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Das Telefon klingelte. Er hob es schläfrig ab. »Ravic...«, sagte jemand.
»Ja...« Es war Joan.
»Komm«, sagte sie. Sie sprach langsam und leise. »Sofort, Ravic...«
»Nein.«
»Du mußt...«
»Nein. Laß mich in Ruhe. Ich bin nicht allein. Ich komme nicht.«
»Hilf mir...«
»Ich kann dir nicht helfen...«
»Etwas ist passiert...« Die Stimme klang gebrochen. »Du mußt... sofort...«
»Joan«, sagte Ravic ungeduldig. »Es ist keine Zeit für dieses Theater mehr. Du hast das einmal mit mir gemacht, und ich bin darauf ’reingefallen. Ich weiß jetzt Bescheid. Laß mich in Ruhe. Versuch es mit jemand anderem.«
Er legte den Hörer zurück, ohne eine Antwort abzuwarten, und versuchte, wieder einzuschlafen. Es gelang ihm nicht. Das Telefon klingelte wieder. Er nahm es nicht ab. Es klingelte und klingelte durch die graue, verödete Nacht. Er nahm ein Kissen und packte es über den Apparat. Es klingelte erstickt weiter und hörte dann auf.
Ravic wartete. Es blieb still. Er stand auf und griff nach einer Zigarette. Sie schmeckte nicht. Er drückte sie aus. Der Rest des Calvados stand noch auf dem Tisch. Er trank einen Schluck und stellte ihn weg. Kaffee, dachte er. Heißer Kaffee. Und Butter und frische Croissants. Er wußte ein Bistro, das die ganze Nacht offen war.
Er sah auf die Uhr. Er hatte nur zwei Stunden geschlafen, aber er war nicht mehr müde. Es hatte keinen Zweck, in einen schweren, zweiten Schlaf zu fallen und zerschlagen aufzuwachen. Er ging ins Badezimmer und drehte die Brause an.
Irgendein Geräusch. Wieder das Telefon? Er drehte die Wasserhähne ab. Es klopfte. Jemand klopfte an seine Tür. Ravic nahm seinen Bademantel über. Das Klopfen wurde stärker. Joan konnte es nicht sein; sie wäre hereingekommen. Die Tür war nicht verschlossen. Er wartete einen Moment, bevor er öffnete. Wenn es die Polizei bereits war...
Er öffnete die Tür. Draußen stand ein Mann, den er nicht kannte, der ihn aber an irgend jemand erinnerte. Er trug einen Smoking.
»Doktor Ravic?«
Ravic erwiderte nichts. Er sah den Mann an. »Was wollen Sie?« fragte er.
»Sind Sie Doktor Ravic?«
»Sagen Sie mir besser, was Sie wollen.«
»Wenn Sie Doktor Ravic sind, müssen Sie sofort zu Joan Madou kommen.«
»So?«
»Sie hat einen Unfall gehabt.«
»Was für einen Unfall?« lächelte Ravic ungläubig.
»Mit einer Waffe«, sagte der Mann. »Geschossen...«
»Ist sie getroffen?« fragte Ravic, immer noch lächelnd. Fingierter Selbstmordversuch wahrscheinlich, dachte er, um den armen Teufel hier zu erschrecken.
»Sie stirbt, mein Gott«, flüsterte der Mann. »So kommen Sie doch! Sie stirbt. Ich habe sie erschossen!«
»Was?«
»Ja... ich...«
Ravic hatte bereits den Bademantel abgeworfen und griff nach seinen Sachen. »Haben Sie ein Taxi unten?«
»Ich habe meinen Wagen.«
»Verdammt...« Ravic streifte den Bademantel wieder über, faßte seine Tasche und griff nach seinen Schuhen, seinem Hemd und seinem Anzug. »Ich kann das im Wagen anziehen... los... rasch.«
Der Wagen schoß durch die milchige Nacht. Die Stadt war ganz abgedunkelt. Es gab keine Straßen mehr — nur eine fließende, neblige Weite, in der die blauen Luftschutzlampen zu spät und verloren auftauchten — als fahre der Wagen auf dem Meeresboden.
Ravic zog seine Schuhe und seine Sachen an; er stopfte den Bademantel, in dem er heruntergelaufen war, in die Ecke neben dem Sitz. Er hatte keine Strümpfe und keine Krawatte. Unruhig starrte er in die Nacht. Es hatte keinen Zweck, den Fahrer etwas zu fragen. Er fuhr mit aller Konzentration, sehr schnell und völlig auf die Richtung achtend. Er hatte keine Zeit, etwas zu sagen. Er konnte nur den Wagen herumwerfen, ausweichen, Unfälle vermeiden und sehen, daß er sich in der ungewohnten Dunkelheit nicht verfuhr. Fünfzehn Minuten verloren, dachte Ravic. Mindestens fünfzehn Minuten.
»Fahren Sie schneller...«, sagte er.
»Ich kann nicht — ohne Scheinwerfer — abgeblendet — Luftschutz...«
»Dann fahren Sie mit Scheinwerfer, zum Teufel!« Der Mann drehte die großen Lichter an. Einige Polizisten schrien an den Straßenecken. Ein geblendeter Renault fuhr fast in sie hinein. »Los — weiter! Rascher!«
Der Wagen hielt mit einem Ruck vor dem Haus. Der Aufzug war unten. Die Tür war offen. Irgendwo klingelte jemand wütend. Der Mann hatte wahrscheinlich die Tür nicht zugeworfen, als er herausgerannt war. Gut, dachte Ravic. Spart ein paar Minuten.
Der Fahrkorb kroch nach oben. Das war schon einmal so gewesen! Nichts war passiert damals! Nichts würde auch diesmal... Der Fahrstuhl hielt plötzlich. Jemand schaute durch das Fenster und öffnete die Tür. »Was soll das heißen, den Aufzug so lange untenzuhalten?«
Es war der Mann, der geklingelt hatte. Ravic schob ihn zurück und riß die Tür zu: »Gleich! Wir müssen erst ’rauf!«
Der Mann draußen schimpfte. Der Aufzug kroch weiter. Der Mann vom vierten Stock klingelte wütend weiter. Der Fahrstuhl hielt. Ravic riß die Tür auf, bevor der Mann von unten Unsinn machen und den Fahrstuhl mit ihnen wieder herunterholen konnte.
Joan lag auf dem Bett. Sie war angezogen. Ein Abendkleid, hochgeschlossen bis zum Hals. Silberne, blutige Flekken darauf. Blut auf dem Fußboden. Da war sie gefallen. Der Idiot hatte sie dann aufs Bett gelegt.
»Ruhig!« sagte, Ravic. »Ruhig! Alles kommt in Ordnung. Es ist nicht sehr schlimm.«
Er zerschnitt die Achselbänder des Abendkleides und streifte es vorsichtig herunter. Die Brust war unverletzt. Es war der Hals. Der Kehlkopf konnte nicht getroffen sein; sie hätte sonst nicht telefonieren können. Die Arterie war unverletzt. »Schmerzen?« fragte er.
»Ja.«
»Sehr?«
»Ja...«
»Das wird gleich vorbei sein...«
Die Spritze war fertig. Er sah Joans Augen. »Nichts. Nur etwas gegen die Schmerzen. Sie werden gleich aufhören.«
Er setzte die Spritze an und zog sie heraus. »Schon fertig.« Er drehte sich nach dem Mann um. »Telefonieren Sie Passy 27 41. Bestellen Sie eine Ambulanz mit zwei Trägern. Sofort.«
»Was ist es?« fragte Joan mühsam.
»Passy 27 41«, sagte Ravic. »Sofort! Eilig! Los! Nehmen Sie das Telefon!«
»Was ist es — Ravic?«
»Nichts Gefährliches. Aber wir können das hier nicht nachsehen. Du mußt in ein Krankenhaus.«
Sie sah ihn an. Ihr Gesicht war verschmiert, das Mascara war von den Wimpern getropft, und das Rouge des Mundes war an einer Seite heraufgewischt. Die eine Seite des Gesichts sah aus wie die eines billigen Zirkusclowns, die andere, mit dem Schwarz, das unter das Auge geschmiert war, wie das einer müden, verbrauchten Hure. Darüber leuchtete das Haar.
»Ich will nicht operiert werden«, flüsterte sie.
»Wir werden das sehen. Vielleicht brauchen wir es nicht.«
»Ist es ...?« Sie verstummte.
»Nein«, sagte Ravic. »Harmlos. Wir haben nur alle Instrumente drüben.«
»Instrumente...«
»Zum Untersuchen. Ich werde jetzt... es tut nicht weh...«
Die Spritze tat ihre Wirkung. Die Augen verloren ihre angstvolle Härte, als Ravic vorsichtig untersuchte. Der Mann kam zurück. »Die Ambulanz kommt.«
»Rufen Sie Auteuil 13 57 an. Es ist eine Klinik. Ich will sprechen.«
Der Mann verschwand gehorsam. »Du wirst mir helfen«, flüsterte Joan.
»Natürlich.«
»Ich will keine Schmerzen haben.«
»Du wirst keine haben.«
»Ich kann es nicht... ich kann keine Schmerzen...«, sie wurde schläfrig. Ihre Stimme rutschte ab. »Ich kann es einfach nicht...«
Ravic sah die Einschußstelle. Es waren keine großen Gefäße verletzt. Er sah keine Ausschußstelle. Er sagte nichts. Er legte einen Kompressionsverband an. Er sagte nicht, was er fürchtete. »Wer hat dich aufs Bett gelegt?« fragte er. »Bist du selbst...«
»Er...«
»Hast du... konntest du gehen?«
Die Augen kamen erschrocken zurück aus schlierigen Seen. »Was... ist es... Ich... nein; ich konnte meinen Fuß nicht bewegen. Mein Bein... was ist es, Ravic?«
»Nichts. Ich dachte es mir. Es wird wieder in Ordnung kommen.«
Der Mann erschien. »Die Klinik...«
Ravic ging rasch zum Telefon. »Wer ist da? Eugenie? Ein Zimmer — ja — und rufen Sie Veber an.« Er sah nach dem Schlafzimmer hinüber. Leise: »Machen Sie alles fertig. Wir müssen sofort arbeiten. Ich habe eine Ambulanz bestellt. Ein Unfall — ja — ja — richtig — ja — in zehn Minuten...«
Er legte den Hörer auf. Er blieb eine Weile stehen. Der Tisch. Eine Flasche Crème de Menthe, ekelhaftes Zeug, Gläser, Rosenblattzigaretten, scheußlich, ein schlechter Film, ein Revolver auf dem Teppich, Blut auch hier, alles nicht wahr, warum denke ich das bloß, es ist wahr — und jetzt wußte er auch, wer der Mann war, der ihn geholt hatte. Der Anzug mit den zu geraden Schultern, das glattgebürstete, pomadisierte Haar, dieser leichte Geruch nach Chevalier d’Orsay, der ihn unterwegs irritiert hatte, die Ringe an den Händen — es war der Schauspieler, über dessen Drohungen er so gelacht hatte. Gut gezielt, dachte er. Überhaupt nicht gezielt, dachte er. Solche Schüsse konnte man nicht zielen. So präzise konnte man nur treffen, wenn man keine Ahnung hatte und nicht treffen wollte.
Er ging zurück. Der Mann kniete neben dem Bett. Kniete, natürlich. Anders ging es ja nicht; redete, klagte, redete, die Silben rollten... »Stehen Sie auf«, sagte Ravic.
Der Mann erhob sich gehorsam. Abwesend bürstete er die Knie seiner Hose vom Staub ab. Ravic sah sein Gesicht. Tränen! Auch das noch! »Ich wollte es nicht, mein Herr! Ich schwöre es Ihnen, ich wollte sie nicht treffen; ich wollte es nicht, ein Zufall, ein blinder, unglücklicher Zufall!«
Ravic würgte der Magen. Blinder Zufall! Gleich würde er in Jamben reden. »Das weiß ich. Gehen Sie jetzt hinunter, und warten Sie auf die Ambulanz.«
Der Mann wollte etwas sagen. »Gehen Sie!« sagte Ravic. »Halten Sie den verdammten Fahrstuhl bereit. Gott weiß, wie wir die Bahre hinunterbringen werden.«
»Du wirst mir helfen, Ravic«, sagte Joan schläfrig.
»Ja«, sagte er ohne jede Hoffnung.
»Du bist da. Ich bin immer ruhig, wenn du da bist.«
Das verschmierte Gesicht lächelte. Der Clown grinste, die Hure lächelte mühsam.
»Bebée, ich wollte nicht...«, sagte der Mann von der Tür.
»’raus«, sagte Ravic. »Verdammt, so gehen Sie doch!«
Joan lag eine Weile still. Dann öffnete sie die Augen. »Er ist ein Idiot«, sagte sie überraschend klar. »Natürlich wollte er es nicht — das arme Lamm —, wollte nur großtun.« Ein sonderbarer, fast verschmitzter Ausdruck kam in ihre Augen. »Ich habe es auch nie geglaubt — habe ihn... geärgert damit...«
»Du mußt nicht sprechen.«
»Geärgert.« Die Augen schlossen sich zu einem Spalt. »Das bin ich nun, Ravic... mein Leben... wollte nicht treffen... trifft... und...«
Die Augen schlossen sich ganz. Das Lächeln erlosch. Ravic horchte nach der Tür.
»Wir können die Bahre nicht in den Aufzug ’reinbringen. Er ist zu schmal. Höchstens halb stehend.«
»Können Sie sie um die Treppenaufsätze herumbringen?«
Der Träger ging hinaus. »Vielleicht. Wir müssen sie hoch anheben. Besser, wir schnallen sie fest.«
Sie schnallten sie fest. Joan schlief halb. Manchmal stöhnte sie. Die Träger verließen die Wohnung.
»Haben Sie einen Schlüssel?« fragte Ravic den Schauspieler.
»Ich... nein... warum?«
»Um die Wohnung abzuschließen.«
»Nein. Aber da ist ein Schlüssel irgendwo.«
»Suchen Sie ihn und schließen Sie ab.« Die Träger arbeiteten am ersten Treppenaufsatz. »Nehmen Sie den Revolver mit heraus. Sie können ihn draußen wegwerfen.«
»Ich... ich werde... mich der Polizei stellen. Ist sie gefährlich verletzt?«
»Ja.«
Der Mann begann zu schwitzen. Das Wasser drang so plötzlich durch seine Poren, als wäre unter seiner Haut nichts anderes.
Er ging in die Wohnung zurück.
Ravic folgte den Trägern mit der Bahre. Das Haus hatte eine elektrische Beleuchtung, die nur drei Minuten anhielt und dann erlosch. Auf jeder Etage befand sich ein Knopf, um sie wieder in Betrieb zu setzen. Die Träger kamen die halben Treppen ziemlich gut hinunter. Die Drehungen waren schwierig. Sie mußten die Bahre hoch über die Köpfe und über das Geländer heben, um herumzukommen. Die Schatten schwankten riesig an den Wänden. Wann war das nur so gewesen? Irgendwo war das schon einmal so gewesen — dachte Ravic verstört. Dann fiel es ihm ein. Mit Raczinsky, damals im Anfang.
Türen öffneten sich, während die Träger sich zuriefen und die Bahre Stücke Mörtel aus den Wänden riß. Neugierige Gesichter erschienen in den Spalten, Pyjamas, zerzauste Haare, aufgequollene Schlafgesichter, Schlafröcke, purpurn, giftgrün, mit tropischen Blumen...
Das Licht erlosch wieder. Die Träger knurrten in der Dunkelheit und hielten inne. »Licht!«
Ravic suchte nach dem Knopf. Er faßte in eine Brust, roch einen faulen Atem, etwas strich um seine Beine. Das Licht flammte wieder auf. Eine Frau mit gelben Haaren starrte ihn an. Ihr Gesicht hing in fettigen Falten, Cold-cream glänzte, und mit der Hand hielt sie einen Crêpe-de-Chine-Morgenrock mit tausend koketten Rüschen zusammen. Sie sah aus wie eine fettige Bulldogge in einem Spitzenbett. »Tot?« fragte sie mit glitzernden Augen.
»Nein.« Ravic ging weiter. Etwas quietschte, fauchte. Eine Katze sprang zurück. »Fifi!« Die Frau bückte sich, die schweren Knie weit gespreizt. »Mein Gott, Fifi, hat man dich getreten?«
Ravic ging die Treppen hinunter. Unter ihm schwankte die Bahre. Er sah Joans Kopf, der sich mit den Bewegungen der Träger bewegte. Er konnte ihre Augen nicht sehen.
Der letzte Absatz. Das Licht erlosch wieder. Ravic lief die letzte Treppe wieder hinauf, den Knopf zu finden. In diesem Augenblick surrte der Aufzug, und hell erleuchtet in der Dunkelheit, als käme er vom Himmel, surrte der Fahrstuhl hernieder. In dem offenen, vergoldeten Drahtkorb stand der Schauspieler. Er glitt lautlos, unaufhaltsam hernieder, vorbei an Ravic, vorbei an der Bahre, wie eine Erscheinung. Er hatte den Fahrstuhl oben gefunden und ihn benutzt, um schneller nachzukommen. Es war vernünftig, aber es wirkte geisterhaft und entsetzlich lächerlich.
Ravic blickte auf. Das Zittern war vorbei. Die Hände fühlten sich nicht mehr schweißig unter den Gummihandschuhen an. Er hatte sie zweimal gewechselt.
Veber stand ihm gegenüber. »Wenn Sie wollen, Ravic, rufen Sie Marteau herüber. Er kann in fünfzehn Minuten hier sein. Sie können assistieren, und er kann es machen.«
»Nein. Zu spät. Ich könnte es auch nicht. Zusehen noch weniger als dieses.«
Ravic holte Atem. Er war jetzt ruhig. Er begann zu arbeiten. Die Haut. Weiß. Haut wie jede, sagte er sich. Joans Haut. Haut wie jede.
Blut. Joans Blut. Blut wie jedes. Tupfer. Der gerissene Muskel. Tupfer. Vorsicht. Weiter. Ein Fetzen Silberbrokat. Fäden.Weiter. Der Wundkanal. Splitter.Weiter. Der Kanal, führend, führend...
Ravic fühlte seine Stirn leer werden. Er richtete sich langsam auf. »Da, sehen Sie — der siebente Wirbel...«
Veber beugte sich über die Wunde. »Das sieht schlecht aus.«
»Nicht schlecht. Hoffnungslos. Da ist nichts zu tun.«
Ravic sah auf seine Hände. Sie bewegten sich unter den Gummihandschuhen. Es waren starke Hände, gute Hände, sie hatten Tausende Male geschnitten und zerrissene Körper wieder zusammengenäht; oft war es geglückt und manchmal nicht, und einige Male hatten sie fast Unmögliches möglich gemacht, die eine Chance unter hundert — aber jetzt, jetzt, wo alles daran lag, waren sie hilflos.
Er konnte nichts tun. Niemand konnte etwas tun. Hier war nichts zu operieren. Er stand da und starrte auf die rote Öffnung. Er konnte Marteau anrufen lassen. Marteau würde dasselbe sagen.
»Ist nichts zu tun?« fragte Veber.
»Nichts. Ich würde es nur verkürzen. Schwächen. Sie sehen, wo das Geschoß sitzt. Ich kann es nicht einmal entfernen.«
»Puls flattert, steigt — hundertdreißig...«, sagte Eugenie hinter dem Schirm.
Die Wunde wurde einen Schatten grauer, als wehe ein Hauch Dunkelheit darüber. Ravic hatte die Koffeinspritze schon in der Hand. »Coramin! Rasch! Aufhören mit der Narkose!«
Er machte die zweite Spritze. »Wie ist es jetzt?«
»Unverändert.«
Das Blut hatte noch immer den bleiernen Schein. »Halten Sie eine Adrenalinspritze bereit und den Sauerstoffapparat!«
Das Blut wurde dunkler. Es war, als zögen draußen Wolken und würfen ihre Schatten vorüber. Als stünde jemand vor den Fenstern und zöge die Vorhänge zu. »Blut«, sagte Ravic verzweifeit. »Wir brauchen eine Blutübertragung. Aber ich weiß die Blutgruppe nicht.« Der Apparat begann wieder zu arbeiten. »Nichts? Was ist es? Nichts?«
»Puls fällt. Hundertzwanzig. Sehr weich.«
Das Leben kam zurück. »Jetzt? Besser?«
»Dasselbe.«
Er wartete. »Jetzt? Besser?«
»Besser. Regelmäßiger.«
Die Schatten wichen. Die Wundränder verloren das Fahle. Das Blut war wieder Blut. Noch immer Blut. Der Apparat arbeitete. »Augenlider flattern«, sagte Eugenie. »Macht nichts. Kann aufwachen.« Ravic machte den Verband. »Wie ist der Puls?« »Regelmäßiger.« »Das war knapp«, sagte Veber. Ravic fühlte einen Druck auf seinen Augenlidern. Es war Schweiß. Dicke Tropfen. Er richtete sich auf. Der Apparat surrte. »Lassen wir ihn noch.«
Er ging um den Tisch herum und stand dort eine Weile. Er dachte nicht. Er sah auf die Maschine und das Gesicht Joans. Es zuckte. Es war noch nicht tot.
»Der Schock«, sagte er zu Veber. »Hier ist eine Blutprobe. Wir müssen sie wegschicken. Wo können wir Blut bekommen?«
»Im amerikanischen Hospital.«
»Gut. Wir müssen es versuchen. Es wird nichts helfen. Nur etwas verlängern.« Er beobachtete die Maschine. »Müssen wir die Polizei benachrichtigen?«
»Ja«, sagte Veber. »Ich müßte. Sie werden dann zwei Beamte hier haben, die Sie vernehmen wollen. Wollen Sie das?«
»Nein.«
»Gut. Wir können das mittags noch überlegen.«
»Genug, Eugenie«, sagte Ravic.
Die Schläfen hatten wieder etwas Farbe. Das graue Weiß eine Spur Rosa. Der Puls schlug regelmäßig, schwach und klar. »Wir können sie zurückbringen. Ich werde noch hierbleiben.«
Sie bewegte sich. Eine Hand bewegte sich. Die rechte Hand bewegte sich. Die linke bewegte sich nicht.
»Ravic«, sagte Joan.
»Ja...«
»Hast du mich operiert?«
»Nein, Joan. Es war nicht nötig. Wir haben nur die Wunde saubergemacht.«
»Bleibst du hier?«
»Ja...«
Sie schloß die Augen und schlief wieder ein. Ravic ging zur Tür. »Bringen Sie mir etwas Kaffee«, sagte er zu der Morgenschwester.
»Kaffee und Brötchen?«
»Nein. Nur Kaffee.«
Er ging zurück und öffnete das Fenster. Der Morgen stand rein und strahlend über den Dächern. Spatzen schilpten in den Regenrinnen. Ravic setzte sich auf die Fensterbank und rauchte. Er blies den Rauch aus dem Fenster.
Die Schwester kam mit dem Kaffee. Er stellte ihn neben sich und trank ihn und rauchte und sah aus dem Fenster. Wenn er aus dem hellen Morgen zurückblickte, schien das Zimmer dunkel. Er stand auf und schaute nach Joan. Sie schlief. Ihr Gesicht war abgewaschen und sehr blaß. Die Lippen waren kaum zu sehen.
Er nahm das Tablett mit der Kanne und der Tasse und trug es hinaus. Er stellte es auf einen Tisch im Korridor. Es roch draußen nach Bohnerwachs und Eiter. Die Schwester brachte einen Eimer mit alten Bandagen vorbei. Irgendwo summte ein Vakuumsauger.
Joan wurde unruhig. Sie würde bald wieder aufwachen. Aufwachen mit Schmerzen. Die Schmerzen würden sich steigern. Sie konnte noch ein paar Stunden leben und noch ein paar Tage. Die Schmerzen würden so werden, daß keine Spritzen mehr viel helfen konnten.
Ravic ging eine Spritze und Ampullen holen. Als er zurückkam, öffnete Joan die Augen. Er sah sie an.
»Kopfschmerzen«, murmelte sie.
Er wartete. Sie versuchte, den Kopf zu bewegen. Die Augenlider schienen schwer zu sein. Sie bewegte mühsam die Augenbälle.
»Das ist wie Blei...«
Sie wurde wacher. »Ich kann das nicht aushalten...«
Er machte ihr die Spritze. »Es wird gleich besser werden...«
»Vorhin hat es nicht so weh getan...« Sie bewegte den Kopf. »Ravic«, flüsterte sie, »ich will nicht leiden. Ich... versprich, daß ich nicht leiden werde... meine Großmutter... ich habe sie gesehen... ich will das nicht... und es half ihr nichts... versprich mir...«
»Ich verspreche es dir, Joan. Du wirst nicht viel Schmerzen haben. Fast keine...«
Sie biß die Zähne zusammen. »Hilft es bald?«
»Ja — bald. In einigen Minuten...«
»Was ist... mit meinem Arm ...?«
»Nichts. Du kannst ihn nicht bewegen. Es wird wiederkommen.«
»Und mein Bein... mein rechtes Bein...«
Sie versuchte es anzuziehen. Es rührte sich nicht.
»Dasselbe, Joan. Tut nichts. Es kommt zurück.«
Sie bewegte den Kopf.
»Ich wollte gerade anfangen... anders zu leben...«, flüsterte sie. Ravic erwiderte nichts. Es war nichts darauf zu erwidern. Vielleicht war es wahr. Wer wollte das nicht immer?
Sie bewegte wieder den Kopf, ruhelos, von einer Seite zur andern. Die monotone, mühevolle Stimme. »Gut — daß du kamst. Was wäre ohne dich geworden?«
»Ja...«
Dasselbe, dachte er hoffnungslos. Dasselbe. Jeder Pfuscher wäre gut genug dazu gewesen. Jeder Pfuscher. Das einzige Mal, wo ich es gebraucht hätte, ist alles, was ich weiß und gelernt habe, umsonst. Jeder Groschendoktor hätte dasselbe tun können. Nichts.
Sie wußte es mittags. Er hatte ihr nichts gesagt, aber sie wußte es plötzlich. »Ich will kein Krüppel werden, Ravic. — Was ist mit meinen Beinen? Ich kann beide nicht mehr...«
»Nichts. Du wirst gehen können wie immer, wenn du wieder aufstehst.«
»Wenn ich wieder... aufstehe. Warum lügst du? Du brauchst nicht...«
»Ich lüge nicht, Joan.«
»Doch — du mußt. — Du sollst mich nur nicht liegenlassen... und ich bin nichts... als Schmerzen. Versprich mir das.«
»Ich verspreche es dir.«
»Wenn es zu stark wird, mußt du mir etwas geben. Meine Großmutter hat... fünf Tage gelegen... und geschrien. Ich will das nicht, Ravic.«
»Du wirst es nicht. Du wirst wenig Schmerzen haben.«
»Wenn es zu stark wird, mußt du mir genug geben. Genug für immer. Du mußt es tun — auch wenn ich nicht will oder nichts mehr weiß. — Was ich jetzt sage, gilt. Nachher... versprich es mir.«
»Ich verspreche es dir. Es wird nicht nötig sein.«
Der ängstliche Ausdruck verschwand. Sie lag auf einmal friedlich da. »Du kannst es tun, Ravic«, flüsterte sie. »Ohne dich... wäre ich ja nicht mehr am Leben.«
»Unsinn. Natürlich wärest du...«
»Nein. Ich wollte damals... als du mich zuerst... ich wußte nicht mehr, wohin... du hast mir dieses Jahr gegeben. Es war... geschenkte Zeit.« Sie wendete den Kopf langsam zu ihm. »Warum bin ich nicht bei dir geblieben?«
»Das war meine Schuld, Joan.«
»Nein. Es war... ich weiß es nicht...«
Der Mittag stand golden vor dem Fenster. Die Vorhänge waren zugezogen, aber das Licht drang an den Seiten durch. Joan lag im Halbschlaf der Drogen. Es war noch wenig von ihr da. Die paar Stunden hatten wie Wölfe an ihr gefressen. Der Körper schien flacher unter der Decke zu werden. Sein Widerstand schmolz. Sie trieb zwischen Schlafen und Wachen, manchmal war sie fast bewußtlos, manchmal ganz klar. Die Schmerzen wurden stärker. Sie begann zu stöhnen. Ravic gab ihr eine Spritze. »Der Kopf«, murmelte sie. »Es wird schlimmer.«
Nach einiger Zeit begann sie wieder zu sprechen. »Das Licht... zu viel Licht... es brennt...«
Ravic ging zum Fenster. Er fand einen Rolladen und ließ ihn herunter. Darüber zog er die Vorhänge fest. Das Zimmer war jetzt fast dunkel. Er ging und setzte sich neben das Bett.
Joan bewegte die Lippen. »Es dauert... so lange... es hilft nicht mehr, Ravic...«
»In ein paar Minuten.«
Sie lag still. Die Hände lagen tot auf der Decke. »Ich muß dir... vieles... sagen...«
»Später, Joan...«
»Nein. Jetzt... ist keine Zeit mehr. Vieles... erklären...«
»Ich glaube, ich weiß das meiste, Joan...«
»Du weißt es?«
»Ich glaube.«
Die Wellen. Ravic konnte sehen, wie die Wellen der Krämpfe durch sie gingen. Beide Beine waren jetzt paralysiert. Die Arme auch schon. Die Brust hob sich noch.
»Du weißt... daß ich immer nur mit dir...«
»Ja, Joan...«
»Das andere war nur... Unruhe...«
»Ja, ich weiß es...«
Sie lag eine Weile. Sie atmete mühsam. »Sonderbar...«, sagte sie dann sehr leise. »Sonderbar..., daß man sterben kann... wenn man liebt...«
Ravic beugte sich über sie. Da war nur noch Dunkelheit und das Gesicht. »Ich war nicht gut... für dich«, flüsterte sie.
»Du warst mein Leben...«
»Ich kann... ich will... meine Hände... kann nie mehr... dich umarmen...«
Er sah, wie sie sich anstrengte, ihre Arme zu heben. »Du bist in meinen Armen«, sagte er. »Und ich in deinen.«
Sie hörte einen Augenblick auf zu atmen. Ihre Augen waren ganz im Schatten. Sie öffnete sie. Die Pupillen waren sehr groß. Ravic wußte nicht, ob sie ihn sah. »Ti amo«, sagte sie.
Sie sprach die Sprache ihrer Kindheit. Sie war zu müde für das andere. Ravic nahm ihre leblosen Hände. Etwas zerriß in ihm. »Du hast mich leben gemacht, Joan«, sagte er in das Gesicht mit den starren Augen hinein. »Du hast mich leben gemacht. Ich war nichts als ein Stein. Du hast gemacht, daß ich lebe...«
»Mi ami?«
Es war die Frage eines Kindes, das sich schlafen legen will. Es war die letzte Müdigkeit hinter allen andern.
»Joan«, sagte Ravic. »Liebe ist kein Wort dafür. Es ist nicht genug. Es ist nur ein geringer Teil, es ist nur ein Tropfen in einem Fluß, ein Blatt an einem Baum. Es ist so viel mehr...«
»Sono stata... sempre con te...«
Ravic hielt ihre Hände, die seine Hände nicht mehr fühlten. »Du warst immer mit mir«, sagte er und merkte nicht, daß er plötzlich deutsch sprach. »Du warst immer mit mir, ob ich dich liebte, ob ich dich haßte oder gleichgültig schien — es änderte nie etwas, du warst immer mit mir und immer in mir...«
Sie hatten immer nur in einer geborgten Sprache miteinander gesprochen. Jetzt, zum erstenmal, sprach jeder, ohne es zu wissen, in seiner. Die Barrieren der Worte fielen, und sie verstanden sich mehr als je.
»Baciami...«
Er küßte die heißen, trockenen Lippen. »Du bist immer mit mir gewesen, Joan... immer...«
»Sono stata... perduta... senza di te...«
»Ich war verlassener ohne dich. Du warst alle Helligkeit und das Süße und das Bittere — du hast mich geschüttelt, und du hast mir dich und mich gegeben. Du hast mich leben gemacht.«
Joan lag ein paar Minuten ganz still. Ravic beobachtete sie.
Die Glieder waren tot, alles war tot, nur noch die Augen lebten und der Mund und der Atem, und er wußte, daß die Hilfsmuskeln der Atmung jetzt langsam von der Lähmung erfaßt würden; sie konnte kaum noch sprechen, sie keuchte bereits, ihre Zähne knirschten, ihr Gesicht verzerrte sich, sie kämpfte. Ihr Hals war gekrampft, sie versuchte noch zu sprechen, die Lippen zitterten. Röcheln, tiefes, grauenvolles Röcheln; endlich brach der Schrei durch. »Ravic«, stammelte sie. »Hilf... Hilf... Jetzt!«
Er hatte die Spritze vorbereitet gehabt. Rasch nahm er sie und stach sie unter die Haut. Sie sollte nicht langsam, qualvoll lange und mit immer weniger und weniger Luft ersticken. Sie sollte nicht sinnlos leiden. Da war nur noch Schmerz vor ihr. Nichts als Schmerz. Vielleicht für Stunden...
Die Augenlider zitterten. Dann wurde sie ruhig. Die Lippen gaben nach. Der Atem wurde still.
Er zog die Vorhänge zurück und rollte die Jalousie auf. Dann ging er zum Bett zurück. Joans Gesicht war erstarrt und fremd.
Er schloß die Tür und ging zum Büro. Eugenie saß an einem Tisch mit Krankenblättern. »Der Patient in zwölf ist tot«, sagte er.
Eugenie nickte, ohne aufzusehen.
»Ist Doktor Veber in seinem Zimmer?«
»Ich glaube.«
Ravic ging den Korridor entlang. Einige Türen standen offen. Er ging weiter zu Vebers Zimmer.
»Nummer zwölf ist tot, Veber. Sie können die Polizei anrufen.«
Veber sah nicht auf. »Die Polizei hat mehr zu tun jetzt.«
»Was?«
Veber wies auf eine Extraausgabe des »Matin«. Deutsche Truppen waren in Polen eingebrochen. »Ich habe Nachrichten vom Ministerium. Der Krieg wird noch heute erklärt werden.«
Ravic legte das Blatt zurück.
»Das ist es, Veber.«
»Ja. Das ist das Ende. Armes Frankreich.«
Ravic saß eine Weile. Alles war leer. »Es ist mehr als Frankreich, Veber«, sagte er dann.
Veber starrte ihn an. »Für mich ist es Frankreich. Das ist genug.«
Ravic antwortete nicht. »Was werden Sie machen?« fragte er nach einer Weile.
»Ich weiß nicht. Ich werde wohl zu meinem Regiment gehen. Das hier...«, er machte eine vage Geste. »Jemand wird es übernehmen müssen.«
»Sie werden es behalten. Im Krieg braucht man Hospitäler. Man wird Sie hierlassen.«
»Ich will nicht hierbleiben.«
Ravic sah sich um. »Dies wird mein letzter Tag hier sein. Ich glaube, es ist alles in Ordnung. Der Gebärmutterfall heilt; die Gallenblase ist in Ordnung; der Krebs ist aussichtslos; weitere Operation zwecklos. Das ist das.«
»Warum?« fragte Veber müde. »Warum ist das Ihr letzter Tag?«
»Man wird uns festnehmen, sobald der Krieg erklärt ist.« Ravic sah, daß Veber etwas sagen wollte. »Wir wollen nicht argumentieren darüber. Es ist notwendig. Man wird es tun.«
Veber setzte sich in seinen Stuhl. »Ich weiß nichts mehr. Vielleicht. Vielleicht wird man auch nicht kämpfen. Das Land so übergeben. Man weiß nichts mehr.«
Ravic stand auf. »Ich komme abends wieder, wenn ich noch da bin. Um acht.«
»Ja.«
Ravic ging. Im Vorzimmer fand er den Schauspieler. Er hatte ihn völlig vergessen gehabt. Der Mann sprang auf. »Was ist mit ihr?«
»Sie ist tot.«
Der Mann starrte ihn an. »Tot?« Er griff mit einer tragischen Bewegung nach seinem Herzen und taumelte. Verdammter Komödiant, dachte Ravic. Er hatte wohl so etwas Ähnliches gespielt, daß er in eine Rolle zurückfiel, als es ihm selbst passierte. Aber vielleicht war er auch ehrlich, und die Gesten seines Berufes umflatterten nur albern seinen wirklichen Schmerz. »Kann ich sie sehen?«
»Wozu?«
»Ich muß sie noch einmal sehen.« Der Mann preßte beide Hände gegen seine Brust. In den Händen hielt er einen hellbraunen Homburghut mit Seidenkante. »Verstehen Sie doch! Ich muß...«
Er hatte Tränen in den Augen. »Hören Sie«, sagte Ravic ungeduldig. »Es ist besser, Sie verschwinden. Die Frau ist tot, und nichts ändert mehr daran. Machen Sie Ihre Sache mit sich selbst ab. Scheren Sie sich zum Teufel! Kein Mensch ist interessiert daran, ob Sie ein Jahr Gefängnis bekommen oder dramatisch freigesprochen werden. In ein paar Jahren werden Sie ohnehin damit herumprotzen und sich vor anderen Frauen damit wichtig machen, um sie zu bekommen. Raus — Sie Idiot!«
Er gab ihm einen Stoß zur Tür hin. Der Mann zögerte einen Moment. An der Tür drehte er sich um. »Sie gefühlloses Biest! Sale boche!«
Die Straßen waren voll mit Menschen. Zu Trauben gedrängt standen sie vor den großen, laufenden Leuchtanzeigen der Zeitungen. Ravic fuhr zum Jardin du Luxembourg. Er wollte ein paar Stunden allein sein, bevor man ihn verhaftete. — Der Garten war leer. Er lag im warmen Licht des vollen Spätsommernachmittags. Die Bäume hatten eine erste Ahnung vom Herbst — nicht vom Herbst des Welkens, sondern vom Herbst des Reifens. Das Licht war Gold und das Blau eine letzte, seidene Fahne des Sommers.
Ravic saß lange da. Er sah das Licht wechseln und die Schatten länger werden. Er wußte, es waren die letzten Stunden, die er frei sein würde. Die Wirtin des »International« konnte niemand mehr decken, wenn Krieg erklärt würde. Er dachte an Rolande. Auch Rolande nicht. Niemand. Zu versuchen, jetzt weiter zu fliehen, hieße als Spion verhaftet zu werden.
Er saß bis zum Abend. Er war nicht traurig. Gesichter zogen an ihm vorbei, Gesichter und Jahre. Und dann das letzte, erstarrte Gesicht.
Um sieben Uhr ging er. Er verließ den letzten Rest Frieden, den eindunkelnden Park, und wußte es. Wenige Schritte die Straße aufwärts sah er die Extrablätter.
Der Krieg war erklärt.
Er saß in einem Bistro, das kein Radio hatte. Dann ging er zur Klinik zurück. Veber kam ihm entgegen. »Können Sie noch einen Kaiserschnitt machen? Wir haben jemand eingeliefert bekommen.«
»Natürlich.«
Er ging, sich umzuziehen. Eugenie begegnete ihm. Sie stutzte, als sie ihn sah. »Sie haben mich wohl nicht mehr erwartet?« sagte er.
»Nein«, sagte sie und sah ihn sonderbar an. Dann ging sie rasch an ihm vorbei.
Der Kaiserschnitt war eine einfache Sache. Ravic machte ihn fast gedankenlos. Einige Male fühlte er den Blick Eugenies auf sich. Er wunderte sich, was sie hatte.
Das Kind quäkte. Es wurde gewaschen. Ravic blickte auf das rote, schreiende Gesicht und die winzigen Finger.Wir kommen nicht mit einem Lächeln auf die Welt, dachte er. Er gab es weiter an die Hilfsschwester. Es war ein Knabe. »Wer weiß, für was für einen Krieg er zurechtkommt!« sagte er.
Er wusch sich. Veber wusch sich neben ihm. »Wenn es wahr sein sollte, daß Sie verhaftet werden, Ravic, wollen Sie es mich sofort wissen lassen, wo Sie sind?«
»Warum wollen Sie in Schwierigkeiten kommen,Veber? Es ist besser jetzt, Leute meiner Art nicht zu kennen.«
»Warum? Weil Sie Deutscher waren? Sie sind ein Refugié.«
Ravic lächelte trübe. »Wissen Sie nicht, daß Refugiés immer der Stein zwischen Steinen sind? Für ihr Geburtsland sind sie Verräter und für das Ausland immer noch Angehörige ihres Geburtslandes.«
»Das ist mir gleichgültig. Ich will, daß Sie so schnell herauskommen wie möglich.Wollen Sie mich als Referenz angeben?«
»Wenn Sie wollen.«
Ravic wußte, daß er es nicht tun werde.
»Für einen Arzt ist überall etwas zu tun.« Ravic trocknete sich ab. »Wollen Sie mir einen Gefallen tun? Für das Begräbnis von Joan Madou zu sorgen? Ich werde keine Zeit mehr dafür haben.«
»Natürlich. Ist sonst noch etwas zu ordnen? Hinterlassenschaft oder so etwas?«
»Das kann man der Polizei überlassen. Ich weiß nicht, ob sie Verwandte irgendwo hat. Das ist auch gleichgültig.«
Er zog sich an.
»Adieu, Veber. Es war eine gute Zeit mit Ihnen.«
»Adieu, Ravic. Wir müssen noch den Kaiserschnitt verrechnen.«
»Verrechnen wir auf das Begräbnis. Es wird ohnehin mehr kosten. Ich möchte Ihnen das Geld dafür hierlassen.«
»Ausgeschlossen. Ausgeschlossen, Ravic.Wo wollen Sie, daß sie begraben wird?«
»Ich weiß nicht. Auf irgendeinem Friedhof. Ich lasse Ihnen ihren Namen und ihre Adresse hier.« Ravic schrieb ihn auf einen Rechnungsblock der Klinik.
Veber legte den Zettel unter einen Briefbeschwerer aus Kristall, in den ein silbernes Schaf eingegossen war.
»Gut, Ravic. Ich denke, ich werde in ein paar Tagen auch fort sein. Viel operieren hätten wir doch kaum können, wenn Sie nicht mehr da sind.«
Er ging mit Ravic hinaus.
»Adieu, Eugenie«, sagte Ravic.
»Adieu, Herr Ravic.« Sie sah ihn an. »Gehen Sie zum Hotel?«
»Ja. Warum?«
»Oh, nichts, ich dachte nur...«
Es war dunkel. Vor dem Hotel stand ein Lastwagen. »Ravic«, sagte Morosow aus einem Hauseingang heraus.
»Boris?« Ravic blieb stehen.
»Die Polizei ist in der Bude.«
»Das dachte ich mir.«
»Ich habe die Carte d’Identité von Ivan Kluge hier. Du weißt, von dem toten Russen. Noch anderthalb Jahre gültig. Geh mit mir zur Scheherazade. Wir wechseln die Fotos aus. Du suchst dir dann ein anderes Hotel und bist ein russischer Emigrant.«
Ravic schüttelte den Kopf.
»Zu riskant, Boris. Im Krieg soll man keine falschen Papiere haben. Besser gar keine.«
»Was willst du dann machen?«
»Ich gehe zum Hotel.«
»Hast du dir das genau überlegt, Ravic?« fragte Mo rosow. »Ja, genau.« »Verdammt! Wer weiß, wo sie dich da hinstecken!« »Auf jeden Fall werden sie mich nicht ausliefern nach Deutschland. Das ist vorbei. Auch nicht ausweisen nach der Schweiz.« Ravic lächelte. »Es wird das erstemal in sieben Jahren sein, daß die Polizei uns behalten will, Boris. Es hat einen Krieg gebraucht, um es so weit zu bringen.«
»Es heißt, daß in Longchamps ein Konzentrationslager eingerichtet wird.« Morosow zerrte an seinem Bart. »Dazu mußtest du aus einem deutschen Konzentrationslager fliehen... um jetzt in ein französisches zu kommen.«
»Vielleicht lassen sie uns bald wieder heraus.« Morosow antwortete nicht. »Boris«, sagte Ravic. »Mach dir keine Sorge um mich. Ärzte braucht man im Krieg.« »Unter was für einem Namen wirst du dich festnehmen lassen?«
»Unter meinem eigenen. Den habe ich hier nur einmal vor fünf Jahren gebraucht.« Ravic schwieg eine Weile. »Boris«, sagte er dann, »Joan ist tot. Erschossen von einem Mann. Sie liegt in Vebers Klinik. Sie muß begraben werden.Veber hat es mir versprochen, aber ich weiß nicht, ob er nicht vorher einrücken muß. Willst du dich um sie kümmern? Frag mich nichts, sag ja und fertig.«
»Ja«, sagte Morosow.
»Gut. Servus, Boris. Nimm von meinen Sachen, was du brauchen kannst. Zieh in meine Bude. Du wolltest ja immer mein Badezimmer haben. Ich gehe jetzt. Servus.«
»Scheiße«, sagte Morosow.
»Gut. Ich treffe dich nach dem Krieg bei Fouquet’s.«
»Welche Seite? Champs-Elysées oder George V.?«
»George V. Wir sind Idioten. Heroische Rotzidioten.
»Servus, Boris.«
»Scheiße«, sagte Morosow. »Nicht einmal anständig verabschieden trauen wir uns. Komm her, du Idiot.«
Er küßte Ravic rechts und links auf die Backen. Ravic spürte den Bart und den Geruch nach Pfeifentabak. Es war nicht angenehm. Er ging zum Hotel.
Die Emigranten standen in den Katakomben. Wie die ersten Christen, dachte Ravic. Die ersten Europäer. Ein Mann in Zivil saß vor einem Schreibtisch unter der künstlichen Palme und nahm die Personalien auf.
Zwei Polizisten bewachten die Türen, aus denen niemand entfliehen wollte. »Paß?« fragte der Polizist Ravic. »Nein.« »Andere Papiere?« »Nein.« »Illegal hier?« »Ja.« »Warum?«
»Geflohen aus Deutschland. Keine Möglichkeit, Papiere zu haben.«
»Name?«
»Fresenburg.«
»Vorname?«
»Ludwig.«
»Jude?«
»Nein.«
»Beruf?«
»Arzt.«
Der Mann schrieb. »Arzt?« sagte er dann und nahm einen Zettel hoch. »Kennen Sie einen Arzt, der Ravic heißt?«
»Nein.«
»Er soll hier wohnen. Wir haben eine Anzeige.«
Ravic sah ihn an. Eugenie, dachte er. Sie hatte ihn gefragt, ob er zum Hotel ginge, und war so überrascht gewesen, daß er noch frei war.
»Ich sagte Ihnen ja, daß niemand hier wohnt, der so heißt«, erklärte die Wirtin, die neben der Tür zur Küche stand.
»Seien Sie ruhig«, sagte der Mann mißmutig. »Sie werden ohnehin bestraft, weil Sie diese Leute hier nicht angemeldet haben.«
»Darauf bin ich stolz. Wenn Menschlichkeit bestraft wird, nur immer zu.«
Der Mann sah aus, als wolle er antworten; aber er unterbrach sich selbst und winkte ab. Die Wirtin starrte ihn herausfordernd an. Sie hatte höhere Protektion und fürchtete nichts.
»Packen Sie Ihre Sachen«, sagte der Mann zu Ravic. »Nehmen Sie Wäsche und zu essen für einen Tag mit. Decke auch, wenn Sie eine haben.«
Ein Polizist ging mit hinauf. Die Türen zu vielen Zimmern standen offen. Ravic nahm seinen Koffer, der längst gepackt war, und seine Decke.
»Weiter nichts?« fragte der Polizist ihn.
»Weiter nichts.«
»Das andere lassen Sie hier?«
»Das andere lasse ich hier.«
»Das auch?« Der Polizist zeigte auf den Tisch neben dem Bett, auf dem die kleine, hölzerne Madonna stand, die Joan Ravic im Anfang ins »International« geschickt hatte. »Das auch.« Sie gingen hinunter. Clarissa, das elsässische Dienstmädchen, gab Ravic ein Paket. Ravic sah, daß die anderen die gleichen Pakete hatten. »Zu essen«, erklärte die Wirtin. »Damit Sie nicht verhungern. Ich bin überzeugt, daß nichts vorbereitet ist, wohin Sie kommen.«
Sie starrte den Zivilisten an. »Reden Sie nicht soviel«, sagte der ärgerlich. »Ich habe den Krieg nicht erklärt.« »Die hier auch nicht.« »Lassen Sie mich in Ruhe.« Er blickte auf den Polizisten.
»Fertig? Führen Sie sie hinaus.«
Der dunkle Haufe setzte sich in Bewegung. Ravic sah den Mann mit der Frau, die die Kakerlaken gesehen hatte. Der Mann stützte die Frau mit dem freien Arm. Unter dem andern hatte er einen Koffer; einen zweiten hielt er in der Hand. Der Junge schleppte ebenfalls einen Koffer.
Der Mann sah Ravic flehentlich an.
Ravic nickte. »Ich habe Instrumente und Medizin bei mir«, sagte er. »Keine Angst.«
Sie stiegen auf den Lastwagen. Der Motor knatterte. Der Wagen fuhr an. Die Wirtin stand unter der Tür und winkte. »Wohin fahren wir?« fragte jemand einen der Polizisten.
»Ich weiß es nicht.«
Ravic stand neben Rosenfeld und dem falschen Aaron Goldberg. Rosenfeld trug eine Rolle unter dem Arm. Darin waren Cezanne und der Gauguin.
Sein Gesicht arbeitete. »Das spanische Visum«, sagte er. »Abgelaufen, bevor ich...«
Er brach ab.
»Der Totenvogel ist weg«, sagte er dann. »Markus Meyer. Gestern nach Amerika.«
Der Wagen schüttelte. Alle standen dicht aneinandergepreßt. Kaum jemand sprach. Sie fuhren um eine Ecke. Ravic sah den Fatalisten Seidenbaum. Er stand ganz in die Ecke gedrückt. »Da sind wir wieder einmal«, sagte er.
Ravic suchte nach einer Zigarette. Er fand keine. Aber er erinnerte sich, genug eingepackt zu haben. »Ja«, sagte er. »Der Mensch kann viel aushalten.«
Der Wagen fuhr die Avenue Wagram entlang und bog in den Place de l’Etoile ein. Nirgendwo brannte ein Licht. Der Platz war nichts als Finsternis. Es war so dunkel, daß man auch den Arc de Triomphe nicht mehr sehen konnte.