist, und lebt so, als wäre nichts geschehen.« »Nein. Diesmal nicht.« Ravic sah Morosow an. »Ich laufe nicht weg. Ich bleibe hier. Das gehört mit dazu. Verstehst du das nicht?« Morosow erwiderte nichts darauf. »Verbrenne zunächst einmal die Gepäckquittung«, sagte er.
Ravic nahm den Zettel aus der Tasche, zündete ihn an und ließ ihn über dem Aschenbecher verbrennen. Morosow nahm den Kupferteller und schüttete die dünne Asche aus dem Fenster. »So, das ist erledigt. Du hast sonst nichts mehr von ihm bei dir?«
»Geld.«
»Laß es sehen.«
Er examinierte es. Es waren keine Zeichen darauf. »Das ist leicht unterzubringen. Was willst du damit machen?« »Ich kann es dem Refugiéfonds schicken. Anonym.« »Wechsle es morgen, und schick es in zwei Wochen.« »Gut.« Ravic steckte das Geld ein. Während er es zusammen faltete, fiel ihm plötzlich ein, daß er gegessen hatte. Er ließ den Blick flüchtig auf seine Hände gleiten. Sonderbar, was er da morgens alles gedacht hatte. Er nahm ein anderes Stück des frischen, dunklen Brotes.
»Wo wollen wir essen?« fragte Morosow.
»Irgendwo.«
Morosow sah ihn an. Ravic lächelte. Es war das erstemal, daß er lächelte. »Boris«, sagte er. »Sieh mich nicht an wie eine Krankenschwester jemand, bei dem sie einen Nervenzusammenbruch befürchtet. Ich habe ein Vieh ausgelöscht, das es tausendundtausendmal schlimmer verdient hat. Ich habe Dutzende von Menschen in meinem Leben getötet, die mich nichts angingen, und ich bin dekoriert worden dafür, und ich habe sie auch nicht in fairem Kampf getötet, sondern sie beschlichen, belauert, von hinten, wenn sie nichts ahnten, und es war Krieg und war ehrenvoll. Das einzige, was mir ein paar Minuten in der Kehle saß, war, daß ich es dem Kerl nicht vorher ins Gesicht sagen konnte, und das war ein idiotischer Wunsch. Er ist erledigt, und er wird keine Menschen mehr quälen, und ich habe darüber geschlafen, und es ist so weit weg jetzt, als läse ich es in der Zeitung.«
»Gut.« Morosow knöpfte seinen Rock zu. »Dann laß uns gehen. Ich brauche was zu trinken.«
Ravic blickte auf. »Du?«
»Ja, ich!« sagte Morosow. »Ich.« Er zögerte eine Sekunde. »Ist heute das erstemal, daß ich mich alt fühle.«