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Die Abschiedsfeier für Rolande begann pünktlich um sechs Uhr. Sie dauerte nur eine Stunde. Um sieben begann das Geschäft wieder.

Der Tisch war in einem Nebenraum gedeckt. Alle Huren waren angezogen. Die meisten trugen schwarze Seidenkleider. Ravic, der sie immer nur nackt oder mit ein paar dünnen Fetzen gesehen hatte, hatte Mühe, eine Anzahl von Ihnen wiederzuerkennen. Nur ein halbes Dutzend von ihnen war als Notfallsgruppe im großen Saal zurückgelassen worden. Sie würden sich um sieben Uhr umziehen und nachserviert bekommen. Keine von ihnen würde in Berufstracht herüberkommen. Es war nicht eine Vorschrift Madames — die Mädchen selbst hatten es so gewollt. Ravic hatte es nicht anders erwartet. Er kannte die Etikette unter Huren; sie war strenger als die der großen Gesellschaft.

Die Mädchen hatten zusammengelegt und Rolande sechs Korbsessel für ihr Restaurant geschenkt. Madame hatte eine Registrierkasse gestiftet, Ravic zwei Marmortische zu den Korbsesseln. Er war der einzige Außenseiter bei der Feier. Und der einzige Mann.

Das Essen begann fünf Minuten nach sechs. Madame präsidierte. Rechts von ihr saß Rolande, links Ravic. Es folgten die neue Gouvernante, die Hilfsgouvernante und dann die Reihen der Mädchen.

Die Hors d’œuvres waren hervorragend. Straßburger Gänseleber, Paté Maison, dazu alter Sherry. Ravic bekam eine Flasche Wodka. Er haßte Sherry. Es folgte Vichyoise feinster Qualität. Dann Turbot mit Meursault 1933. Der Turbot hatte die Klasse des Maxims. Der Wein war leicht und jung genug dazu. Dünne, grüne Spargel folgten. Dann am Spieß gebratene Hühner, knusprig und zart, ein erlesener Salat mit einem Hauch von Knoblauch, dazu Château St. Emilion. Am oberen Ende der Tafel wurde eine Flasche Romané Conti 1921 getrunken. »Die Mädchen verstehen das nicht«, erklärte Madame. Ravic verstand es. Er bekam eine zweite Flasche. Dafür verzichtete er auf den Champagner und die Mousse Chocolat. Er aß mit Madame einen fließenden Brie zu dem Wein, mit frischem, weißem Brot ohne Butter.

Die Unterhaltung bei Tisch war die eines Mädchenpensionats. Die Korbsessel waren mit Schleifen geschmückt. Die Registrierkasse glänzte. Die Marmortische schimmerten. Wehmut schwebte durch den Raum. Madame war in Schwarz. Sie trug Diamanten. Nicht zuviel. Eine Brosche und einen Ring. Ausgesuchte, blauweiße Steine. Keine Krone, obwohl sie Gräfin geworden war. Sie hatte Geschmack. Madame liebte Brillanten. Sie erklärte, Rubine und Smaragden seien Risiken. Diamanten seien sicher. Sie plauderte mit Rolande und Ravic. Sie war sehr belesen. Ihre Unterhaltung war amüsant, leicht und geistvoll. Sie zitierte Montaigne, Chateaubriand und Voltaire. Über dem klugen, ironischen Gesicht schimmerte das weiße, etwas blau gefärbte Haar.

Um sieben Uhr, nach dem Kaffee, erhoben sich die Mädchen wie folgsame Pensionstöchter. Sie bedankten sich höflich bei Madame und verabschiedeten sich von Rolande. Madame blieb noch eine Weile. Sie ließ einen Armagnac bringen, wie ihn Ravic noch nie getrunken hatte. Die Aushilfsbrigade, die Dienst gehabt hatte, kam herein, gewaschen, weniger geschminkt als bei der Arbeit, umgezogen, in Abendkleidern. Madame wartete, bis die Mädchen saßen und beim Turbot waren. Sie wechselte mit jedem ein paar Worte und bedankte sich, daß sie die Stunde vorher geopfert hatten. Dann verabschiedete sie sich graziös. »Ich sehe Sie noch, Rolande, bevor Sie gehen...«

»Gewiß, Madame.«

»Darf ich den Armagnac hier lassen?« fragte sie Ravic.

Ravic bedankte sich. Madame ging, jeder Zoll eine Dame erster Klasse.

Ravic nahm die Flasche und setzte sich zu Rolande hinüber. »Wann fährst du?« fragte er.

»Morgen nachmittag um vier Uhr sieben.«

»Ich werde an der Bahn sein.«

»Nein, Ravic. Das geht nicht. Mein Bräutigam kommt heute abend an. Wir fahren zusammen ab. Du verstehst, daß du da nicht kommen kannst? Er würde erstaunt sein.«

»Natürlich.«

»Wir wollen morgen früh noch einige Sachen aussuchen und alles abschicken lassen, bevor wir reisen. Ich ziehe heute abend ins Hotel Belfort. Gut, billig, sauber.«

»Wohnt er auch da?«

»Natürlich nicht«, sagt Rolande überrascht. »Wir sind doch noch nicht verheiratet.«

»Richtig.«

Ravic wußte, daß das alles keine Pose war. Rolande war eine Bürgerin, die einen Beruf gehabt hatte. Ob es ein Mädchenpensionat war oder ein Bordell, war dasselbe. Sie hatte ihren Beruf ausgefüllt, und jetzt war es vorbei, und sie kehrte zu ihrer bürgerlichen Welt zurück, ohne einen Schatten von der andern mitzunehmen. Es war ebenso bei vielen der Huren. Manche von ihnen wurden ausgezeichnete Ehefrauen. Hure zu sein war ein seriöser Beruf; kein Laster. Das sicherte vor Degradation.

Rolande nahm die Flasche Armagnac und goß Ravic ein neues Glas ein. Dann holte sie einen Zettel aus der Handtasche. »Wenn du einmal von Paris weg willst — hier ist die Adresse unseres Hauses. Du kannst immer kommen.«

Ravic blickte auf die Adresse. »Es sind zwei Namen«, sagte sie. »Einer für die ersten zwei Wochen. Er ist meiner. Danach ist es der meines Bräutigams.«

Ravic steckte den Zettel ein. »Danke, Rolande. Vorläufig bleibe ich in Paris. Außerdem würde dein Bräutigam sicher überrascht sein, wenn ich plötzlich hereingeschneit käme.«

»Du meinst, weil ich möchte, daß du nicht zur Bahn kommst? Das ist etwas anderes. Dieses hier gebe ich dir für jeden Fall, daß du einmal von Paris weg mußt. Rasch. Dafür.«

»Er sah auf. »Warum?«

»Ravic«, sagte sie. »Du bist ein Refugié. Und Refugiés haben manchmal Schwierigkeiten. Da ist es gut, zu wissen, wo man wohnen kann, ohne daß die Polizei sich kümmert.«

»Woher weißt du, daß ich ein Réfugié bin?«

»Ich weiß es. Ich habe es niemand gesagt. Es geht keinen hier etwas an. Bewahre die Adresse auf. Und wenn du sie einmal brauchst, komm. Bei uns fragt niemand.«

»Gut. Danke, Rolande.«

»Vor zwei Tagen war jemand von der Polizei hier. Er fragte nach einem Deutschen. Wollte wissen, ob er hier gewesen sei.«

»So?« sagte Ravic aufmerksam.

»Ja. Das letztemal, als du hereinkamst, war er hier. Du erinnerst dich wahrscheinlich nicht mehr. Ein dicker Kahlkopf. Er saß drüben mit Yvonne und Claire. Die Polizei fragte, ob er hier war und wer sonst noch hier gewesen sei.«

»Keine Ahnung«, sagte Ravic.

»Du hast ihn sicher nicht beobachtet. Ich habe natürlich nicht gesagt, daß du an dem Abend für einen Augenblick hier warst.«

Ravic nickte.

»Besser so«, erklärte Rolande. »Man gibt den Flics so keine Gelegenheit, unschuldige Leute nach Pässen zu fragen.«

»Natürlich. Sagte er, was er wollte?«

Rolande zuckte die Schultern. »Nein. Und uns geht das ja auch nichts an. Ich habe ihm gesagt, niemand wäre hier gewesen. Das ist eine alte Regel bei uns. Wir wissen nie etwas. Besser. Er war auch nicht sehr interessiert.«

»Nein?«

Rolande lächelte. »Ravic, es gibt viele Franzosen, die sich nichts daraus machen, was aus einem deutschen Touristen wird. Wir haben genug mit uns selbst zu tun.«

Sie stand auf. »Ich muß fort. Adieu, Ravic.«

»Adieu, Rolande. Es wird nicht mehr dasselbe sein hier, ohne dich.«

Sie lächelte. »Nicht gleich, vielleicht. Aber bald.«

Sie ging, um sich von den Mädchen zu verabschieden. Auf dem Wege betrachtete sie noch einmal die Registrierkasse, die Sessel und die Tische. Es waren praktische Geschenke. Sie sah sie bereits in ihrem Café. Besonders die Registrierkasse. Sie war Einkommen, Sicherheit, Heim und Wohlstand. Rolande zögerte einen Augenblick; dann konnte sie nicht mehr widerstehen. Sie nahm ein paar Geldstücke aus ihrer Handtasche, legte sie neben den glitzernden Apparat und begann zu tippen. Der Apparat schnurrte, zeigte zwei Frank fünfzig an, die Lade schoß heraus, und Rolande kassierte mit einem kindlich glücklichen Lächeln von sich selbst.

Die Mädchen kamen neugierig heran und umringten die Kasse. Rolande registrierte ein zweites Mal. Einen Frank fünfundsiebzig.

»Was bekommt man bei Ihnen für einen Frank fünfundsiebzig?« fragte Marguerite, die sonst noch das Roß genannt wurde.

Rolande dachte nach. »Einen Dubonnet, zwei Pernods.«

»Wieviel ist ein Amèr Picon und ein Bier?«

»Siebzig Centime.« Rolande klapperte. Null Frank, siebzig Centime.

»Billig«, sagte das Roß.

»Wir müssen billiger sein als Paris«, erklärte Rolande.

Die Mädchen rückten die Korbsessel um die Marmortische und setzten sich vorsichtig hinein. Sie strichen ihre Abendkleider glatt und waren plötzlich Besucher im künftigen Café Rolandes. »Wir möchten drei Tees mit englischen Biskuits, Madame Rolande«, sagte Daisy, eine zarte Blonde, die besonders bei Ehemännern beliebt war.

»Sieben Frank achtzig.« Rolande ließ die Kasse arbeiten. »Es tut mir leid, aber englische Biskuits sind sehr teuer.«

Marguerite, das Roß, am Nebentisch, hob nach scharfem Nachdenken den Kopf. »Zwei Flaschen Pommery«, bestellte sie triumphierend. Sie hatte Rolande gern und wollte ihr das zeigen.

»Neunzig Frank. Guter Pommery.«

»Und vier Kognaks«, schnaufte das Roß. »Ich habe Geburtstag.«

»Vier Frank vierzig.« Die Kasse klapperte.

»Und vier Kaffees mit Baisers?«

»Drei Frank sechzig.«

Das entzückte Roß starrte Rolande an. Es wußte nichts mehr.

Die Mädchen drängten sich um die Kasse. »Wieviel ist das zusammen, Madame Rolande?«

Rolande zeigte den Zettel mit den eingedruckten Zahlen vor. »Hundertfünf Frank achtzig.«

»Und wieviel ist davon Verdienst?«

»Ungefähr dreißig Frank. Das macht der Champagner, an dem man viel verdient.«

»Gut«, sagte das Roß. »Gut! So soll es immer gehen!«

Rolande kam zu Ravic zurück. Ihre Augen leuchteten, wie nur Augen leuchten können, wenn in ihnen die Liebe oder das Geschäft steht. »Adieu, Ravic. Vergiß nicht, was ich dir gesagt habe.«

»Nein. Adieu, Rolande.«

Sie ging, kräftig, aufrecht, klar — die Zukunft war einfach für sie und das Leben gut.

Er saß mit Morosow vor Fouquet’s. Es war neun Uhr abends. Die Terrasse war gedrängt voll. Fern, hinter dem Are, brannten zwei Laternen mit einem weißen, sehr kalten Licht.

»Die Ratten verlassen Paris«, sagte Morosow. »Im ›International stehen drei Zimmer leer. Das war nicht da seit 1933.«

»Es werden andere Emigranten kommen und sie füllen.«

»Was für welche? Wir hatten Russen, Italiener, Polen, Spanier, Deutsche...«

»Franzosen«, sagte Ravic. »Von den Grenzen. Flüchtlinge. Wie im letzten Krieg.«

Morosow hob sein Glas und sah, daß es leer war. Er winkte dem Kellner. »Noch eine Karaffe Pouilly.«

»Wie ist es mit dir, Ravic?« sagte er dann.

»Als Ratte?«

»Ja.«

»Ratten brauchen heute auch Pässe und Visa.«

Morosow sah ihn mißbilligend an. »Hast du bisher welche gehabt? Trotzdem warst du in Wien, Zürich, Spanien und Paris. Jetzt ist es Zeit, daß du hier verschwindest.«

»Wohin?« fragte Ravic. Er nahm die Karaffe, die der Kellner gebracht hatte. Das Glas war kühl und beschlagen. Er schenkte den leichten Wein ein. »Nach Italien? Da wartet die Gestapo an der Grenze. Nach Spanien? Da warten die Falangisten.«

»Nach der Schweiz.«

»Die Schweiz ist zu klein. In der Schweiz war ich dreimal. Jedesmal nach einer Woche hatte mich die Polizei und schickte mich nach Frankreich zurück.«

»England. Von Belgien als blinder Passagier.«

»Ausgeschlossen. Sie erwischen dich im Hafen und schicken dich nach Belgien zurück. Und Belgien ist kein Land für Emigranten.«

»Nach Amerika kannst du nicht. Wie ist es mit Mexiko?«

»Überfüllt. Und auch nur möglich mit wenigstens irgend einem Papier.«

»Du hast überhaupt keins?«

»Ich hatte ein paar Entlassungsscheine aus Gefängnissen, in denen ich unter verschiedenen Namen wegen illegalen Grenzübertritts gesessen habe. Nicht gerade das richtige. Ich habe sie natürlich immer gleich zerrissen.«

Morosow schwieg.

»Die Flucht ist zu Ende, alter Boris«, sagte Ravic. »Irgendwann ist sie immer einmal zu Ende.«

»Du weißt, was hier geschehen wird, wenn Krieg kommt?« »Selbstverständlich. Französische Konzentrationslager. Sie werden schlecht sein, weil nichts vorbereitet ist.«

»Und dann?«

Ravic zuckte die Achseln. »Man soll nicht zu weit voraus denken.«

»Gut. Aber weißt du, was geschehen kann, wenn hier alles drunter und drüber geht und du im Konzentrationslager sitzt? Die Deutschen können dich erwischen.«

»Mich und viele andere. Vielleicht. Vielleicht wird man uns auch rechtzeitig ’rauslassen. Wer weiß das?«

»Und dann?«

Ravic nahm eine Zigarette aus der Tasche. »Wir wollen darüber nicht reden, Boris. Ich kann nicht aus Frankreich heraus. Überall anders ist es gefährlich oder unmöglich. Ich will auch nicht mehr weiter.«

»Du willst nicht mehr weiter?«

»Nein. Ich habe darüber nachgedacht. Ich kann es dir nicht erklären. Es ist nicht zu erklären. Ich will nicht mehr weiter.«

Morosow schwieg. Er blickte über die Menge. »Da ist Joan«, sagte er.

Sie saß mit einem Mann ziemlich weit weg an einem Tisch nach der Avenue George V. »Kennst du ihn?« fragte er Ravic.

Ravic sah hinüber. »Nein.«

»Scheint ziemlich schnell zu wechseln.«

»Sie verfolgt das Leben«, sagte Ravic gleichgültig. »Wie die meisten von uns. Atemlos, etwas zu versäumen.«

»Man kann es auch anders nennen.«

»Das kann man. Es bleibt dasselbe. Ruhelosigkeit, mein Alter. Die Krankheit der letzten fünfundzwanzig Jahre. Keiner glaubt mehr, daß er friedlich mit seinem Ersparten altern wird. Jeder riecht den Brandgeruch und versucht zu schnappen, was er kann. Du nicht. Du bist ein Philosoph einfacher Vergnügungen.«

Morosow erwiderte nichts. »Sie versteht nichts von Hüten«, sagte Ravic. »Sieh dir an, was sie da auf hat! Sie hat überhaupt wenig Geschmack. Das ist ihre Stärke. Kultur schwächt. Zum Schluß kommt es immer wieder nur auf den nackten Lebenstrieb an. Du selbst bist ein herrliches Beispiel dafür.«

Morosow grinste. »Laß mir meine niedrigen Freuden, du Höhenwanderer. Wer einen einfachen Geschmack hat, dem gefällt viel. Er sitzt nie mit leeren Händen da. Wer sechzig ist und hinter der Liebe herrennt, ist ein Idiot, der gewinnen will, wenn die anderen mit gezinkten Karten spielen. Ein gutes Bordell gibt Frieden des Gemütes. Das Haus, das ich frequentiere, hat sechzehn junge Frauen. Für wenig Geld bin ich dort ein Pascha. Die Zärtlichkeiten, die ich empfange, sind echter als die, die mancher Knecht der Liebe beschluchzt. Knecht der Liebe, sagte ich.«

»Ich habe es verstanden, Boris.«

»Gut. Dann laß uns dies hier austrinken. Kühler, leichter Pouilly. Und laß uns die silberne Luft von Paris atmen, solange sie noch nicht verpestet ist.«

»Das wollen wir. Hast du gesehen, daß die Kastanien in diesem Jahr zum zweitenmal blühen?«

Morosow nickte. Er zeigte zum Himmel, an dem rötlich und groß über den dunklen Dächern der Mars funkelte. »Ja. Und der dort soll der Erde näher stehen als seit vielen Jahren.« Er lachte. »Bald werden wir lesen, daß irgendwo ein Kind mit einem Muttermal wie ein Schwert geboren wurde. Und daß irgendwo anders blutiger Regen gefallen ist. Es fehlt nur noch der rätselhafte Komet des Mittelalters, um die Vorzeichen voll zu machen.«

»Der Komet ist da.« Ravic zeigte auf die laufenden Leuchtschriften über dem Zeitungsgebäude, die sich ohne Pause zu jagen schienen, und auf die Menge, die schweigend davorstand, die Köpfe zurückgereckt.

Sie saßen eine Zeitlang. Ein Ziehharmonikaspieler postierte sich am Bordrand und spielte La Paloma. Die Teppichhändler mit den seidenen Keshans über den Schultern erschienen. Ein Junge verkaufte Pistazien zwischen den Tischen. Es schien alles wie immer — bis die Händler mit den neuen Zeitungsausgaben kamen. Sie wurden ihnen sofort aus den Händen gerissen, und die Terrasse sah ein paar Sekunden später mit all den entfalteten Zeitungen aus, als wäre sie begraben unter einem Schwarm riesiger, weißer, blutloser Motten, die mit leise schlagenden Flügeln gierig auf ihren Opfern saßen.

»Da geht Joan«, sagte Morosow.

»Wo?«

»Drüben.«

Joan ging schräg über die Straße zu einem grünen, offenen Wagen hinüber, der an der Champs-Elysées geparkt war. Sie sah Ravic nicht. Der Mann, der mit ihr war, ging um den Wagen herum und setzte sich ans Steuer. Er trug keinen Hut und war ziemlich jung. Er manövrierte den Wagen geschickt aus den andern heraus. Es war ein niedriger Delahaye.

»Schöner Wagen«, sagte Ravic.

»Schöne Reifen«, erwiderte Morosow und schnaufte. »Braver eiserner Ravic«, setzte er ärgerlich hinzu. »Detachiert und mitteleuropäisch. Schöner Wagen. Verfluchtes Luder — das würde ich verstehen.«

Ravic lächelte. »Was macht das aus? Luder oder Heilige — es ist immer nur, was man selber daraus macht. Du verstehst das nicht, mit deinen sechzehn Frauen, du friedlicher Bordellbesucher. Die Liebe ist kein Händler, der seine Einlagen zurückhaben will. Und die Phantasie braucht nur ein paar Nägel, um ihre Schleier daran zu hängen. Ob es goldene, blecherne oder verrostete sind, macht ihr nichts. Wo sie sich fängt, da fängt sie sich. Dornbüsche und Rosensträucher — wenn der Schleier aus Mond und Perlmutter darüber fällt, sind beide Märchen aus Tausendundeiner Nacht.«

Morosow nahm einen Schluck Wein. »Du redest zuviel«, sagte er. »Außerdem stimmt das alles nicht.«

»Das weiß ich. Aber in völliger Dunkelheit ist ein Irrlicht auch schon ein Licht, Boris.«

Die Kühle kam auf silbernen Füßen vom Etoile her. Ravic legte seine Hand um das beschlagene Glas mit Wein. Es war kühl unter seiner Hand. Sein Leben war kühl unter seinem Herzen. Der tiefe Atem der Nacht trug es, und mit ihm kam die tiefe Gleichgültigkeit gegen das Schicksal. Das Schicksal und die Zukunft. Wann war das schon einmal so ähnlich gewesen? In Antibes, erinnerte er sich. Als er wußte, daß Joan ihn verlassen würde. Es war eine Gleichgültigkeit, die zu Gleichmut wurde. So wie der Entschluß, nicht zu fliehen. Nicht mehr zu fliehen. Es gehörte zusammen. Er hatte Rache gehabt und Liebe. Das war genug. Es war nicht alles, aber es war so viel, wie ein Mann verlangen konnte. Er hatte beides nicht mehr erwartet. Er hatte Haake getötet und Paris nicht verlassen. Er würde es nicht mehr verlassen. Es gehörte dazu. Wer eine Chance nahm, mußte auch eine geben. Das war nicht Resignation; es war die Ruhe eines Entschlusses, jenseits von Logik. Aus Schwanken wurde Halt. Etwas war geordnet. Man wartete, sammelte sich und sah sich um. Es war wie ein mystisches Vertrauen, zu dem das Dasein sich sammelte vor einer Zäsur. Nichts war mehr von Bedeutung. Alle Flüsse wurden still. Ein See hob seinen Spiegel in die Nacht; der Morgen würde zeigen, wohin er sich ergießen würde.

»Ich muß gehen«, sagte Morosow und sah auf die Uhr.

»Gut. Ich bleibe noch, Boris.«

»Die letzten Abende vor der Götterdämmerung mitnehmen, wie?«

»Genau. Das wird alles nicht wiederkommen.«

»Ist das so schlimm?«

»Nein. Wir kommen ja auch nicht wieder. Das Gestern ist verloren, und keine Tränen und Beschwörungen bringen es zurück.«

»Du redest zu viel.« Morosow stand auf. »Sei dankbar. Du erlebst das Ende eines Jahrhunderts mit. Es war kein gutes Jahrhundert.«

»Es war unseres. Du redest zuwenig, Boris.«

Morosow trank den Rest seines Glases stehend aus. Er stellte es so vorsichtig zurück, als wäre es aus Dynamit und wischte sich den Bart. Er war in Zivil und stand mächtig und groß vor Ravic. »Glaube nicht, daß ich nicht verstehe, warum du nicht weg willst«, sagte er langsam. »Ich verstehe sehr gut, daß du nicht weiter willst, du fatalistischer Knochenschreiner.«

Ravic kam früh ins Hotel zurück. Im Vestibül sah er eine kleine verlorene Figur sitzen, die bei seinem Eintritt aufgeregt, mit einem sonderbaren Schwung beider Hände, vom Sofa aufstand. Er bemerkte, daß ein Bein der Hose keinen Fuß hatte. Ein schmutziger, splittriger Holzstumpf ragte statt dessen darunter hervor.

»Doktor — Doktor...«

Ravic blickte genauer hin. Im trüben Licht des Foyers sah er das Gesicht eines Jungen, breitgezogen in ein einziges Grinsen. »Jeannot«, sagte er überrascht. »Natürlich, das ist Jeannot!«

»Richtig! Immer noch! Ich warte schon den ganzen Abend hier. Habe erst heute nachmittag Ihre Adresse gekriegt. Hatte schon vorher ein paarmal versucht, sie von dem alten Teufel, der Oberschwester in der Klinik, zu erfahren. Aber sie sagte mir jedesmal, Sie wären nicht mehr in Paris.«

»Ich war auch eine Zeitlang nicht hier.«

»Heute nachmittag hat sie mir endlich erklärt, daß Sie hier wohnen. Da bin ich gleich gekommen.« Jeannot strahlte.

»Ist etwas los mit deinem Bein?« fragte Ravic.

»Nichts!« Jeannot klopfte auf den Holzstumpf, als klopfe er einem treuen Hunde auf den Rücken. »Absolut nichts. Alles tadellos.«

Ravic blickte auf den Stumpf. »Ich sehe, du hast, was du wolltest. Wie bist du mit der Versicherung auseinandergekommen?«

»Nicht schlecht. Sie haben mir ein mechanisches Bein bewilligt. Ich habe das Geld dafür von dem Geschäft mit fünfzehn Prozent Abzug bekommen. Alles in Ordnung.«

»Und deine Crèmerie?«

»Deshalb bin ich hier. Wir haben das Milchgeschäft aufgemacht. Klein, aber wir kommen durch. Mutter verkauft. Ich kaufe ein und verrechne. Habe gute Quellen. Direkt vom Lande.«

Jeannot hinkte zu dem abgeschabten Sofa zurück und holte ein festverschnürtes, braun eingepacktes Paket. »Hier, Doktor! Für Sie! Ich habe Ihnen das mitgebracht. Nichts Besonderes. Aber alles aus unserem Geschäft — das Brot, die Butter, der Käse, die Eier. Wenn man mal keine Lust hat, auszugehen, ist das schon ein ganz gutes Abendessen, wie?«

Er schaute eifrig in Ravics Augen. »Das ist sogar immer ein gutes Abendessen«, sagte Ravic.

Jeannot nickte befriedigt. »Ich hoffe, Sie mögen den Käse. Es ist Brie und etwas Pont l’Evêque.«

»Das sind meine Lieblingskäse.«

»Großartig!« Jeannot schlug sich vor Vergnügen kräftig auf den Rest seines eigenen Beins. »Der Pont l’Evêque war Mutters Idee. Ich dachte, Sie hätten Brie lieber. Brie ist mehr ein Käse für einen Mann.«

»Beide sind erstklassig. Ihr konntet es nicht besser treffen.« Ravic nahm das Paket. »Danke, Jeannot. Es kommt nicht oft vor, daß Patienten sich an ihren Arzt erinnern. Meistens kommen sie nur, um von ihrer Rechnung etwas abzuhandeln.«

»Die Reichen, eh?« Jeannot nickte pfiffig. »Wir nicht. Schließlich verdanken wir Ihnen doch alles. Wenn das Bein nur steif geblieben wäre, hätten wir fast nichts gekriegt.«

Ravic sah ihn an. Glaubt er etwa, ich habe ihm das Bein aus Gefälligkeit amputiert? dachte er.

»Wir konnten nichts anderes machen als amputieren, Jeannot«, sagte er.

»Sicher.« Jeannot zwinkerte ihm zu. »Klar.« Er zog seine Kappe tiefer in die Stirn. »Dann will ich jetzt gehen. Mutter wartet bestimmt schon. Ich bin schon lange von zu Hause fort. Muß auch noch jemand sprechen, wegen eines neuen Roquefort. Adieu, Doktor. Hoffentlich schmeckt es.«

»Adieu, Jeannot. Danke. Und viel Glück.«

»Glück werden wir schon haben!«

Die kleine Gestalt winkte und hinkte selbstbewußt hinaus.

Ravic packte in seinem Zimmer die Sachen aus. Er suchte und fand einen alten Spirituskocher, den er seit Jahren nicht mehr gebraucht hatte. Irgendwo fand er auch ein Paket Hartspiritus und eine kleine Pfanne. Er nahm zwei Vierecke des Heizstoffs, legte sie auf den Kocher und zündete sie an. Die schmale, blaue Flamme flackerte. Er warf ein Stück Butter in die Pfanne, brach zwei Eier und mischte sie hinein. Dann schnitt er das frische, knusprige, weiße Brot, stellte die Pfanne mit ein paar Zeitungen als Unterlage auf den Tisch, öffnete den Brie, holte eine Flasche Vouvray und begann zu essen. Er hatte das lange nicht mehr getan. Er beschloß, morgen eine größere Anzahl Pakete mit Hartspiritus zu kaufen. Den Kocher konnte er leicht mitnehmen in ein Lager. Er war zusammenklappbar.

Ravic aß langsam. Er versuchte auch noch den Pont l’Evêque. Jeannot hatte recht — es war ein gutes Abendessen.