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»Wann muß ich in der Klinik sein, Ravic?« fragte Kate Hegström.
»Wann Sie wollen. Morgen, übermorgen, irgendwann. Es kommt auf einen Tag nicht an.«
Sie stand vor ihm, schmal, knabenhaft , selbstsicher, hübsch und nicht mehr ganz jung.
Ravic hatte ihr vor zwei Jahren den Blinddarm herausgenommen. Es war seine erste Operation in Paris gewesen. Sie hatte ihm Glück gebracht. Er hatte seitdem gearbeitet und keine Schwierigkeiten mit der Polizei gehabt. Sie war für ihn eine Art Maskottchen.
»Diesmal habe ich Angst«, sagte sie. »Ich weiß nicht, warum. Aber ich habe Angst.«
»Das brauchen Sie nicht. Es ist eine Routinesache.«
Sie ging zum Fenster und sah hinaus. Draußen lag der Hof des Hotels Lancaster. Eine mächtige alte Kastanie reckte ihre alten Arme aufwärts zum nassen Himmel. »Dieser Regen«, sagte sie. »Ich bin in Wien weggefahren, und es regnete. Ich bin in Zürich aufgewacht, und es regnete. Und jetzt hier...« Sie schob die Vorhänge zurück. »Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Ich glaube, ich werde alt.«
»Das glaubt man immer, wenn man es nicht ist.«
»Ich sollte anders sein. Ich bin vor zwei Wochen geschieden worden. Ich sollte froh sein. Aber ich bin müde. Alles wiederholt sich, Ravic. Warum?«
»Nichts wiederholt sich. Wir wiederholen uns, das ist alles.«
Sie lächelte und setzte sich in ein Sofa, das neben dem künstlichen Kamin stand. »Es ist gut, daß ich zurück bin«, sagte sie. »Wien ist eine Kaserne geworden. Trostlos. Die Deutschen haben es zertrampelt. Und mit ihnen die Österreicher. Die Österreicher auch, Ravic. Ich dachte, es sei ein Widerspruch der Natur; ein österreichischer Nazi. Aber ich habe sie gesehen.«
»Das ist nicht überraschend. Macht ist die ansteckendste Krankheit, die es gibt.«
»Ja, und die am meisten deformierende. Deshalb bin ich geschieden worden. Der scharmante Nichtstuer, den ich vor zwei Jahren geheiratet hatte, wurde plötzlich ein brüllender Sturmführer, der den alten Professor Bernstein Straßen waschen ließ und dabeistand und lachte. Bernstein, der ihn ein Jahr vorher von einer Nierenentzündung geheilt hatte. Angeblich, weil das Honorar zu hoch gewesen war.« Kate Hegström verzog die Lippen. »Das Honorar, das ich bezahlt hatte, nicht er.«
»Seien Sie froh, daß Sie ihn los sind.«
»Er verlangte zweihundertfünfzigtausend Schilling für die Scheidung.«
»Billig«, sagte Ravic. »Alles, was man mit Geld abmachen kann, ist billig.«
»Er hat nichts bekommen.« Kate Hegström hob das schmale Gesicht, das fehlerfrei wie eine Gemme geschnitten war. »Ich habe ihm gesagt, was ich über ihn, seine Partei und seinen Führer denke — und daß ich das von nun an öffentlich tun würde. Er drohte mir mit Gestapo und Konzentrationslager. Ich habe ihn ausgelacht. Ich sei immer noch Amerikanerin und unter dem Schutz der Gesandtschaft. Mir würde nichts geschehen, aber ihm, weil er mit mir verheiratet sei.«
Sie lachte. »Daran hatte er nicht gedacht. Er machte von da an keine Schwierigkeiten mehr.«
Gesandtschaft, Schutz, Protektion, dachte Ravic. Das war wie von einem anderen Planeten. »Mich wundert, daß Bernstein noch praktizieren darf«, sagte er.
»Er darf nicht mehr. Er hat mich heimlich untersucht, als ich die erste Blutung hatte. Gottlob, daß ich kein Kind bekommen darf. Ein Kind von einem Nazi...«
Sie schüttelte sich.
Ravic stand auf. »Ich muß jetzt gehen. Veber wird Sie nachmittags noch einmal untersuchen. Nur der Form wegen.«
»Ich weiß. Trotzdem — ich habe Angst diesmal.«
»Aber Kate — es ist doch nicht das erstemal. Einfacher als der Blinddarm, den ich Ihnen vor zwei Jahren herausgenommen habe.« Ravic nahm sie leicht um die Schultern. »Sie waren meine erste Operation, als ich nach Paris kam. Das ist etwas wie eine erste Liebe. Ich werde schon aufpassen. Außerdem sind Sie mein Maskottchen. Sie haben mir Glück gebracht. Das sollen Sie auch weiter.«
»Ja«, sagte sie und sah ihn an.
»Gut. Adieu, Kate. Ich hole Sie abends um acht Uhr ab.«
»Adieu, Ravic. Ich gehe jetzt, mir ein Abendkleid bei Mainbocher kaufen. Ich muß diese Müdigkeit loswerden. Und das Gefühl, in einem Spinngewebe zu sitzen. Dieses Wien«, sagte sie mit einem bitteren Lächeln, »die Stadt der Träume...«
Ravic fuhr mit dem Aufzug herunter und ging an der Bar vorbei durch die Halle. Ein paar Amerikaner saßen herum. In der Mitte stand auf einem Tisch ein riesiger Strauß roter Gladiolen. Sie hatten in dem grauen, zerstreuten Licht die Farbe von altem Blut, und erst als er nahe herankam, sah er, daß sie ganz frisch waren. Es war nur das Licht von draußen, das sie so machte.
Im zweiten Stock des »International« war großer Betrieb. Eine Anzahl Zimmer stand offen, das Mädchen und der Valet rannten hin und her und die Proprietaire dirigierte alles vom Korridor her. Ravic kam die Treppe herauf. »Was ist los?« fragte er.
Die Proprietaire war eine kräftige Frau mit mächtigem Busen und einem zu kleinen Kopf mit kurzen, schwarzen Locken. »Die Spanier sind doch fort«, sagte sie.
»Das weiß ich. Aber wozu räumen Sie so spät die Zimmer noch auf?«
»Wir brauchen sie morgen früh.«
»Neue deutsche Emigranten?«
»Nein, spanische.«
»Spanische?« fragte Ravic, der einen Augenblick nicht verstand, was sie meinte. »Wieso, die sind ja gerade weg?«
Die Wirtin sah ihn mit ihren schwarzen, glänzenden Augen an und lächelte. Es war ein Lächeln aus einfachstem Wissen und einfachster Ironie. »Die anderen kommen zurück«, sagte sie.
»Welche anderen?«
»Die von der Gegenseite natürlich. Das ist doch immer so.« Sie rief dem aufräumenden Mädchen ein paar Worte zu. »Wir sind ein altes Hotel«, sagte sie dann mit einem gewissen Stolz. »Die Gäste kommen gern zu uns zurück. Sie warten schon auf ihre alten Zimmer.«
»Sie warten schon?« fragte Ravic erstaunt. »Wer wartet schon?«
»Die Herren von der Gegenseite. Die meisten waren doch schon einmal hier. Eine Anzahl ist natürlich inzwischen getötet worden. Aber die andern haben in Biarritz und St. Jean de Luz gewartet, bis Zimmer bei uns frei wurden.«
»Waren die denn schon einmal hier?«
»Aber, Herr Ravic!« Die Wirtin war überrascht, daß er das nicht sofort wußte. »In der Zeit doch, als Primo de Rivera Diktator in Spanien war. Sie mußten damals fliehen und lebten hier. Als Spanien dann republikanisch wurde, gingen sie zurück, und die Monarchisten und Faschisten kamen her. Jetzt gehen die letzten davon zurück, und die Republikaner kommen wieder. Die, die noch übrig sind.«
»Richtig. Daran habe ich nicht gedacht.«
Die Wirtin blickte in eines der Zimmer. Ein farbiger Druck des ehemaligen Königs Alfons hing über dem Bett. »Nimm das herunter, Jeanne«, rief sie.
Das Mädchen brachte das Bild.
»Hier. Stell es hierher.«
Die Wirtin lehnte das Bild rechts an die Wand und ging weiter. Im nächsten Zimmer hing ein Bild des Generals Franco. »Das da auch. Stelle es zu dem andern.«
»Weshalb haben diese Spanier ihre Bilder eigentlich nicht mitgenommen?« fragte Ravic.
»Emigranten nehmen selten Bilder mit, wenn sie zurückgehen«, erklärte die Wirtin. »Bilder sind ein Trost in der Fremde.Wenn man zurückgeht, braucht man sie nicht mehr. Die Rahmen sind auch zu unbequem beim Reisen, und das Glas bricht leicht. Bilder werden fast immer in Hotels gelassen.«
Sie stellte zwei andere Bilder des fetten Generalissimus, eines von Alfons und ein kleines von Queipo de Llano zu den übrigen im Korridor. »Die Heiligenbilder können wir drin lassen«, entschied sie, als sie eine grellfarbige Madonna entdeckte. »Heilige sind neutral.«
»Nicht immer«, sagte Ravic.
»In schwierigen Zeiten hat Gott immer eine Chance. Ich habe hier schon manchen Atheisten beten sehen.« Die Wirtin rückte mit einer energischen Bewegung ihren linken Busen zurecht. »Haben Sie nicht auch schon einmal gebetet, wenn Ihnen das Wasser am Halse stand?«
»Natürlich. Aber ich bin auch kein Atheist. Ich bin nur ein Schwergläubiger.«
Der Hausknecht kam die Treppe herauf.
Er schleppte einen Haufen Bilder über den Korridor heran.
»Wollen Sie umdekorieren?« fragte Ravic.
»Natürlich. Man muß eine Menge Takt haben im Hotelfach. Das gibt einem Hause erst den wirklichen guten Ruf. Besonders bei unserer Art von Kundschaft, die, ich kann wohl sagen, in diesen Dingen sehr delikat ist. Man kann nicht erwarten, daß jemand Freude an einem Zimmer hat, in dem sein Todfeind stolz in bunten Farben und oft sogar in einem Goldrahmen auf ihn heruntersieht. Habe ich recht?«
»Hundertprozentig.«
Die Wirtin wandte sich an den Hausknecht. »Leg die Bilder hierher, Adolphe. Nein, stell sie besser an die Wand ins Licht, nebeneinander, damit man sie sehen kann.«
Der Mann grunzte und bückte sich, um die Ausstellung vorzubereiten. »Was hängen Sie jetzt da hinein?« fragte Ravic interessiert. »Hirsche und Landschaften und Vesuvausbrüche und so was.«
»Nur, wenn’s nicht reicht. Sonst gebe ich die alten Bilder zurück.«
»Welche alten?«
»Die von früher. Die die Herren hiergelassen haben, als sie die Regierung übernahmen. Hier sind sie.«
Sie zeigte auf die linke Wand des Korridors. Der Hausknecht hatte dort inzwischen die neuen Bilder aufgestellt, in einer Reihe, gegenüber denen, die aus den Zimmern geholt worden waren. Es waren zwei Marx, drei Lenin, von denen eines zur Hälfte mit Papier überklebt war, ein Trotzki und ein paar kleinere gerahmte schwarze Drucke von Negrin und andern republikanischen Führern Spaniens. Sie waren unscheinbar, und keines war so leuchtend in Farben mit Orden und Emblemen wie die pompöse Reihe der Alfonsos, Primos und Francos gegenüber auf der rechten Seite. Die beiden Reihen Weltanschauung starrten sich schweigend in dem schwach erleuchteten Korridor an, und dazwischen stand die französische Wirtin mit Takt, Erfahrung und der ironischen Weisheit ihrer Rasse.
»Ich habe die Sachen damals aufbewahrt«, sagte sie, »als die Herren auszogen. Regierungen dauern heutzutage nicht lange. Sie sehen, daß ich recht hatte — jetzt kommen sie uns zugute. Im Hotelfach muß man einen weiten Blick haben.«
Sie ordnete an, wo die Bilder aufgehängt werden sollten. Den Trotzki schickte sie zurück; er war ihr zu unsicher. Ravic inspizierte den Druck von Lenin, dessen Hälfte überklebt war. Er kratzte etwas von dem Papier in der Höhe von Lenins Kopf ab — hinter dem aufgeklebten Stück kam ein anderer Kopf Trotzkis hervor, der zu Lenin herüberlächelte. Ein Anhänger Stalins hatte ihn wahrscheinlich überklebt. »Hier«, sagte Ravic. »Noch ein versteckter Trotzki. Aus der guten alten Zeit der Freundschaft und Brüderschaft .«
Die Wirtin nahm das Bild. »Das können wir wegwerfen. Das ist ganz wertlos. Eine Hälfte davon beleidigt dauernd die andere.« Sie gab es dem Hausknecht. »Hebe den Rahmen auf, Adolphe. Er ist gute Eiche.«
»Was machen Sie mit den übrigen?« fragte Ravic. »Den Alfonsos und den Francos?«
»Die kommen in den Keller. Man weiß nie, ob man sie nicht noch einmal gebrauchen kann.«
»Ihr Keller muß fabelhaft sein. Ein temporäres Mausoleum. Haben Sie da noch mehr?«
»Oh, natürlich! Wir haben russische — ein paar einfachere Lenin — in Papprahmen zur Aushilfe und dann die vom letzten Zaren. Von Russen, die hier gestorben sind. Ein wunderbares Original in Öl und schwerem Goldrahmen von einem Herrn, der Selbstmord begangen hat. Dann sind da die Italiener. Zwei Garibaldis, drei Könige und ein etwas beschädigter Mussolini auf Zeitungspapier, aus der Zeit, als er noch Sozialist war in Zürich. Das Ding hat allerdings nur Seltenheitswert. Keiner will es hängen haben.«
»Haben Sie auch Deutsche?«
»Noch ein paar Marx; das sind die häufigsten; einen Lassalle; einen Bebel — dann ein Gruppenbild von Ebert, Scheidemann, Noske und vielen anderen. Noske ist darauf mit Tinte zugeschmiert. Die Herren sagten mir, daß er ein Nazi geworden sei.«
»Das stimmt. Sie können es zu dem sozialistischen Mussolini hängen. Von der andern Seite in Deutschland haben Sie keine, wie?«
»O doch! Wir haben einen Hindenburg, einen Kaiser Wilheim, einen Bismarck — und«, die Wirtin lächelte, »sogar einen Hitler im Regenmantel. Wir sind ziemlich komplett.«
»Was?« fragte Ravic. »Hitler? Woher haben Sie den denn?«
»Von einem Homosexuellen. Er kam 1934, als Röhm und die andern drüben getötet wurden. Hatte Angst und betete viel. Später wurde er von einem reichen Argentinier mitgenommen. Er hieß Putzi mit Vornamen. Wollen Sie das Bild sehen? Es steht im Keller.«
»Jetzt nicht. Nicht im Keller. Ich sehe es lieber, wenn alle Zimmer im Hotel mit derselben Sorte vollhängen.«
Die Wirtin sah ihn einen Augenblick scharf an.
»Ach so«, sagte sie dann. »Sie meinen, wenn die als Emigranten kommen?«
Boris stand in seiner goldbetreßten Uniform vor der Scheherazade und öffnete die Tür des Taxis. Ravic stieg aus. Morosow schmunzelte. »Ich dachte, du wolltest nicht kommen?« »Das wollte ich auch nicht.«
»Ich habe ihn gezwungen, Boris.« Kate Hegström umarmte Morosow. »Gottlob, daß ich wieder zurück bin bei euch!«
»Sie haben eine russische Seele, Katja. Der Himmel weiß, warum Sie in Boston geboren werden mußten. Komm, Ravic.« Morosow stieß die Tür zum Eingang auf. »Der Mensch ist groß in seinen Vorsätzen, aber schwach in der Ausführung. Darin liegt unser Elend und unser Scharm.«
Die Scheherazade war wie ein kaukasisches Zelt eingerichtet. Die Kellner waren Russen in roten Tscherkessenuniformen. Das Orchester bestand aus russischen und rumänischen Zigeunern. Man saß an kleinen Tischen, die vor einer Bankette standen, die an der Wand entlanglief. Der Raum war dunkel und ziemlich besetzt.
»Was wollen Sie trinken, Kate?« fragte Ravic.
»Wodka. Und die Zigeuner sollen spielen. Ich habe genug vom ›Wiener Wald‹ im Parademarsch.« Sie schlüpfte aus ihren Schuhen und zog die Füße auf die Bankette. »Ich bin jetzt nicht mehr müde, Ravic«, sagte sie. »Ein paar Stunden Paris haben mich schon verändert. Aber mir ist immer noch, als wäre ich aus einem Konzentrationslager entkommen. Können Sie sich das vorstellen?«
Ravic sah sie an. »So ungefähr«, sagte er.
Der Tscherkesse brachte eine kleine Flasche Wodka und die Gläser. Ravic füllte sie und gab eines an Kate Hegström. Sie trank es rasch und durstig und stellte es zurück. Dann sah sie sich um. »Eine Mottenbude«, sagte sie und lächelte. »Aber nachts wird sie eine Höhle der Zuflucht und der Träume.«
Sie lehnte sich zurück. Das weiche Licht unter der Tischplatte erleuchtete ihr Gesicht. »Warum, Ravic? Nachts wird alles farbiger. Nichts erscheint einem mehr schwer, man glaubt, alles zu können, und was man nicht erreichen kann, füllt man mit Träumen aus. Warum?«
Er lächelte. »Wir haben unsere Träume, weil wir ohne sie die Wahrheit nicht ertragen könnten.«
Das Orchester begann zu stimmen. Ein paar Quinten und ein paar Geigenläufe flatterten auf. »Sie sehen nicht so aus, als ob Sie sich mit Träumen betrügen würden«, sagte Kate.
»Man kann sich auch mit der Wahrheit betrügen. Das ist ein noch gefährlicherer Traum.«
Das Orchester fing an zu spielen. Anfangs war es nur das Cymbal. Die weichen umwickelten Hämmer pflückten leise, fast unhörbar, eine Melodie aus der Dämmerung, warfen sie hoch in ein sanftes Glissando und gaben sie dann zögernd weiter an die Violinen.
Der Zigeuner kam langsam über die Tanzfläche heran an den Tisch. Er stand da, lächelnd, die Geige an der Schulter, mit zudringlichen Augen und gierig abwesendem Gesicht. Ohne seine Geige wäre er ein Viehhändler gewesen — mit ihr war er der Bote der Steppe, der weiten Abende, der Horizonte und all dessen, was nie Wirklichkeit war.
Kate Hegström fühlte die Melodie auf ihrer Haut wie Quellwasser im April. Sie war plötzlich voller Echos, aber niemand war da, der nach ihr rief. Verwehte Stimmen murmelten, vage Erinnerungsfetzen flatterten, manchmal blinkte es wie Brokat, aber es verwirbelte, und niemand war da, der rief. Niemand rief.
Der Zigeuner verbeugte sich. Ravic schob ihm unter dem Tisch einen Schein in die Hand. Kate Hegström rührte sich in ihrer Ecke. »Waren Sie einmal glücklich, Ravic?«
»Oft .«
»Das meine ich nicht. Ich meine richtig glücklich. Atemlos, besinnungslos, mit allem, was Sie haben.«
Ravic sah in das bewegte, schmale Gesicht vor ihm, das nur eine Deutung für Glück kannte, die schwankendste von allen: Liebe, und keine von den anderen. »Oft , Kate«, sagte er und meinte etwas ganz anderes und wußte, auch das war es nicht.
»Sie wollen mich nicht verstehen. Oder nicht darüber sprechen. Wer singt da jetzt mit dem Orchester?«
»Ich weiß es nicht. Ich war lange nicht hier.«
»Man kann die Frau von hier nicht sehen. Sie ist nicht mit den Zigeunern. Sie muß irgendwo an einem Tisch sitzen.« »Dann ist es wahrscheinlich ein Gast. Das passiert hier oft .«
»Eine sonderbare Stimme«, sagte Kate Hegström. »Traurig und rebellisch in einem.«
»Das sind die Lieder.«
»Oder ich bin es. Verstehen Sie, was sie singt?«
»Ja wass loubill« — »ich habe dich geliebt. Ein Lied von Puschkin.«
»Können Sie Russisch?«
»Nur so viel, wie Morosow mir beigebracht hat. Meistens Flüche. Russisch ist eine hervorragende Sprache für Flüche.«
»Sie sprechen nicht gern über sich, wie?«
»Ich denke nicht einmal gern über mich nach.«
Sie saß eine Weile. »Manchmal glaube ich, das alte Leben ist vorbei«, sagte sie dann. »Die Sorglosigkeit, die Erwartung — all das von früher.«
Ravic lächelte. »Es ist nie vorbei, Kate. Leben ist eine viel zu große Sache, als daß es vorbei sein könnte, bevor wir aufhören zu atmen.«
Sie hörte nicht auf das, was er sagte. »Es ist eine Angst oft«, sagte sie. »Eine plötzliche, unerklärliche Angst. So, als ob, wenn wir hier herauskommen, die Welt draußen auf einmal zusammengebrochen sein könnte. Kennen Sie das auch?«
»Ja, Kate. Jeder kennt das. Es ist eine europäische Krankheit. Seit zwanzig Jahren.«
Sie schwieg. »Das ist aber nicht mehr russisch«, sagte sie dann und horchte zu der Musik hinüber.
»Nein. Das ist italienisch. Santa Lucia Luntana.«
Der Scheinwerfer wanderte vom Geiger zu einem Tisch neben dem Orchester hinüber. Ravic sah die Frau jetzt, die sang. Es war Joan Madou. Sie saß allein an dem Tisch, einen Arm aufgestützt, und blickte vor sich hin, als wäre sie in Gedanken und außer ihr niemand da. Ihr Gesicht war sehr bleich in dem weißen Licht. Es hatte nichts mehr von dem flachen, verwischten Ausdruck, den er kannte. Es war plötzlich von einer aufregenden, verlorenen Schönheit, und er erinnerte sich, es einmal flüchtig so gesehen zu haben — nachts in ihrem Zimmer —, aber damals hatte er geglaubt, es sei der sanfte Betrug der Trunkenheit gewesen, und es war gleich darauf erloschen und verschwunden. Jetzt war es ganz da, und es war noch mehr da.
»Was ist los, Ravic?« fragte Kate Hegström.
Er wandte sich um. »Nichts. Ich kenne nur das Lied. Ein neapolitanischer Schmachtfetzen.«
»Erinnerungen.«
»Nein. Ich habe keine Erinnerungen.«
Er sagte es heftiger, als er wollte. Kate Hegström sah ihn an. »Manchmal wollte ich wirklich, ich wüßte, was mit Ihnen los ist, Ravic.«
Er machte eine abwehrende Bewegung. »Nicht mehr als mit jedem anderen. Die Welt ist heute voll von Abenteurern wider Willen. In jedem Refugié-Hotel sitzen sie. Und jeder hat eine Geschichte, die für Alexander Dumas und Victor Hugo eine Sensation gewesen wäre; jetzt gähnt man schon, bevor er anfängt, sie zu erzählen. Hier ist ein neuer Wodka für Sie, Kate. Das große Abenteuer heute ist ein klares, ruhiges Leben.«
Das Orchester begann einen Blues zu spielen. Es spielte Tanzmusik ziemlich schlecht. Ein paar Gäste ringen an zu tanzen. Joan Madou stand auf und ging dem Ausgang zu. Sie ging, als wäre das Lokal leer. Ravic fiel plötzlich ein, was Morosow über sie gesagt hatte. Sie kam ziemlich nahe an seinem Tisch vorbei. Es schien ihm, als hätte sie ihn gesehen; aber ihr Blick glitt gleich darauf gleichgültig über ihn hinweg, und sie verließ den Raum.
»Kennen Sie die Frau?« fragte Kate Hegström, die ihn beobachtet hatte.
»Nein.«