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Der Wirt kannte Ravic gleich wieder. »Die Dame ist in ihrem Zimmer«, sagte er.
»Können Sie ihr telefonieren, daß ich hier bin?«
»Das Zimmer hat kein Telefon. Sie können ruhig hinaufgehen.« »Welche Nummer ist es?«
»Siebenundzwanzig.«
»Ich habe den Namen nicht mehr im Kopf. Wie hieß sie doch?« Der Wirt zeigte kein Erstaunen. »Madou. Joan Madou«, fügte er hinzu. »Glaube nicht, daß sie wirklich so heißt. Künstlername wahrscheinlich.«
»Wieso Künstlername?«
»Sie hat sich als Schauspielerin eingetragen. Klingt doch so, wie?«
»Das weiß ich nicht. Ich kannte einen Schauspieler, der nannte sich Gustav Schmidt. Er hieß in Wirklichkeit Alexander Marie Graf von Zambona. Gustav Schmidt war sein Künstlername. Klang gar nicht so, wie?«
Der Wirt gab sich nicht geschlagen. »Heutzutage passiert viel«, erklärte er.
»Es passiert gar nicht einmal so viel. Wenn Sie Geschichte studieren, werden Sie finden, daß wir noch in verhältnismäßig ruhigen Zeiten leben.«
»Danke, mir genügt’s.«
»Mir auch. Aber man muß seinen Trost suchen, wo man kann. Nummer siebenundzwanzig, sagten Sie?«
»Ja, mein Herr.«
Ravic klopfte. Niemand antwortete. Er klopfte noch einmal und hörte eine undeutliche Stimme. Als er die Tür öffnete, sah er die Frau. Sie saß auf dem Bett, das an der Querwand stand, und blickte langsam auf. Sie war angezogen und trug das blaue Schneiderkostüm, in dem Ravic sie zum ersten Male gesehen hatte. Sie hätte weniger verlassen gewirkt, wenn sie vernachlässigt, in irgendeinem Schlafrock herumgelegen hätte. Aber so, angezogen für niemand und nichts, aus einer Gewohnheit heraus, die jetzt nichts mehr bedeutete, hatte sie etwas, daß Ravic einen Schlag aufs Herz gab. Er kannte das — er hatte Hunderte von Menschen so sitzen sehen, Emigranten, verschlagen in fremdeste Fremde. Eine kleine Insel ungewissen Daseins — so saßen sie da und wußten nicht wohin — und nur die Gewohnheit erhielt sie am Leben.
Er zog die Tür hinter sich zu. »Ich hoffe, ich störe Sie nicht«, sagte er und empfand sofort, wie sinnlos das war. Was konnte die Frau schon stören? Da war nichts, was sie noch stören konnte.
Er legte seinen Hut auf einen Stuhl. »Konnten Sie alles erledigen?« fragte er.
»Ja. Es war nicht viel.«
»Keine Schwierigkeiten?«
»Nein.«
Ravic setzte sich in den einzigen Sessel des Zimmers.
Die Sprungfedern knarrten, und er fühlte, daß eine zerbrochen war.
»Wollten Sie fortgehen?« fragte er.
»Ja. Irgendwann. Später. Nirgendwohin — nur so. Was soll man sonst tun?«
»Nichts. Es ist richtig; für ein paar Tage. Kennen Sie niemand in Paris?«
»Nein.«
»Niemand?«
Die Frau hob mit einer müden Bewegung den Kopf. »Niemand — außer Ihnen, den Wirt, den Kellner und das Zimmermädchen.« Sie lächelte trübe. »Das ist nicht viel, wie?«
»Nein. Kannte...« Ravic suchte nach dem Namen des toten Mannes. Er hatte ihn vergessen.
»Nein«, sagte die Frau. »Raczinsky hatte keine Bekannten hier, oder ich habe sie nie gesehen. Er wurde gleich krank, als wir hier ankamen.«
Ravic hatte nicht lange bleiben wollen. Jetzt, als er die Frau so dasitzen sah, änderte er seine Absicht. »Haben Sie schon zu Abend gegessen?«
»Nein. Ich bin auch nicht hungrig.«
»Haben Sie heute überhaupt schon etwas gegessen?«
»Ja. Heute mittag. Tagsüber ist das einfacher. Abends...« — Ravic blickte sich um. Das kleine, kahle Zimmer roch nach Trostlosigkeit und November. »Es wird Zeit, daß Sie hier herauskommen«, sagte er. »Kommen Sie.Wir werden zusammen essen gehen.«
Er hatte erwartet, daß die Frau Einwendungen machen würde. Sie schien so gleichgültig, als könne sie sich zu nichts mehr aufraffen. Aber sie stand gleich auf und griff nach ihrem Regenmantel.
»Das da ist nicht genug«, sagte er. »Der Mantel ist viel zu dünn. Haben Sie keinen wärmeren? Es ist kalt draußen.«
»Es regnete vorhin...«
»Es regnet immer noch. Aber es ist kalt. Können Sie nicht etwas darunter anziehen. Einen anderen Mantel oder wenigstens einen Sweater?«
»Ich habe einen Sweater.«
Sie ging zu dem größeren Koffer. Ravic sah, daß sie fast nichts ausgepackt hatte. Sie holte einen schwarzen Sweater aus dem Koffer, zog die Jacke aus und streifte ihn über. Sie hatte gerade und schöne Schultern. Dann nahm sie die Baskenmütze und zog die Jacke und den Mantel an. »Ist es so besser?«
»Viel besser.«
Sie gingen die Treppe hinunter. Der Wirt war nicht mehr da. Statt dessen saß der Concierge neben dem Schlüsselbrett. Er sortierte Briefe und roch nach Knoblauch. Neben ihm saß regungslos eine gefleckte Katze und sah ihm zu.
»Haben Sie immer noch das Gefühl, daß Sie nichts essen können?« fragte Ravic draußen.
»Ich weiß es nicht. Nicht viel, glaube ich.«
Ravic winkte ein Taxi heran. »Gut. Dann werden wir in die ›Belle Aurore‹ fahren. Da braucht man kein langes Diner zu essen.«
Die »Belle Aurore« war nicht sehr besetzt. Es war schon zu spät dafür. Sie fanden einen Tisch in dem schmalen, oberen Raum mit der niedrigen Decke. Außer ihnen war nur noch ein Paar da, das am Fenster saß und Käse aß, und ein einzelner, dünner Mann, der einen Berg Austern vor sich hatte. Der Kellner kam und besah das gewürfelte Tischtuch kritisch. Dann entschloß er sich, es zu wechseln.
»Zwei Wodkas«, bestellte Ravic. »Kalt.«
»Wir werden etwas trinken und Vorspeisen essen«, sagte er zu der Frau. »Ich glaube, das ist das richtige für Sie. Dies ist ein Restaurant für Hors d’œuvres. Es gibt kaum etwas anderes hier. Jedenfalls kommt man fast nie dazu, etwas anderes zu essen. Es gibt Dutzende, warme und kalte, und alle sind sehr gut; wir werden es einmal versuchen.«
Der Kellner brachte den Wodka und holte einen Notizblock heraus. »Eine Karaffe Vin rosé«, sagte Ravic. »Haben Sie Anjou?«
»Anjou, offen, rosé, sehr wohl, mein Herr.«
»Gut. Eine große Karaffe in Eis. Und die Vorspeisen.«
Der Kellner ging. Er stieß an der Tür fast zusammen mit einer Frau in einem roten Federhut, die rasch die Treppe heraufkam. Sie schob ihn beiseite und ging auf den dünnen Mann mit den Austern zu. »Albert«, sagte sie. »Du Schwein...«
»Tsk, tsk«, machte Albert und sah sich um.
»Nicht tsk, tsk!« Die Frau legte ihren nassen Regenschirm quer über den Tisch und setzte sich entschlossen.
Albert schien nicht überrascht zu sein. »Chérie«, sagte er und begann zu flüstern.
Ravic lächelte und hob sein Glas. »Wir wollen das hier einmal auf einen Schluck austrinken. Salute.«
»Salute«, sagte Joan Madou und trank.
Die Vorspeisen wurden auf kleinen Wagen herbeigerollt. »Was möchten Sie?« Ravic sah die Frau an. »Ich glaube, das einfachste ist, ich stelle Ihnen etwas zusammen.«
Er häufte einen Teller voll und gab ihn ihr hinüber. »Es macht nichts, wenn Ihnen davon nichts schmeckt. Es kommen noch ein paar andere Wagen. Dies ist nur der Anfang.«
Er füllte sich selbst einen Teller und begann zu essen, ohne sich um sie weiter zu kümmern. Er spürte plötzlich, daß auch sie aß. Er schälte eine Langustine und hielt sie ihr hinüber. »Probieren Sie das einmal. Besser als Langusten. Und nun die Paté Maison. Mit einer Kruste von dem weißen Brot dazu. So, das geht ja ganz gut. Und jetzt etwas von dem Wein. Leicht, herbe und kühl.«
»Sie machen sich viel Mühe mit mir«, sagte die Frau.
»Ja, wie ein Oberkellner.« Ravic lachte.
»Nein. Aber Sie machen sich viel Mühe mit mir.«
»Ich esse nicht gern allein. Das ist alles. Genau wie Sie.« »Ich bin kein guter Partner.«
»Doch«, erwiderte Ravic. »Zum Essen schon. Zum Essen sind Sie ein erstklassiger Partner. Ich kann keine geschwätzigen Menschen leiden. Und keine, die zu laut sprechen.«
Er sah zu Albert hinüber. Der rote Federhut erklärte dem gerade sehr vernehmlich, warum er ein solches Schwein sei, und klopfte dabei rhythmisch mit dem Regenschirm auf den Tisch. Albert hörte geduldig zu und war nicht sehr beeindruckt.
Joan Madou lächelte flüchtig. »Das kann ich nicht.«
»Hier kommt der nächste Vorratswagen. Wollen wir gleich heran, oder wollen Sie vorher eine Zigarette rauchen?«
»Lieber vorher eine Zigarette.«
»Gut. Ich habe heute andere bei mir als die mit dem schwarzen Tabak.«
Er gab ihr Feuer. Sie lehnte sich zurück und atmete tief den Rauch ein. Dann sah sie Ravic voll an. »Es ist gut, so zu sitzen«, sagte sie, und es schien ihm einen Augenblick, als würde sie sofort in Tränen ausbrechen.
Sie tranken Kaffee im »Colysée«. Der große Raum zu den Champs Elysées war überfüllt, aber sie bekamen einen Tisch unten in der Bar, in der die obere Hälfte der Wände mit Glasscheiben verkleidet war, hinter denen Papageien und Kakadus hockten und bunte tropische Vögel hin und her flogen.
»Haben Sie schon darüber nachgedacht, was Sie tun wollen?« fragte Ravic.
»Nein, noch nicht.«
»Hatten Sie irgendwas Bestimmtes vor, als Sie hierher kamen?«
Die Frau zögerte. »Nein, nichts Genaues.«
»Ich frage Sie nicht aus Neugier.«
»Das weiß ich. Sie meinen, ich solle etwas tun. Das will ich auch. Ich sage es mir selbst jeden Tag. Aber dann...«
»Der Wirt sagte mir, Sie seien Schauspielerin. Ich habe ihn nicht danach gefragt. Er sagte es mir, als ich nach Ihrem Namen fragte.«
»Wußten Sie ihn nicht mehr?«
Ravic blickte auf. Sie sah ihn ruhig an. »Nein«, sagte er. »Ich hatte den Zettel im Hotel gelassen und konnte mich nicht mehr erinnern.«
»Wissen Sie ihn jetzt?«
»Ja. Joan Madou.«
»Ich bin keine gute Schauspielerin«, sagte die Frau. »Ich habe nur kleine Rollen gespielt. In der letzten Zeit nichts mehr. Ich spreche auch nicht gut genug Französisch dafür.«
»Was sprechen Sie denn?«
»Italienisch. Ich bin da aufgewachsen. Und etwas Englisch und Rumänisch. Mein Vater war Rumäne. Er ist tot. Meine Mutter Engländerin; sie lebt noch in Italien, ich weiß nicht, wo.«
Ravic hörte nur halb zu. Er langweilte sich und wußte nicht mehr recht, was er reden sollte. »Haben Sie außerdem noch etwas getan?« fragte er, um etwas zu fragen. »Außerhalb der kleinen Rollen, die Sie gespielt haben?«
»Das, was so dazugehört. Etwas singen und tanzen.«
Er blickte sie zweifelnd an. Sie sah nicht so aus. Sie hatte etwas Fahles, Verwischtes, und sie war nicht attraktiv. Sie sah nicht einmal aus wie eine Schauspielerin. Das war ohnehin ein weites Wort.
»So etwas können Sie ja leichter hier versuchen«, sagte er. »Dazu brauchen Sie nicht perfekt zu sprechen.«
»Nein. Aber ich muß erst etwas finden. Das ist schwer, wenn man niemand kennt.«
Morosow, dachte Ravic plötzlich. Die Scheherazade. Natürlich. Morosow mußte von solchen Sachen etwas wissen. Der Gedanke belebte ihn. Morosow hatte ihn in diesen trüben Abend hineingebracht — jetzt konnte er die Frau an ihn weiterschieben, und Boris sollte einmal zeigen, was er konnte. »Können Sie Russisch?« fragte er.
»Etwas. Ein paar Lieder. Zigeunerlieder. Sie sind so ähnlich wie rumänische. Warum?«
»Ich kenne jemand, der von diesen Dingen etwas versteht. Vielleicht kann er Ihnen helfen. Ich werde Ihnen seine Adresse geben.«
»Ich fürchte, es hat nicht viel Zweck. Agenten sind überall gleich. Empfehlungen nützen da wenig.«
Ravic merkte, daß sie annahm, er wolle sie auf bequeme Art loswerden. Da es stimmte, protestierte er. »Der Mann, den ich meine, ist kein Agent. Er ist Portier in der Scheherazade. Das ist ein russischer Nachtklub in Montmartre.«
»Portier?« Joan Madou hob den Kopf. »Das ist etwas anderes. Portiers wissen mehr als Agenten. Das kann etwas sein. Kennen Sie ihn gut?«
»Ja.«
Ravic war überrascht. Sie hatte auf einmal ganz geschäftsmäßig gesprochen. Das geht ja schnell, dachte er. »Es ist ein Freund von mir. Er heißt Boris Morosow«, sagte er. »Er ist seit zehn Jahren in der Scheherazade. Sie haben da immer eine ziemlich große Show. Die Nummern wechseln oft. Morosow ist mit dem Manager befreundet.Wenn in der Scheherazade nichts für Sie frei ist, weiß er sicher etwas anderes — irgendwo. Wollen Sie es versuchen?«
»Ja. Wann?«
»Am besten so um neun Uhr abends. Dann ist noch nichts zu tun, und er hat Zeit für Sie. Ich werde ihm Bescheid sagen.« Ravic freute sich bereits auf das Gesicht Morosows. Er fühlte sich plötzlich besser. Die leichte Verantwortung, die er immer noch gespürt hatte, war verschwunden. Er hatte getan, was er konnte, und nun mußte sie weitersehen. »Sind Sie müde?« fragte er.
Joan Madou blickte ihm gerade in die Augen. »Ich bin nicht müde«, sagte sie. »Aber ich weiß, daß es kein Vergnügen ist, mit mir hier zu sitzen. Sie haben Mitleid mit mir gehabt, und ich danke Ihnen dafür. Sie haben mich aus dem Zimmer genommen und mit mir gesprochen. Das war viel für mich, denn ich habe seit Tagen kaum mit jemand ein Wort gewechselt. Ich werde jetzt gehen. Sie haben mehr als genug für mich getan. All die Zeit schon. Was wäre sonst aus mir geworden!«
Mein Gott, dachte Ravic, jetzt fängt sie auch noch damit an! Er sah unbehaglich auf die Glaswand vor sich. Eine Taube versuchte dort, einen Kakadu zu vergewaltigen. Der Kakadu war so gelangweilt, daß er sie nicht einmal abschüttelte. Er fraß einfach weiter und ignorierte sie.
»Es war kein Mitleid«, sagte Ravic.
»Was sonst?«
Die Taube gab auf. Sie hüpfte von dem breiten Rükken des Kakadus herunter und begann ihre Federn zu putzen. Der Kakadu lüftete gleichgültig seinen Schwanz und schiß.
»Wir werden jetzt einen guten, alten Armagnac trinken«, sagte Ravic. »Das ist die beste Antwort. Glauben Sie mir: Ich bin kein so besonderer Menschenfreund. Es gibt viele Abende, wo ich allein irgendwo herumsitze. Halten Sie das für besonders interessant?«
»Nein, aber ich bin ein schlechter Partner, und das ist schlimmer.«
»Ich habe verlernt, nach Partnern zu suchen. Hier ist Ihr Armagnac. Salute!«
»Salute!«
Ravic setzte sein Glas nieder. »So, und jetzt werden wir aus dieser Menagerie hier verschwinden. Sie möchten doch noch nicht ins Hotel zurück?«
Joan Madou schüttelte den Kopf.
»Gut. Dann werden wir weitergehen. Und zwar zur Scheherazade.Wir werden da trinken. Das haben wir beide scheinbar nötig, und Sie können dann gleich ansehen, was dort los ist.«
Es war gegen drei Uhr nachts.
Sie standen vor dem Hotel Milan. »Haben Sie genug getrunken?« fragte Ravic.
Joan Madou zögerte. »Ich dachte, es wäre genug drüben in der Scheherazade. Aber jetzt hier, wenn ich diese Tür ansehe — es war nicht genug.«
»Dagegen läßt sich etwas tun. Vielleicht gibt es hier im Hotel noch etwas. Sonst gehen wir in eine Kneipe und kaufen eine Flasche. Kommen Sie.«
Sie sah ihn an. Dann sah sie die Tür an. »Gut«, sagte sie mit einem Entschluß. Doch sie blieb stehen. »Da hinaufgehen«, sagte sie. »In das leere Zimmer...«
»Ich werde Sie hinaufbringen. Und wir werden eine Flasche mitnehmen.«
Der Portier erwachte. »Haben Sie noch etwas zu trinken?« fragte Ravic.
»Champagnercocktail?« fragte der Portier sofort geschäftsmäßig zurück, während er noch gähnte.
»Danke. Etwas Herzhafteres. Kognak. Eine Flasche.«
»Courvoisier, Martell, Hennessy, Biscuit Dubouche?«
»Courvoisier.«
»Sehr wohl, mein Herr. Ich werde den Kork ziehen und die Flasche heraufbringen.«
Sie gingen die Treppe hinauf. »Haben Sie Ihren Schlüssel?« fragte Ravic die Frau.
»Das Zimmer ist nicht abgeschlossen.«
»Man kann Ihnen Ihr Geld und Ihre Papiere stehlen, wenn Sie nicht abschließen.«
»Das kann man auch, wenn ich abschließe.«
»Das ist wahr — bei diesen Schlössern. Trotzdem — es ist dann nicht ganz so einfach.«
»Vielleicht. Aber ich mag nicht allein von der Straße zurückkommen, einen Schlüssel nehmen und aufschließen, um in ein leeres Zimmer zu gehen — das ist wie ein Grab aufschließen. Es ist schon genug, daß man ohne das hier hineingeht — wo nichts auf einen wartet als ein paar Koffer.«
»Es wartet nirgendwo etwas«, sagte Ravic. »Man muß alles immer selbst mitbringen.«
»Das mag sein. Aber es ist dann noch eine barmherzige Illusion dabei. Hier ist nichts...«
Joan Madou warf ihren Mantel und ihre Baskenmütze auf das Bett und sah Ravic an. Ihre Augen waren hell und groß in dem blassen Gesicht und wie erstarrt in einer zornigen Verzweiflung. Sie stand einen Augenblick so da. Dann begann sie in dem kleinen Raum hin und her zu gehen, die Hände in den Taschen ihrer Jacke, mit langen Schritten, geschmeidig den Körper herumwerfend, wenn sie sich umdrehte. Ravic sah sie aufmerksam an. Sie hatte plötzlich Kraft und eine ungestüme Grazie, und das Zimmer schien viel zu eng für sie.
Es klopfte. Der Portier brachte den Kognak herein. »Wollen die Herrschaften noch etwas essen? Kaltes Huhn. Sandwiches...«
»Das wäre Zeitverschwendung, Bruder.« Ravic bezahlte ihn und schob ihn hinaus. Dann schenkte er zwei Gläser ein. »Hier. Es ist einfach und barbarisch — aber in schwierigen Situationen ist das Primitive das beste.Verfeinerung ist etwas für ruhige Zeiten. Trinken Sie das.«
»Und dann?«
»Dann trinken Sie das nächste.«
»Ich habe das versucht. Es nützt nichts. Es ist nicht gut, betrunken zu sein, wenn man allein ist.«
»Man muß nur genug betrunken sein. Dann geht es.«
Ravic setzte sich auf eine schmale, wacklige Chaiselongue, die an der Zimmerwand dem Bett quer gegenüberstand. Er hatte sie früher nicht gesehen. »Stand das schon hier, als Sie einzogen?« fragte er.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe es hereinstellen lassen. Ich wollte nicht in dem Bett schlafen. Es schien sinnlos. Ein Bett und sich ausziehen und alles. Wofür? Morgens und am Tage ging es. Aber nachts...«
»Sie müssen etwas zu tun haben.« Ravic zündete sich eine Zigarette an. »Schade, daß wir Morosow nicht getroffen haben. Ich wußte nicht, daß er heute seinen freien Tag hatte. Gehen Sie morgen abend hin. Gegen neun. Irgend etwas wird er schon für Sie finden. Und wenn es Arbeit in der Küche wäre. Dann sind Sie nachts beschäftigt. Das wollen Sie doch?«
»Ja.« Joan Madou hörte auf, hin und her zu gehen. Sie trank das Glas Kognak und setzte sich auf das Bett. »Ich bin draußen herumgegangen jede Nacht. Solange man geht, ist alles besser. Erst wenn man sitzt, und die Decke fällt einem auf den Kopf...«
»Ist Ihnen nie etwas passiert unterwegs? Nichts gestohlen worden?«
»Nein. Ich sehe wohl nicht so aus, als ob viel zu stehlen wäre bei mir.« Sie hielt Ravic ihr leeres Glas hin. »Und das andere? Ich habe oft genug darauf gewartet, daß wenigstens einer zu einem spricht! Daß man nicht nur so nichts ist, nur Gehen! Daß wenigstens Augen einen ansehen, Augen und nicht nur Steine! Daß man nicht sowie ein Ausgestoßener herumrennt! Wie jemand auf einem fremden Planeten!« Sie warf das Haar zurück und nahm das Glas, daß Ravic ihr hinüberreichte. »Ich weiß nicht, weshalb ich davon spreche. Ich will es gar nicht. Vielleicht, weil ich stumm war all die Tage.Vielleicht, weil heute abend zum erstenmal...« Sie brach ab.
»Hören Sie nicht auf mich...«
»Ich trinke«, sagte Ravic. »Sagen Sie, was Sie wollen. Es ist Nacht. Niemand hört Sie. Ich höre auf mich selbst. Morgen ist alles vergessen.«
Er lehnte sich zurück. Irgendwo im Hause rauschte Wasser. Die Heizung knackte, und an das Fenster klopfte immer noch mit weichen Fingern der Regen.
»Wenn man dann zurückkommt und das Licht ausmacht — und die Dunkelheit fällt über einen wie ein Wattebausch mit Chloroform — und man macht das Licht wieder an und starrt und starrt...«
Ich muß schon betrunken sein, dachte Ravic. Früher als sonst, heute. Oder ist es das halbe Licht? Oder beides? Das ist nicht mehr dieselbe, belanglose, ausgeblichene Frau. Das ist etwas anderes. Da sind plötzlich Augen. Da ist ein Gesicht. Da sieht mich etwas an. Es müssen die Schatten sein. Es ist das sanfte Feuer hinter meiner Stirn, das sie anleuchtet. Der erste Glanz der Trunkenheit.
Er hörte nicht auf das, was Joan Madou sprach. Er kannte es und wollte es nicht mehr kennen. Allein sein — der ewige Refrain des Lebens. Es war nicht schlimmer und nicht besser als manches andere. Man sprach zuviel davon. Man war immer allein und nie. Eine Geige war plötzlich da, irgendwo auf einem Zwielicht. Ein Garten auf den Hügeln von Budapest. Der schwere Geruch der Kastanien. Der Wind. Und wie junge Eulen, geduckt auf der Schulter hockend, die Träume, mit Augen, die heller wurden in der Dämmerung. Die Nacht, die nie Nacht wurde. Die Stunde, wo alle Frauen schön waren. Die großen, braunen Schmetterlingsflügel des Abends.
Er blickte auf. »Danke«, sagte Joan Madou.
»Warum?«
»Weil Sie mich sprechen ließen, ohne zuzuhören. Es war gut. Ich brauchte das.«
Ravic nickte. Er sah, daß ihr Glas wieder leer war. »Gut«, sagte er. »Ich werde Ihnen die Flasche hierlassen.«
Er stand auf. Ein Zimmer. Eine Frau. Nichts weiter. Ein blasses Gesicht, in dem nichts mehr leuchtete. »Wollen Sie gehen?« fragte Joan Madou. Sie sah sich um, als sei jemand im Zimmer versteckt.
»Hier ist die Adresse Morosows. Sein Name, damit Sie ihn nicht vergessen. Morgen abend um neun.« Ravic schrieb es auf einen Rezeptblock. Dann riß er das Blatt ab und legte es auf den Koffer.
Joan Madou war aufgestanden. Sie griff nach ihrem Mantel und ihrer Mütze. Ravic sah sie an. »Sie brauchen mich nicht herunterzubringen.«
»Das will ich auch nicht. Ich will nur nicht hierbleiben. Nicht jetzt. Ich will noch irgendwo herumgehen.«
»Dann müssen Sie später doch wieder zurückkommen. Noch einmal dasselbe.Warum bleiben Sie nicht hier? Jetzt ist es schon überstanden.«
»Es ist bald Morgen. Wenn ich zurückkomme, wird es Morgen sein. Dann ist es einfacher.«
Ravic ging zum Fenster. Es regnete immer noch. Naß und grau wehten die Strähnen im Wind vor den gelben Lichthöfen der Laternen.
»Kommen Sie«, sagte er. »Wir trinken noch ein Glas, und Sie legen sich schlafen. Das ist kein Wetter für Spaziergänge.«
Er griff nach der Flasche. Joan Madou war plötzlich dicht neben ihm. »Laß mich nicht hier«, sagte sie rasch und dringend, und er fühlte ihren Atem. »Laß mich nicht allein hier, nur heute nicht; ich weiß nicht, was es ist, aber nur heute nicht! Morgen werde ich Mut haben, aber heute kann ich es nicht; ich bin mürbe und weich und falle zusammen und habe keine Kraft mehr; Sie hätten mich nicht herausnehmen sollen, nur heute nicht — ich kann jetzt nicht allein sein.«
Ravic stellte die Flasche behutsam hin und machte ihre Hände von seinem Arm los. »Kind«, sagte er — »irgendwann müssen wir uns alle daran gewöhnen.« Er musterte die Chaiselongue. »Ich kann hier schlafen. Es hat keinen Zweck, noch anderswo hinzugehen. Ich brauche ein paar Stunden Schlaf. Muß morgen um neun operieren. Kann ebenso gut hier schlafen wie bei mir. Ist nicht meine erste Nachtwache. Ist das ausreichend?«
Sie nickte.
Sie stand noch immer dicht neben ihm.
»Ich muß um halb acht ’raus. Verdammt früh. Wird Sie aufwecken.«
»Das macht nichts. Ich werde aufstehen und Frühstück für Sie machen, alles...«
»Sie werden gar nichts tun«, sagte Ravic. »Ich werde frühstücken im nächsten Café wie ein vernünftiger Arbeiter; Kaffee mit Rum und Croissants. Alles andere kann ich in der Klinik machen. Wird nicht schlecht sein, Eugenie um ein Bad zu fragen. Gut, bleiben wir hier. Zwei verlorene Seelen im November. Sie nehmen das Bett. Wenn Sie wollen, kann ich solange zu dem alten Portier ’runtergehen, bis Sie fertig sind.«
»Nein«, sagte Joan Madou.
»Ich laufe nicht fort. Wir brauchen außerdem noch ein paar Sachen, Kissen, Decke und so was.«
»Ich kann klingeln.«
»Das kann ich auch.« Ravic suchte nach dem Knopf. »Besser, ein Mann macht das.«
Der Portier kam schnell. Er hatte eine zweite Kognakflasche in der Hand. »Sie überschätzen uns«, sagte Ravic. »Herzlichen Dank. Wir gehören zur Nachkriegsgeneration. Eine Decke, ein Kissen und etwas Leinen. Ich muß hier schlafen. Zu kalt und zu viel Regen draußen. Ich bin gerade zwei Tage aus dem Bett nach einer schweren Lungenentzündung. Können Sie das machen?«
»Selbstverständlich, mein Herr. Dachte mir schon so etwas.«
»Gut.« Ravic zündete sich eine Zigarette an.
»Ich werde auf den Korridor gehen. Schuhe ansehen vor den Türen. Ein alter Sport von mir. Ich laufe nicht weg«, sagte er, als er den Blick von Joan Madou sah. »Ich bin nicht Josef von Ägypten. Ich lasse meinen Mantel nicht im Stich.«
Der Portier kam mit den Sachen. Er stoppte, als er Ravic im Korridor stehen sah. Dann verklärte sich sein Gesicht. »Das findet man selten«, sagte er.
»Ich tue das auch selten. Nur an Geburtstagen und Weihnachten. Geben Sie mir die Sachen. Ich nehme sie mit hinein. Was ist denn das da?«
»Eine Wärmflasche. Wegen Ihrer Lungenentzündung.«
»Vortrefflich. Aber ich wärme meine Lungen mit Kognak.« Ravic zog ein paar Scheine aus der Tasche.
»Mein Herr, Sie haben sicher keine Pyjamas. Ich kann Ihnen ein Paar geben.«
»Danke, Bruder.« Ravic sah den Alten an. »Sie würden mir sicher zu klein sein.«
»Im Gegenteil. Sie werden Ihnen passen. Es sind ganz neue. Im Vertrauen gesagt, ein Amerikaner hat sie mir einmal geschenkt. Dem hatte sie eine Dame geschenkt. Ich trage so etwas nicht. Ich trage Nachthemden. Sie sind ganz neu, mein Herr.«
»Gut, bringen Sie sie herauf. Wir können sie ja mal ansehen.«
Ravic wartete im Korridor. Drei Paar Schuhe standen vor den Türen. Ein Paar Zugstiefeletten mit ausgeleierten Gummizügen. Aus dem Raum dahinter klang ein brausendes Schnarchen. Die anderen beiden waren ein Paar braune Männerhalbschuhe und ein Paar hochhackige Damenlackschuhe mit Knöpfen. Sie standen vor derselben Tür und wirkten sonderbar verlassen, obschon sie nebeneinander standen.
Der Portier brachte die Pyjamas. Sie waren Prachtstükke. Blaue Kunstseide mit goldenen Sternen darauf. Ravic betrachtete sie eine Weile sprachlos. Er verstand den Amerikaner. »Herrlich, was?« fragte der Portier stolz.
Die Pyjamas waren neu. Sie waren sogar noch in dem Karton des Magazin du Louvre, in dem sie gekauft waren. »Schade«, sagte Ravic. »Ich hätte gern die Dame gesehen, die sie ausgesucht hat.«
»Sie können sie haben für diese Nacht. Sie brauchen sie nicht zu kaufen, mein Herr.«
»Was kostet die Miete?«
»Nach Belieben.«
»Sind Sie kein Franzose?«
»Doch. Aus St. Nazaire.«
»Dann sind Sie verdorben worden durch den Umgang mit Amerikanern. Außerdem — für diese Pyjamas ist nichts zuviel.«
»Freut mich, daß Sie Ihnen gefallen. Gute Nacht, mein Herr. Ich werde sie dann morgen bei der Dame abholen.«
»Ich werde sie Ihnen morgen früh selbst übergeben. Wecken Sie mich um halb acht. Klopfen Sie nur leise an. Ich höre es schon. — Gute Nacht.«
»Sehen Sie sich das an«, sagte Ravic zu Joan Madou und zeigte die Pyjamas. »Ein Kostüm für einen Weihnachtsmann. Dieser Portier ist ein Zauberer. Ich werde die Sachen sogar anziehen. Man muß nicht nur den Mut, sondern auch die Unbefangenheit zur Lächerlichkeit haben.«
Er ordnete die Decken auf der Chaiselongue. Es war ihm gleichgültig, wo er schlief, in seinem Hotel oder hier. Er hatte auf dem Korridor ein erträgliches Badezimmer gefunden und von dem Portier eine neue Zahnbürste bekommen. Alles andere war ihm egal. Die Frau war irgend etwas wie ein Patient.
Er füllte ein Wasserglas mit Kognak und stellte es mit einem der kleinen Gläser, die der Portier gebracht hatte, neben das Bett. »Ich glaube, das ist genug für Sie«, sagte er dann. »Es ist einfacher so. Ich brauche dann nicht mehr aufzustehen und nachzufüllen. Die Flasche und das andere Glas nehme ich herüber zu mir.«
»Ich brauche das kleine Glas nicht. Ich kann aus dem anderen trinken.«
»Noch besser.« Ravic packte sich auf der Chaiselongue zurecht. Es gefiel ihm, daß die Frau sich nicht weiter darum kümmerte, ob er es bequem hatte. Sie hatte erreicht, was sie wollte — jetzt entwickelte sie gottlob keine überflüssigen Hausfraueneigenschaften.
Er goß ein Glas voll und stellte die Flasche auf den Boden. »Salute!«
»Salute! Und danke!«
»Das ist in Ordnung. Ich hatte ohnehin nicht viel Lust, durch den Regen zu gehen.«
»Regnet es noch?«
»Ja.«
Das leise Klopfen kam von draußen durch die Stille, als wolle etwas hinein, grau, trostlos und ohne Form, etwas, das trauriger war als Traurigkeit — eine ferne, anonyme Erinnerung, eine endlose Welle, die heranwehte und zurückhaben und begraben wollte, was sie früher einmal herangebracht und auf einer Insel vergessen hatte — ein bißchen Mensch und Licht und Denken.
»Gute Nacht zum Trinken.«
»Ja — und eine schlechte, allein zu sein.«
Ravic schwieg eine Weile. »Daran haben wir uns alle gewöhnen müssen«, sagte er dann. »Das, was uns früher einmal zusammenhielt, ist heute zerstört. Wir sind heute auseinandergefallen wie eine Kette aus Glasperlen, deren Band zerrissen ist. Nichts ist mehr fest.« Er goß sein Glas aufs neue voll. »Als Junge habe ich einmal nachts auf einer Wiese geschlafen. Es war Sommer, und der Himmel war sehr klar. Bevor ich einschlief, sah ich den Orion über den Wäldern am Horizont stehen. Dann wachte ich auf, mitten in der Nacht — und der Orion stand auf einmal hoch über mir. Ich habe das nie vergessen. Ich hatte gelernt, daß die Erde ein Stern ist und sich dreht; aber ich hatte es gelernt, wie man vieles lernt, was in Büchern steht, und nie darüber nachgedacht. Jetzt zum erstenmal empfand ich, daß es wirklich so war. Ich fühlte, wie sie lautlos durch den ungeheuren Raum flog.
Ich fühlte es so stark, daß ich fast glaubte, mich festhalten zu müssen, um nicht heruntergeschleudert zu werden. Es kam wohl, weil ich, aufgewacht aus tiefem Schlaf, einen Augenblick verlassen von Gedächtnis und Gewohnheit, in den riesig verschobenen Himmel sah. Die Erde war plötzlich nicht mehr fest für mich — und sie ist es seitdem nie wieder ganz geworden.«
Er trank sein Glas aus. »Das macht manches schwerer und vieles leichter.« Er sah zu Joan Madou hinüber. »Ich weiß nicht, wie weit Sie sind«, sagte er. »Wenn Sie müde sind, antworten Sie einfach nicht mehr.‹.
»Noch nicht. Bald. Es ist noch eine Stelle, die wach ist. Wach und kalt.«
Ravic stellte die Flasche neben sich auf den Boden. Aus der Wärme des Zimmers sickerte langsam eine braune Müdigkeit in ihn hinüber. Die Schatten kamen. Das Wehen der Flügel. Ein fremdes Zimmer, Nacht, und draußen — wie ferne Trommeln — das monotone Klopfen des Regens — eine Hütte mit etwas Licht am Rande des Chaos, ein kleines Feuer in der Wildnis ohne Sinn — ein Gesicht, gegen das man sprach.
»Haben Sie das auch einmal gespürt?« fragte er.
Sie schwieg eine Weile. »Ja. Nicht so. Anders. Wenn ich tagelang mit niemandem gesprochen hatte und nachts umherging, und überall waren Menschen, die irgendwohin gehörten, die irgendwohin gingen, irgendwo zu Hause waren. Nur ich nicht. Dann wurde langsam alles unwirklich, als wäre ich ertrunken und ginge durch eine fremde Stadt unter Wasser...«
Jemand kam draußen die Treppe hinauf. Ein Schlüssel klirrte, und eine Tür klappte. Gleich darauf rauschte die Wasserleitung. »Warum bleiben Sie in Paris, wenn Sie niemand hier kennen?« fragte Ravic. Er fühlte, daß er schläfrig wurde.
»Ich weiß nicht. Wohin soll ich sonst gehen?«
»Haben Sie nichts, wohin Sie zurückgehen können?«
»Nein. Man kann auch nirgendwohin zurückgehen.«
Der Wind jagte einen Regenschauer über das Fenster. »Weshalb sind Sie nach Paris gekommen?« fragte Ravic.
Joan Madou antwortete nicht. Er glaubte schon, sie sei eingeschlafen. »Raczinsky und ich kamen nach Paris, weil wir uns trennen wollten«, sagte sie dann.
Ravic hörte es, ohne überrascht zu sein. Es gab Stunden, wo einen nichts überraschte. Im Zimmer gegenüber begann der Mann, der kurz vorher gekommen war, zu kotzen. Man hörte sein Stöhnen gedämpft durch die Tür.
»Warum waren Sie dann so verzweifelt?« fragte Ravic.
»Weil er tot war! Tot! Plötzlich nicht mehr da! Nie zurückzuholen! Tot! Nie mehr etwas zu machen! Verstehen Sie das nicht?« Joan Madou hatte sich im Bett halb aufgerichtet und starrte Ravic an. Weil er fortgegangen ist, bevor du es tun konntest. Weil er dich allein gelassen hat, bevor du dafür bereit warst.
»Ich... ich hätte anders sein sollen zu ihm... ich war...«
»Vergessen Sie das. Reue ist das Nutzloseste in der Welt. Man kann nichts zurückholen. Man kann nichts gutmachen. Wir wären sonst alle Heilige. Das Leben hat nicht beabsichtigt, uns vollkommen zu machen. Wer vollkommen ist, gehört in ein Museum.«
Joan Madou antwortete nicht. Ravic sah, daß sie trank und sich wieder in die Kissen zurücklehnte. Da war noch etwas — aber er war zu müde, um noch darüber nachzudenken. Es war ihm auch gleichgültig. Er wollte schlafen. Morgen mußte er operieren. Dies alles ging ihn nichts mehr an. Er stellte das leere Glas auf den Boden neben die Flasche. Sonderbar, wo man manchmal so landet, dachte er.