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»Der Auszug aus Ägypten«, sagte der Doktor der Philologie und Philosophie Seidenbaum zu Ravic und Morosow, »ohne Moses.«
Er stand dünn und gelb neben der Tür des »International«. Draußen verluden die Familien Stern, Wagner und der Junggeselle Stolz ihre Sachen. Sie hatten zusammen einen Möbelwagen gemietet.
Unter dem hellen Augustnachmittag stand eine Anzahl Möbel auf der Straße. Ein vergoldetes Sofa mit Aubussonüberzug, ein paar vergoldete Sessel dazu und ein neuer Aubussonteppich. Sie waren das Eigentum der Familie Stern. Ein mächtiger Mahagonitisch wurde gestellt. Selma Stern, eine Frau mit verwelktem Gesicht und Sammetaugen, behütete ihn wie eine Glucke ihre Küken.
»Achtung! Die Platte! Machen Sie keinen Kratzer! Die Platte! Vorsicht! Vorsicht!«
Die Platte war poliert und gewachst. Sie war eines der Heiligtümer, für die Hausfrauen ihr Leben riskieren. Selma Stern umflatterte den Tisch und die beiden Packer, die ihn völlig unbeteiligt aus dem Hotel trugen und ihn draußen niedersetzten.
Die Sonne schien auf die Platte. Selma bückte sich mit einem Wischtuch darüber. Sie polierte nervös die Ecken. Die Platte reflektierte wie ein dunkler Spiegel ihr bleiches Gesicht, als sähe eine tausendjährige Vorfahrin sie fragend aus dem Spiegel der Zeit an.
Die Packer erschienen mit einem Mahagonibüfett. Es war ebenso gewachst und poliert. Einer der Männer drehte sich zu früh herum, und eine Ecke des Büfetts schrammte den Türeingang des Hotels »International«.
Selma Stern schrie nicht. Sie stand wie versteinert da, eine Hand mit dem Wischtuch erhoben, den Mund halb offen, als sei sie versteinert, während sie gerade das Wischtuch in den Mund stopfen wollte.
Josef Stern, ihr Mann, klein, mit einer Brille und hängender Unterlippe, näherte sich ihr. »Nu, Selmachen...« Sie sah ihn nicht. Sie starrte ins Leere. »Das Büfett...« »Nu, Seimachen. Wir haben die Visa...« »Das Büfett von meiner Mutter. Von meinen Eltern...« »Nu, Selmachen. Ein Kratzer. Schon so ein Kratzerchen. Hauptsache, wir haben die Visa...« »Das bleibt. Das kann man nie mehr wegkriegen.« »Madame«, sagte der Möbelpacker, der nichts verstand, aber genau wußte, worum es ging. »Packen Sie doch Ihren Kram selbst. Ich habe die Tür nicht zu schmal gemacht.«
»Sales boches«, sagte der andere.
Josef Stern wurde lebendig. »Wir sind keine boches«, sagte er. »Wir sind Emigranten.« »Sales Refugiés«, sagte der Mann. »Siehste, Selmachen, da stehen wir nu«, sagte Stern.
»Was mache wer nu? Was ham wer schon für Geseires gehabt mit deine Mahagoni. Aus Koblenz sind wir vier Monate später ’raus, weil du dich nicht trennen konntest. Achtzehntausend Mark Reichsfluchtsteuer mehr hat uns das gekostet. Und nu stehn wir hier auf der Straße, und das Schiff wartet nicht.«
Er legte den Kopf zur Seite und sah bekümmert auf Morosow. »Was soll man machen?« sagte er. »Sales boches! Sales refugiés! Sag’ ich ihm jetzt, wir sind Juden, wird er sagen: Sales juifs, und dann ist es ganz aus.«
»Geben Sie ihm Geld«, sagte Morosow.
»Geld? Er wird es mir ins Gesicht schmeißen.«
»Ausgeschlossen«, erwiderte Ravic. »Wer so schimpft , ist immer bestechlich.«
»Es ist gegen meinen Charakter. Beleidigt werden und noch dafür bezahlen.«
»Wirkliche Beleidigungen fangen erst an, wenn sie persönlich werden«, erklärte Morosow. »Dies war eine allgemeine Beleidigung. Beleidigen Sie den Mann zurück, indem Sie ihm ein Trinkgeld geben.«
In Sterns Augen funkelte ein Lächeln. »Gut«, sagte er zu Morosow. »Gut.«
Er nahm ein paar Scheine heraus und gab sie den Pakkern. Beide nahmen sie verachtungsvoll. Stern steckte verachtungsvoll seine Brieftasche wieder ein. Die Packer sahen sich um. Dann begannen sie, die Aubussonstühle einzuladen. Das Büfett nahmen sie aus Prinzip zuletzt. Als sie es einluden, gaben sie ihm eine Drehung, und die rechte Seite schrammte den Möbelwagen. Selma Stern zuckte, sagte aber nichts. Stern sah es gar nicht. Er überzählte seine Visa und seine Papiere.
»Nichts sieht so jammervoll aus, wie Möbel auf der Straße«, sagte Morosow.
Die Sachen der Familie Wagner standen jetzt da. Ein paar Stühle, ein Bett, das schamlos und traurig wirkte, so mitten auf der Straße. Zwei Koffer — Viareggio, das Grand Hotel Gardone, das Adlon, Berlin. Ein drehbarer Spiegel in einem Goldrahmen, in dem die Straße sich spiegelte. Küchengeräte — man verstand nicht, wozu das nach Amerika mitgenommen werden sollte.
»Verwandte«, sagte Leonie Wagner. »Verwandte in Chikago haben das alles für uns gemacht. Sie haben uns das Geld geschickt und das Visum besorgt. Nur ein Visitor-Visum. Man muß dann nach Mexiko gehen. Verwandte. Verwandte von uns.«
Sie war beschämt. Sie fühlte sich wie ein Deserteur, solange sie die Augen der Zurückbleibenden auf sich fühlte. Sie wollte deshalb rasch weg. Sie half selbst mit, die Sachen in den Möbelwagen zu schieben. Sie würde aufatmen, wenn sie nur um die nächste Ecke war. Und die neue Angst würde beginnen. Ob das Schiff auch ginge. Ob man sie an Land ließe. Ob man sie nicht zurückschickte. Es war immer eine Angst nach der anderen. Seit Jahren.
Der Junggeselle Stolz hatte fast nichts als Bücher. Einen Koffer mit Kleidern und seine Bibliothek. Erstdrucke, alte Ausgaben, neue Bücher. Er war verwachsen, rothaarig und schweigsam.
Eine Anzahl der Zurückbleibenden sammelte sich langsam in der Tür vor dem Hotel. Die meisten sagten nichts. Sie sahen nur die Sachen und den Möbelwagen an.
»Auf Wiedersehen dann«, sagte Leonie Wagner nervös. Es war alles eingeladen. »Oder good bye.« Sie lachte irritiert. »Oder adieu. Man weiß ja heute nicht mehr.«
Sie begann ein paar Hände zu schütteln. »Verwandte drüben«, sagte sie. »Verwandte. Wir selber hätten natürlich nie...«
Sie hörte bald auf. Der Doktor Ernst Seidenbaum klopfte ihr auf die Schulter. »Macht nichts. Manche haben Glück, manche nicht.«
»Die meisten nicht«, sagte der Emigrant Wiesenhoff. »Macht nichts. Gute Reise.«
Josef Stern verabschiedete sich von Ravic und Morosow und einigen anderen. Er lächelte wie jemand, der einen Bankbetrug begangen hatte. »Wer weiß, wie es noch wird. Vielleicht sehnen wir uns noch nach dem international zurück.«
Selma Stern saß bereits im Wagen. Der Junggeselle Stolz verabschiedete sich nicht. Er fuhr nicht nach Amerika. Er hatte nur Papiere bis Portugal. Er hielt das für zu unbedeutend für eine Abschiedsszene. Er winkte nur kurz, als der Wagen losratterte.
Die Zurückbleibenden standen wie eine Schar verregneter Hühner herum. »Komm«, sagte Morosow zu Ravic. »Auf, in die Katakomben! Dies schreit nach Calvados!«
Sie saßen kaum, als die anderen hereinkamen. Sie trieben herein wie losgerissene Blätter vor einem Wind. Zwei Rabbis, bleich, mit schütteren Bärten, Wiesenhoff, Ruth Goldberg, der Schachautomat Finkenstein, der Fatalist Seidenbaum, eine Anzahl Ehepaare, ein halbes Dutzend Kinder, Rosenfeld, der Besitzer der Impressionisten, der doch nicht weggekommen war, ein paar Halbwüchsige und einige sehr alte Leute.
Es war noch zu früh für das Abendessen; aber es schien, daß keiner von allen in die Einsamkeit des Zimmers hinauf wollte. Sie hockten zusammen. Sie waren leise, fast ergeben. Sie hatten so viel Unglück gehabt; es kam schon fast nicht mehr darauf an.
»Die Aristokratie ist abgereist«, sagte Seidenbaum. »Hier tagt jetzt die Versammlung der lebenslänglich oder zum Tode Verurteilten. Das auserwählte Volk! Jehovas Lieblinge! Speziell für Pogrome. Es lebe das Leben.«
»Da ist immer noch Spanien«, sagte Finkenstein. Er hatte das Schachbrett vor sich und die Schachaufgabe des »Matin«.
»Spanien. Die Faschisten küssen die Juden, wenn sie herüberkommen.«
Die dicke, elastische Kellnerin brachte den Calvados. Seidenbaum setzte sein Pincenez auf. »Nicht einmal das können die meisten von uns«, erklärte er, »sich gründlich betrinken. Eine Nacht des Elends los sein. Nicht einmal das. Die Nachkommen Ahasvers. Selbst er, der alte Wanderer, würde verzweifeln; heute, ohne Papiere, käme er nicht weit.«
»Trinken Sie einen mit«, sagte Morosow. »Der Calvados ist gut. Die Wirtin weiß es noch nicht, gottlob. Sonst würde sie den Preis erhöhen.«
Seidenbaum schüttelte den Kopf. »Ich trinke nicht.«
Ravic sah auf einen Mann, der ziemlich unrasiert war und alle Augenblicke einen Spiegel hervorholte, sich darin betrachtete und nach einer Weile von neuem damit begann. »Wer ist das?« fragte er Seidenbaum. »Den habe ich noch nie hier gesehen.«
Seidenbaum verzog die Lippen. »Das ist der neue Aaron Goldberg.«
»Wieso? Hat die Frau so rasch wieder geheiratet?«
»Nein. Sie hat ihm den Paß des toten Goldberg verkauft. Zweitausend Frank. Der alte Goldberg hatte einen grauen Bart; deshalb läßt sich der neue drüben auch einen wachsen. Wegen der Paßfotografie. Sehen Sie nur, wie er zupft und zupft. Er traut sich nicht, den Paß zu benutzen, bevor er einen ähnlichen Bart hat. Es ist ein Rennen gegen die Zeit.«
Ravic betrachtete den Mann, der nervös an seinen Stoppeln zerrte und sie mit dem Paß verglich. »Er kann immer noch sagen, der Bart wäre ihm abgebrannt.«
»Gute Idee. Ich werde ihm das erklären.« Seidenbaum nahm sein Pincenez ab und schaukelte es hin und her. »Makabre Sache«, lächelte er. »Es war ein reines Geschäft vor zwei Wochen. Jetzt ist Wiesenhoff bereits eifersüchtig, und Ruth Goldberg ist konfus. Dämonie des Papiers. Auf dem Papier ist er ihr Mann.«
Er stand auf und ging zu dem neuen Aaron Goldberg hinüber.
»Dämonie des Papiers gefällt mir.« Morosow wandte sich an Ravic. »Was machst du heute?«
»Kate Hegström fährt abends mit der ›Normandie‹. Ich werde sie nach Cherbourg bringen. Sie hat ihren Wagen. Ich nehme ihn zurück und bringe ihn zur Garage. Sie hat ihn dem Garagenbesitzer verkauft.«
»Kann sie reisen?«
»Natürlich. Es ist ganz gleich, was sie macht. Das Schiff hat einen guten Arzt. In New York...« Er zuckte die Achseln und trank sein Glas aus.
Die Luft in den Katakomben war schwül und tot. Der Raum hatte keine Fenster. Unter der verstaubten, künstlichen Palme saß ein altes Ehepaar. Sie waren völlig versunken in eine Traurigkeit, die sie wie eine Mauer umstand. Sie saßen regungslos, Hand in Hand, und es schien, als könnten sie sich nicht mehr erheben.
Ravic hatte plötzlich das Gefühl, aller Jammer der Welt sei eingesperrt in diesen unterirdischen Raum, dem das Licht fehlte. Die kranken, elektrischen Birnen hingen gelb und verwelkt an den Wänden und machten es noch trostloser. Das Schweigen, das Flüstern, das Kramen in den hundertmal umgewendeten Papieren, das Überzählen, das stumme Dasitzen, die hilflose Erwartung des Endes, das krampfhafte bißchen Courage, das tausendmal gedemütigte Leben, das nun, in die Ecke gedrängt, entsetzt, nicht mehr weiter konnte — er spürte es auf einmal, er konnte es riechen, er roch die Angst, die letzte, riesenhafte, schweigende Angst, er roch sie, und er wußte, wo er sie vorher gerochen hatte — im Konzentrationslager, als man die Leute von den Straßen, aus den Betten hineingetrieben hatte und sie in den Baracken standen und darauf warteten, was mit ihnen geschehen würde.
Am Tisch neben ihm saßen zwei Leute. Eine Frau, die das Haar in der Mitte gescheitelt hatte, und ihr Mann. Vor ihnen stand ein Junge von ungefähr acht Jahren. Er hatte herumgehorcht an den Tischen und war jetzt herübergekommen. »Warum sind wir Juden?« fragte er die Frau.
Die Frau antwortete nicht.
Ravic sah Morosow an.
»Ich muß los«, sagte er. »Zur Klinik.«
»Ich muß auch weg.«
Sie gingen die Treppe hinauf. »Zuviel ist zuviel«, sagte Morosow. »Das sage ich dir als ehemaliger Antisemit.«
Die Klinik war eine optimistische Angelegenheit nach den Katakomben. Auch hier war Qual, Krankheit und Elend — aber hier hatte es wenigstens eine Art von Logik und Sinn. Man wußte, weshalb es so war und was zu tun und nicht zu tun war. Es waren Fakten; man konnte sie sehen, und man konnte versuchen, etwas dagegen zu tun.
Veber saß in seinem Untersuchungszimmer und las eine Zeitung. Ravic sah ihm über die Schulter. »Allerhand, was?« fragte er.
Veber warf die Zeitung auf den Boden. »Diese korrupte Bande! Aufhängen sollte man fünfzig Prozent unserer Politiker.«
»Neunzig«, erklärte Ravic. »Haben Sie noch etwas von der Frau gehört, die bei Durant in der Klinik liegt?«
»Sie ist in Ordnung.« Veber griff nervös nach einer Zigarre. »Für Sie ist das einfach, Ravic. Aber ich bin Franzose.«
»Ich bin gar nichts. Aber ich wollte, Deutschland wäre nur so korrupt wie Frankreich.«
Veber sah auf. »Ich rede Unsinn. Entschuldigen Sie.« Er vergaß, die Zigarre anzuzünden. »Es kann keinen Krieg geben, Ravic! Es kann einfach nicht! Es ist Gebell und Gedrohe. Im letzten Augenblick wird noch etwas geschehen!«
Er schwieg eine Zeitlang. All seine frühere Sicherheit war vorbei. »Wir haben schließlich noch die Maginotlinie«, sagte er dann, beinahe beschwörend.
»Natürlich«, erwiderte Ravic ohne Überzeugung. Er hatte das tausendmal gehört. Unterhaltungen mit Franzosen endeten meistens damit.
Veber wischte sich die Stirn. »Durant hat sein Vermögen nach Amerika geschickt. Seine Sekretärin hat es mir gesagt.«
»Typisch.«
Veber sah Ravic mit gehetzten Augen an. »Er ist nicht der einzige. Mein Schwager hat seine französischen Papiere gegen amerikanische eingewechselt. Gaston Nerée hat sein Geld in Dollarnoten in einem Safe. Und Dupont soll ein paar Säcke Gold vergraben haben in seinem Garten.« Er stand auf. »Ich kann nicht darüber reden. Ich weigere mich. Es ist unmöglich. Es ist unmöglich, daß man Frankreich verraten und verschachern kann. Wenn Gefahr droht, wird sich alles zusammenfinden. Alles.«
»Alles«, sagte Ravic, ohne zu lächeln. »Auch die Industrie und die Politiker, die jetzt schon Geschäfte mit Deutschland machen.«
Veber bezwang sich. »Ravic — wir — wollen wir lieber von etwas anderem reden?«
»Gut. Ich bringe Kate Hegström nach Cherbourg. Ich bin um Mitternacht zurück.«
»Schön.« Veber atmete heftig. »Was... was haben Sie vorbereitet für sich, Ravic?«
»Nichts. Ich werde in ein französisches Konzentrationslager kommen. Es wird besser sein als ein deutsches.«
»Ausgeschlossen. Frankreich wird keine Refugiés einsperren.«
»Warten wir ab. Es ist selbstverständlich, und man kann nichts dagegen sagen.«
»Ravic...«
»Schön. Warten wir ab. Hoffen wir, Sie haben recht. Wissen Sie, daß der Louvre geräumt wird? Man schickt die besten Bilder nach Mittelfrankreich «
»Nein. Woher wissen Sie das?«
»Ich war heute nachmittag da. Die blauen Fenster der Kathedrale von Chartres sind ebenfalls schon verpackt. Ich war gestern da. Sentimentale Reise. Wollte sie noch einmal sehen. Sie waren schon fort. Ein Flugplatz ist zu nahe dabei. Neue Fenster waren schon drin. So, wie im vorigen Jahr zur Zeit der Münchner Konferenz.«
»Sehen Sie!« Veber klammerte sich sofort daran. »Damals ist auch nichts geschehen. Große Aufregung, und dann kam Chamberlain mit dem Regenschirm des Friedens.«
»Ja. Der Regenschirm des Friedens ist noch in London — und die Göttin des Sieges steht noch im Louvre — ohne Kopf. Sie bleibt. Zu schwer zu transportieren. Ich muß gehen. Kate Hegström wartet.«
Die »Normandie« lag weiß mit tausend Lichtern in der Nacht am Kai. Der Wind kam kühl und salzig vom Wasser her. Kate Hegström zog ihren Mantel fester um sich. Sie war sehr dünn. Ihr Gesicht hatte fast nur noch Knochen, über die sich die Haut spannte, und darüber lagen, erschreckend groß, die Augen wie dunkle Teiche.
»Ich bliebe lieber hier«, sagte sie. »Es ist plötzlich so schwer, wegzugehen.«
Ravic starrte sie an. Da lag das mächtige Schiff, die Gangway hell erleuchtet, Menschen strömten hinein, viele davon so eilig, als fürchteten sie, im letzten Moment noch zu spät zu kommen; da lag der schimmernde Palast, und er hieß nicht mehr »Normandie«, er hieß Entkommen, Flucht, Rettung; er war in tausend Städten und Zimmern und dreckigen Hotels und Kellern Europas für Zehntausende von Menschen eine unerreichbare Fata Morgana des Lebens, und hier sagte jemand neben ihm, dem der Tod die Eingeweide zerfraß, mit dünner und lieblicher Stimme: »Ich bliebe lieber hier.«
Es hatte alles keinen Sinn. Für die Emigranten im »International«, für die tausend »Internationais« in Europa, für all die Gehetzten, Gefolterten, Fliehenden, Gestellten, wäre dieses das gelobte Land gewesen; sie wären zusammengebrochen, hätten geschluchzt und die Gangway geküßt und an Wunder geglaubt, wenn sie den Fahrscheinzettel gehabt hätten, der in der müden Hand neben ihm flatterte, das Fahrscheinheft eines Menschen, der ohnehin in den Tod fuhr und der gleichzeitig sagte: »Ich bliebe lieber hier.«
Eine Gruppe Amerikaner kam heran. Langsam, herzlich, laut. Sie hatten alle Zeit der Welt. Die Gesandtschaft hatte sie gedrängt, zu fahren. Sie diskutierten es. Schade eigentlich! Es wäre »fun« gewesen, sich die Sache weiter anzusehen. Was konnte ihnen schon passieren? Der Gesandte! Man war neutral! Schade eigentlich!
Der Geruch von Parfüm. Schmuck. Das Gesprüh von Diamanten. Vor ein paar Stunden hatte man im »Maxime« gegessen, lächerlich billig in Dollars, mit einem Corton 29 dazu und einem Pol Roger 28 als Abschluß; jetzt das Schiff, man würde an der Bar sitzen, Backgammon spielen, ein paar Whiskys trinken — und vor den Konsulaten die langen, hoffnungslosen Menschenreihen, der Geruch der Todesangst wie eine Wolke darüber, ein paar überarbeitete Angestellte, das Standgericht eines kleinen Sekretärs, der immer wieder den Kopf schüttelte — »Nein, kein Visa, nein, unmöglich«, die schweigende Verurteilung schweigender Schuldloser — Ravic starrte auf das Schiff, das kein Schiff mehr war, eine leichte Arche, die sich anschickte, vor der Sintflut davonzugleiten, der Sintflut, der man einmal entkommen war und die sich jetzt anschickte, einen einzuholen.
»Es wird Zeit für Sie, Kate.«
»Wird es? Adieu, Ravic.«
»Adieu, Kate.«
»Wir brauchen uns nichts vorzulügen, wie?«
»Nein.«
»Kommen Sie bald nach...«
»Sicher, Kate. Bald...«
»Adieu, Ravic. Danke für alles. Ich werde jetzt gehen.
Ich werde da hinaufgehen und winken. Bleiben Sie hier, bis das Schiff fährt, und winken Sie mir.«
»Gut, Kate.«
Sie ging langsam die Gangway hinauf. Ihre Gestalt schwankte ganz wenig. Ihre Gestalt, schmaler als alle neben ihr, rein in der Struktur, fast ohne Fleisch, hatte die schwarze Eleganz sicheren Todes. Ihr Gesicht war kühn, wie der Kopf einer ägyptischen Bronzekatze — nur noch Linie, Atem und Augen.
Die letzten Fahrgäste. Ein Jude, schweißüberströmt, einen Pelzmantel über dem Arm, fast hysterisch, mit zwei Gepäckträgern, schreiend, laufend. Die letzten Amerikaner. Dann die Gangway, die langsam eingezogen wurde. Ein sonderbares Gefühl. Eingezogen, unwiderruflich. Das Ende. Ein schmaler Streifen Wasser. Die Grenze. Zwei Meter Wasser nur — aber die Grenze zwischen Europa und Amerika. Zwischen Rettung und Untergang.
Ravic suchte nach Kate Hegström. Er fand sie bald. Sie stand an der Reling und winkte. Er winkte zurück.
Das Schiff schien sich zu bewegen. Das Land schien sich zurückzuziehen. Wenig. Kaum merkbar. Und plötzlich war das weiße Schiff frei. Es schwebte auf dem dunklen Wasser, vor dem dunklen Himmel, unerreichbar. Kate Hegström war nicht mehr zu erkennen, und die Zurückbleibenden sahen sich schweigend und verlegen oder mit falscher Fröhlichkeit an und gingen eilig oder zögernd fort.
Der Wagen fuhr durch den Abend zurück nach Paris. Die Hecken und Obstbaumgärten der Normandie flogen vorüber. Der Mond hing oval und groß am nebligen Himmel. Das Schiff war vergessen. Nur noch die Landschaft, der Geruch nach Heu und reifen Äpfeln, die Stille und die tiefe Ruhe des Unabänderlichen.
Der Wagen fuhr fast lautlos. Er fuhr, als hätte die Schwerkraft keine Macht über ihn. Häuser glitten vorüber, Kirchen, Dörfer, die goldenen Flecken der Estaminets und Bistros, ein blinkender Flußlauf, eine Mühle, und dann wieder die falsche Kontur der Ebene, über die der Himmel sich wölbte wie die Innenseite einer riesenhaften Muschel, in deren milchigem Perlmutter die Perle des Mondes schimmerte.
Es war ein Ende und eine Erfüllung. Ravic hatte es schon einige Male vorher empfunden; aber jetzt kam es ganz, sehr stark und unentrinnbar, es durchdrang ihn, und nichts widerstrebte mehr.
Alles war schwebend und ohne Gewicht. Zukunft und Vergangenheit begegneten sich, und beide waren ohne Wünsche und Schmerzen. Nichts war wichtiger und stärker als das andere. Die Horizonte waren im Gleichgewicht, und für einen sonderbaren Augenblick waren die Schalen des Daseins gleich. Das Schicksal war nie stärker als der gelassene Mut, den man ihm entgegensetzte. Wenn es unerträglich werden würde, konnte man sich töten. Es war gut, das zu wissen, aber es war auch gut zu wissen, daß nie etwas verloren war, solange man noch lebte.
Ravic kannte die Gefahr. Er wußte, wohin er ging, und er wußte auch, daß er sich morgen wieder wehren würde — aber in dieser Nacht, in dieser Stunde der Rückkehr von der Küste eines verlorenen Ararats in den Blutgeruch der kommenden Zerstörung war plötzlich alles ohne Namen; Gefahr war Gefahr und doch nicht Gefahr; Schicksal war Opfer und Gottheit, der man opferte, zugleich. Und das Morgen war eine unbekannte Welt.
Es war alles gut. Das, was gewesen war, und das, was kam. Es war genug. Wenn es das Ende sein würde, so war es gut. Er hatte einen Menschen geliebt und ihn verloren. Er hatte einen andern gehaßt und ihn getötet. Beide hatten ihn befreit. Der eine hatte sein Gefühl wieder aufbrechen lassen, der andere seine Vergangenheit ausgelöscht. Es war nichts zurückgeblieben, was unerfüllt war. Es war kein Wunsch mehr da; kein Haß und keine Klage. Wenn es ein neues Beginnen war, so war es das. Ohne Erwartung, die gestärkt und nicht zerrissen war, würde man anfangen. Die Aschen waren ausgeräumt, paralysierte Stellen lebten wieder, aus Zynismus war Stärke geworden. Es war gut.
Hinter Caën kamen die Pferde. Lange Kolonnen in der Nacht, Pferde, Pferde, schattenhaft im Mondlicht. Und dann Viererkolonnen, Männer mit Bündeln, Pappkartons, Paketen. Der Beginn der Mobilisation.
Sie waren fast geräuschlos. Niemand sang. Kaum jemand sprach. Sie zogen schweigend durch die Nacht, Kolonnen von Schatten, an der rechten Seite der Straße, um Raum zu lassen für die Wagen.
Ravic passierte eine nach der andern. Pferde, dachte er. Pferde. Wie 1914. Keine Tanks. Pferde.
Er hielt an einer Benzinstation und ließ den Wagen nachfüllen. Der kleine Ort hatte noch Licht in den Fenstern, aber er war fast verstummt. Eine Kolonne zog hindurch. Die Leute starrten ihr nach. Sie winkten nicht.
»Ich gehe morgen«, sagte der Mann an der Tankstelle. Er hatte ein klares, bäuerliches, braunes Gesicht. »Mein Vater fiel im letzten Krieg. Mein Großvater 1871. Ich gehe morgen. Es ist immer dasselbe. Seit ein paar hundert Jahren machen wir das nun schon. Und es nützt nichts, wir müssen wieder gehen.«
Er umfaßte mit einem Blick die schäbige Pumpe, das kleine Haus und die Frau, die schweigend neben ihm stand. »Achtundzwanzig Frank dreißig, mein Herr.«
Die Landschaft wieder. Der Mond. Lieux. Evreux. Kolonnen. Pferde. Schweigen. Ravic hielt vor einem kleinen Restaurant. Draußen standen zwei Tische. Die Wirtin erklärte, sie habe nichts mehr zu essen da. Ein Abendessen war ein Abendessen, immer noch, trotz allem; und in Frankreich war ein Omelette mit Käse kein Abendessen. Schließlich ließ er sich doch überzeugen und hatte auch noch einen Salat dazu und Kaffee und eine Karaffe Vin ordinaire.
Ravic saß allein vor dem rosa Haus und aß. Über den Wiesen zog der Nebel. Ein paar Frösche quakten. Es war sehr still, nur aus dem oberen Stockwerk des Hauses klang ein Lautsprecher. Eine Stimme, beruhigend, zuversichtlich, hoffnungslos und gänzlich überflüssig. Jeder lauschte und niemand glaubte ihr.
Er zahlte. »Paris wird verdunkelt«, sagte die Wirtin. »Es war gerade im Radio.«
»Ja. Gegen Flugzeugangriffe. Zur Vorsicht. Im Radio sagen sie, alles sei nur zur Vorsicht. Es gäbe keinen Krieg. Man sei am Verhandeln. Was denken Sie?«
»Ich glaube nicht, daß es Krieg gibt.« Ravic wußte nicht, was er sonst antworten sollte.
»Gott gebe es. Aber was nützt es schon? Die Deutschen werden Polen nehmen. Dann werden sie Elsaß-Lothringen verlangen. Dann Kolonien. Dann etwas anderes. Immer mehr, bis wir uns ergeben oder Krieg machen müssen. Da ist es wohl schon besser, gleich.«
Die Wirtin ging langsam ins Haus zurück. Eine neue Kolonne kam die Straße hinunter.
Der rote Schein von Paris am Horizont. Verdunkelt — Paris würde verdunkelt werden. Es war natürlich, aber es klang sonderbar: Paris verdunkelt. Paris. Als würde das Licht der Welt verdunkelt.
Die Vorstadt. Die Seine. Das Gebrodel der kleinen Straßen. Schwingend die Avenue, die gerade auf den Arc de Triomphe zuführt, der bleich und noch bestrahlt im nebligen Licht des Etoiles sich hob, und hinter ihm, immer noch schimmernd in vollem Glanz, die Champs-Elysées.
Ravic atmete auf. Er fuhr hindurch. Er fuhr durch die Stadt, und dann sah er es plötzlich: Die Dunkelheit hatte schon angefangen, sich auf sie zu senken. Wie räudige Stellen in einem glänzenden Fell sprangen hier und da Flecken kranker Finsternis hervor. Das bunte Spiel der Lichtreklamen war an einigen Stellen zerfressen von langen Schatten, die drohend zwischen den wenigen ängstlichen Rot und Weiß und Blau und Grün hockten. Einzelne Straßen lagen schon blind da, als wären schwarze Würmer durchgekrochen und hätten allen Glanz zerdrückt. Die Avenue George V. hatte kein Licht mehr; in der Avenue Montaigne starb es gerade; Gebäude, die nachts Kaskaden von Licht gegen die Sterne geworfen hatten, starrten jetzt mit kahlen, grauen Fronten. Die eine Hälfte der Avenue Victor Emanuel III. war erloschen; die andere stand noch hell da — wie ein paralysierter Körper in Agonie, halb schon tot, halb noch voll Leben. Die Krankheit sickerte überall durch, und als Ravic zum Place de la Concorde zurückkam, war auch dessen weites Rund inzwischen gestorben.
Die Ministerien lagen blaß und farblos, die Lichtketten waren verschwunden, die tanzenden Tritonen und Nereiden der weißen Schaumnächte waren auf ihren Delphinen erstarrt zu grauen, formlosen Klumpen; die Springbrunnen waren verödet, die fließenden Wasser verfinstert, und bleiern ragte der einst leuchtende Obelisk wie ein drohender, mächtiger Finger der Ewigkeit in den sich verdunkelnden Himmel, und überall krochen wie Mikroben die kleinen, fahlblauen, kaum sichtbaren elektrischen Bahnen des Luft schutzdienstes hervor und verbreiteten sich, faulig schimmernd, wie eine kosmische Tuberkulose über die lautlos niederbrechende Stadt.
Ravic lieferte den Wagen ab. Er nahm ein Taxi und fuhr zum »International«. Vor der Tür stand der Sohn der Wirtin auf einer Leiter. Er schraubte eine blaue Birne ein. Die Beleuchtung des Einganges war immer so stark gewesen, um gerade das Schild zu erkennen; jetzt aber reichte das bißchen blauer Schein nicht mehr aus; es verfehlte die erste Hälfte — blaß konnte man nur noch das Wort »national« erkennen, und das auch nur mit Mühe.
»Gut, daß Sie kommen«, sagte die Wirtin. »Da ist eine verrückt geworden. In Nummer sieben. Am besten, sie kommt aus dem Haus. Ich kann keine Verrückten im Hotel haben.«
»Vielleicht ist sie nicht verrückt, hat nur einen Nervenkollaps.«
»Ganz egal! Verrückte gehören in ein Asyl. Ich habe es ihnen schon gesagt. Sie wollen natürlich nicht. Was man für Scherereien hat! Wenn sie nicht ruhig wird, muß sie heraus. Es geht nicht. Die anderen Gäste müssen schlafen.«
»Kürzlich ist jemand im Ritz verrückt geworden«, sagte Ravic. »Ein Prinz. Alle Amerikaner wollten später eine Suite haben.«
»Das ist etwas anderes. Das ist verrückt aus follie. Das ist elegant. Nicht verrückt aus Not.«
Ravic sah sie an. »Sie verstehen das Leben, Madame.«
»Das muß ich. Ich bin ein guter Mensch. Ich habe die Refugiés aufgenommen. Alle. Gut. Ich habe daran verdient. Mäßig. Aber eine Verrückte, die schreit, das ist zuviel. Sie muß ’raus, wenn sie nicht ruhig wird.«
Es war die Frau, deren Junge gefragt hatte, weshalb er Jude sei. Sie saß auf dem Bett, ganz in die Ecke gedrückt, die Hände vor den Augen. Das Zimmer war hell erleuchtet. Alle Birnen brannten, und auf dem Tisch standen noch zwei Leuchter mit Kerzen.
»Kakerlaken«, murmelte die Frau. »Kakerlaken! Schwarze, dicke, glänzende Kakerlaken! Da in den Ecken, da sitzen sie, Tausende, Unzählige, macht Licht, macht Licht, Licht, sonst kommen sie, Licht, Licht, sie kommen, sie kommen...«
Sie schrie und preßte sich in die Ecke, die Beine hoch angezogen, die Hände von sich gespreizt, die Augen glasig und aufgerissen. Der Mann versuchte ihre Hände zu greifen. »Da ist doch nichts, Mamme, nichts in den Ecken...«
»Licht! Licht! Sie kommen! Kakerlaken...«
»Wir haben Licht, Mamme. Da ist doch Licht, sieh nur, sogar Kerzen auf dem Tisch!« Er holte eine Taschenlampe hervor und leuchtete damit in die hellen Ecken des hellen Zimmers. »Nichts ist in den Ecken, da sieh, wie ich leuchte, nichts ist da, nichts .,.«
»Kakerlaken! Kakerlaken! Sie kommen, alles ist schwarz von Kakerlaken! Aus allen Ecken kriechen sie! Licht! Licht! Die Wände hinauf kriechen sie, sie fallen schon von der Decke!«
Die Frau röchelte und hob die Arme über den Kopf. »Wie lange geht das schon?« fragte Ravic den Mann.
»Seit es dunkel ist. Ich war weg.Versuchte noch einmal, man hatte mir gesagt, beim Konsul von Haiti, ich nahm den Jungen mit, es war nichts, wieder nichts, und als wir zurückkamen, saß sie da in der Ecke auf dem Bett und schrie...«
Ravic hatte die Spritze fertig. »Hatte sie vorher geschlafen?«
Der Mann sah ihn hilflos an. »Ich weiß nicht. Sie war immer ruhig. Wir haben kein Geld für eine Anstalt. Wir haben auch keine... unsere Papiere sind nicht genug. Wenn sie nur aufhören wollte. Mamme, es ist doch alles da, ich bin da, Siegfried ist da, der Doktor ist da, keine Kakerlaken sind da...«
»Kakerlaken!« unterbrach die Frau. »Von allen Seiten! Sie kriechen! Kriechen...«
Ravic machte die Spritze. »Hat sie irgendwann schon einmal so etwas gehabt?«
»Nein. Ich verstehe es nicht. Ich weiß nicht, warum sie gerade von...«
Ravic hob die Hand. »Erinnern Sie sie nicht daran. Sie wird in ein paar Minuten müde werden und einschlafen. Es kann sein, daß sie geträumt hat davon — und aufgeschreckt ist. Sie wird vielleicht morgen aufwachen und nichts mehr wissen. Erinnern Sie sie nicht daran. Tun Sie, als sei nichts gewesen.«
»Kakerlaken«, murmelte die Frau schläfrig. »Fette, dicke...«
»Brauchen Sie all das Licht?«
»Wir haben es angezündet, weil sie immerzu nach Licht schrie.«
»Machen Sie das Oberlicht aus. Warten Sie mit dem andern, bis sie fest schläft. Sie wird schlafen. Die Dosis ist groß genug. Ich werde morgen vormittag um elf nachsehen.«
»Danke«, sagte der Mann. »Sie glauben nicht...«
»Nein. So was kommt heutzutage oft vor. Etwas Vorsicht die nächsten Tage, nicht allzuviel Sorgen zeigen...«
Leicht gesagt, dachte er, als er zu seinem Zimmer hinaufstieg. Er drehte das Licht an. Neben seinem Bett standen seine Bücher. Seneca, Schopenhauer, Plato, Rilke, Laotse, Litaipe, Pascal, Heraklit, eine Bibel, andere — das Härteste und das Weichste, viele in den schmalen Dünndruckausgaben für jemand, der unterwegs war und wenig mitführen konnte. Er suchte aus, was er mitnehmen wollte. Dann sah er seine übrigen Sachen durch. Es war nicht viel zu zerreißen. Er hatte immer so gelebt, daß man ihn plötzlich abholen konnte. Seine alte Decke, der Mantel — sie würden ihm helfen, wie Freunde. Das Gift in der ausgehöhlten Medaille, das er schon mit ins deutsche Konzentrationslager genommen hatte — das Bewußtsein, es zu haben und es jeden Augenblick brauchen zu können, hatte ihn es leichter überstehen lassen —; er steckte die Medaille ein. Besser, sie bei sich zu haben. Es gab Beruhigung.
Man wußte nicht, was noch kam. Man konnte von der Gestapo wieder erwischt werden. Auf dem Tisch stand noch eine halbe Flasche Calvados. Er trank ein Glas, Frankreich, dachte er. Fünf Jahre unruhigen Lebens. Drei Monate Gefängnis, illegaler Aufenthalt, viermal ausgewiesen, zurückgekommen. Fünf Jahre Leben. Es war gut gewesen.