37349.fb2 Arc de Triomphe - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 8

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»Sehen Sie das, Veber?« fragte Ravic. »Hier — und hier — und hier...«

Veber beugte sich über die aufgeklammerte Wunde. »Ja...«

»Die kleinen Höcker hier — und da, das ist keine Geschwulst und keine Verwachsung...«

»Nein...«

Ravic richtete sich auf. »Krebs«, sagte er. »Klarer, einwandfreier Krebs! Das ist die verfluchteste Operation, die ich seit langem gemacht habe: Das Speculum zeigt nichts, die Pelvisuntersuchung nur eine leichte Weichheit an einer Seite, ein bißchen Schwellung, Möglichkeit einer Zyste oder eines Myoms, nichts Wichtiges, aber wir können nicht von unten arbeiten, müssen schneiden, und plötzlich finden wir Krebs.«

Veber sah ihn an. »Was wollen Sie machen?«

»Wir können einen Gefrierschnitt machen. Mikroskopischen Befund feststellen. Ist Boisson noch im Laboratorium?«

»Bestimmt.« Veber gab der Infirmiere den Auftrag, das Laboratorium anzurufen. Sie verschwand eilig, auf geräuschlosen Gummisohlen.

»Wir müssen weiterschneiden. Den Hysterektomieschnitt machen«, sagte Ravic. »Keinen Sinn, was anderes zu tun. Das verdammte ist nur, daß sie es nicht weiß. Wie ist der Puls?« fragte er die Narkoseschwester.

»Regelmäßig. Neunzig.«

»Blutdruck?«

»Hundertzwanzig.«

»Gut.« Ravic sah auf den Körper Kate Hegströms, der, den Kopf tief, in der Trendelenburg-Position auf dem Operationstisch lag. »Sie müßte es vorher wissen. Sie müßte einverstanden sein. Wir können nicht so einfach in ihr herumschneiden. — Oder können wir?«

»Nach dem Gesetz nicht. Sonst... wir haben ja schon angefangen.«

»Das mußten wir. Die Ausschabung war nicht von unten zu machen. Dies hier ist eine andere Operation. Eine Gebärmutter herausnehmen, ist etwas anderes als eine Auskratzung.«

»Ich glaube, sie vertraut Ihnen, Ravic.«

»Ich weiß es nicht. Vielleicht. Aber ob sie einverstanden wäre ...?« Er schob mit dem Ellbogen die Gummischürze über dem weißen Kittel zurecht. »Immerhin... ich kann zuerst einmal versuchen, weiterzufahren. Wir können dann immer noch entscheiden, ob wir die Hysterektomie machen müssen. Messer, Eugenie.«

Er machte den Schnitt bis zum Nabel und klammerte die kleineren Blutgefäße ab. Dann stoppte er die größeren mit Doppelknoten, nahm ein anderes Messer und durchschnitt die gelbliche Fascia. Die Muskeln darunter separierte er mit dem Messerrücken, hob dann das Peritoneum an, öffnete es und klammerte es auf.

»Den Spreizapparat!«

Die Hilfsschwester hatte ihn schon bereit. Sie warf die Kette mit dem Gewicht zwischen die Beine Kate Hegströms und hakte die Blasenplatte an. »Tücher.«

»Tücher!«

Er schob die feuchten, warmen Tücher ein, legte die Bauchhöhle frei und setzte behutsam die Greifzange an. Dann sah er auf. »Sehen Sie hier, Veber... und hier... das breite Ligament. Die dicke, harte Masse. Unmöglich, eine Kocherzange anzulegen. Es ist schon zu weit.«

Veber starrte auf die Stelle, die Ravic ihm wies. »Sehen Sie das hier«, sagte Ravic. »Wir können die Arterien nicht mehr abklammern. Brüchig. Da wuchert es auch schon. Hoffnungslos...«

Er löste vorsichtig ein schmales Stück los. »Ist Boisson im Laboratorium?«

»Ja«, sagte die Infirmiere. »Er wartet schon.«

»Gut. Schicken Sie es hinüber. Wir können auf den Befund warten. Wird nicht länger als zehn Minuten dauern.«

»Sagen Sie ihm, er soll telefonieren«, sagte Veber. »Sofort. Wir warten mit der Operation.«

Ravic richtete sich auf.

»Wie ist der Puls?«

»Fünfundneunzig.«

»Blutdruck?«

»Hundertfünfzehn.«

»Gut. Ich glaube, Veber, wir brauchen jetzt nicht mehr nachzudenken, ob wir ohne Zustimmung operieren sollen oder nicht. Hier ist nichts mehr zu tun.«

Veber nickte.

»Zunähen«, sagte Ravic. »Das Kind wegnehmen, das ist alles. Zunähen und nichts sagen.«

Er stand einen Moment und sah auf den offenen Körper unter den weißen Tüchern. Das grelle Licht machte die Tücher noch weißer, wie frischer Schnee, unter dem der rote Krater der klaffenden Wunde gähnte. Kate Hegström, vierunddreißig Jahre alt, kapriziös, schmal, braun, trainiert, voll von Willen zum Leben — zum Tode verurteilt durch den neblig unsichtbaren Griff, der ihre Zellen zerstört hatte.

Er beugte sich wieder über den Körper. »Wir müssen ja noch...«

Das Kind. In diesem zerfallenen Körper wuchs ja noch blind ein tappendes Leben heran.Verurteilt mit ihm. Noch fressend, saugend, gierig, nichts als Trieb zum Wachsen, irgend etwas, das einmal spielen wollte in Gärten, das irgend etwas werden wollte, Ingenieur, Priester, Soldat, Mörder, Mensch, etwas, das leben, leiden, glücklich sein wollte und zerbrechen... vorsichtig ging das Instrument die unsichtbare Wand entlang — fand den Widerstand, brach ihn behutsam, brachte ihn heraus — vorbei. Vorbei mit all dem unbewußten Kreisen, vorbei mit dem ungelebten Atem, Jubel, Klage, Wachsen, Werden. Nichts mehr als etwas totes, bleiches Fleisch und etwas gerinnendes Blut.

»Schon Nachricht von Boisson?«

»Noch nicht. Muß bald kommen.«

»Wir können noch ein paar Minuten warten.«

Ravic trat zurück. »Puls?«

Er sah hinter dem Bügel Kate Hegströms Augen. Sie blickte ihn an — nicht starr, sondern als ob sie ihn sähe und alles wüßte. Einen Augenblick glaubte er, sie sei erwacht. Er machte einen Schritt und stoppte dann. Unmöglich! Es war ein Zufall; das Licht. »Wie ist der Puls?«

»Hundert. Blutdruck hundertzwölf. Fällt.«

»Es wird Zeit«, sagte Ravic. »Boisson könnte jetzt fertig sein.«

Das Telefon klingelte gedämpft von unten.Veber blickte zur Tür. Ravic sah nicht hin. Er wartete. Er hörte die Tür. Die Schwester kam herein. »Ja«, sagte Veber.

»Krebs.«

Ravic nickte und begann weiterzuarbeiten. Er löste die Zangen, die Klammern. Er hob den Retraktor heraus; die Handtücher. Neben ihm zählte Eugenie die Instrumente.

Er begann zu nähen. Fein, methodisch, genau, völlig konzentriert und ohne jeden Gedanken. Das Grab schloß sich, die Häute legten sich aneinander, bis zur letzten, äußeren; er klammerte sie ab und richtete sich auf. »Fertig.«

Eugenie kurbelte mit dem Fuß den Tisch wieder horizontal und deckte Kate Hegström zu. Scheherazade, dachte Ravic, vorgestern, ein Kleid von Mainbocher, waren Sie einmal glücklich, oft, ich habe Angst, eine Routinesache; die Zigeuner spielen. — Er sah auf die Uhr über der Tür. Zwölf. Mittag. Draußen öffneten sich jetzt die Büros und Fabriken, und gesunde Leute strömten heraus. Die beiden Schwestern schoben den flachen Wagen aus dem Operationssaal heraus. Ravic riß die Gummihandschuhe von den Händen, ging in den Waschraum und begann sich zu waschen.

»Ihre Zigarette«, sagte Veber, der sich neben ihm an dem zweiten Becken wusch. »Sie verbrennen sich die Lippen.«

»Ja. Danke. Wer wird es ihr nur sagen, Veber?«

»Sie«, erklärte Veber ohne Zögern.

»Wir müssen ihr erklären, weshalb wir geschnitten haben. Sie hatte erwartet, wir würden es von innen machen. Wir können ihr nicht sagen, was es wirklich war.«

»Es wird Ihnen schon etwas einfallen«, sagte Veber zuversichtlich.

»Meinen Sie?«

»Natürlich. Sie haben ja bis heute abend Zeit.«

»Und Sie?«

»Mir würde sie nichts glauben. Sie weiß, daß Sie sie operiert haben, und wird es von Ihnen wissen wollen. Sie würde nur mißtrauisch werden, wenn ich käme.«

»Stimmt.«

»Ich verstehe nicht, wie es sich in so kurzer Zeit entwickeln konnte.«

»Es kann. Ich wollte, ich wüßte, was ich sagen soll.«

»Ihnen wird schon etwas einfallen, Ravic. Irgendeine Zyste oder ein Myom.«

»Ja«, sagte Ravic. »Irgendeine Zyste oder ein Myom.«

Nachts ging er noch einmal zur Klinik. Kate Hegström schlief. Sie war abends aufgewacht, hatte erbrochen, ungefähr eine Stunde unruhig gelegen und war dann wieder eingeschlafen.

»Hat sie irgend etwas gefragt?«

»Nein«, sagte die rotbackige Schwester. »Sie war noch benommen und hat nichts gefragt.«

»Ich nehme an, daß sie durchschlafen wird bis morgen. Wenn sie aufwacht und fragt, sagen Sie ihr, alles sei gut abgelaufen. Sie solle weiterschlafen. Geben Sie ihr, wenn es nötig wird, ein Mittel. Wenn sie unruhig wird, rufen Sie Doktor Veber oder mich an. Ich hinterlasse im Hotel, wo ich bin.«

Er stand auf der Straße wie jemand, der noch einmal entkommen war. Ein paar Stunden Frist, ehe er in ein vertrauendes Gesicht hineinlügen mußte. Die Nacht erschien ihm plötzlich warm und schimmernd. Der graue Aussatz des Lebens wurde wieder einmal barmherzig überdeckt von ein paar geschenkten Stunden, die wie Tauben emporflogen. Auch sie waren Lügen — es wurde einem nichts geschenkt; sie waren nur ein Aufschub, aber was war es nicht? War nicht alles Aufschub, barmherziger Aufschub, eine bunte Fahne, die das ferne, schwarze, unerbittlich näher kommende Tor verdeckte?

Er trat in ein Bistro und setzte sich an einen Marmortisch am Fenster. Der Raum war rauchig und voll Lärm. Der Kellner kam. »Einen Dubonnet und ein Paket Colonial.«

Er öffnete das Paket und zündete sich eine der schwarzen Zigaretten an. Neben ihm debattierten ein paar Franzosen über die korrupte Regierung und den Pakt von München. Ravic hörte nur halb hin. Jeder wußte, daß die Welt apathisch in einen neuen Krieg hineintrieb. Niemand hatte etwas dagegen — Aufschub, noch ein Jahr Aufschub — das war alles, worum man sich aufraffte, zu kämpfen. Aufschub auch hier — immer wieder.

Er trank das Glas Dubonnet. Der süßlich dumpfe Geruch des Aperitifs füllte den Mund mit schalem Widerwillen. Wozu hatte er ihn nur bestellt? Er winkte dem Kellner. »Einen fi ne.«

Er blickte durch die Scheiben hinaus und schüttelte die Gedanken ab. Wenn man nichts tun konnte, sollte man sich nicht verrückt machen. Er erinnerte sich, wann er diese Lehre bekommen hatte. Eine der großen Lehren seines Lebens. —

Es war 1916 gewesen, im August, in der Nähe von Ypern. Die Kompanie war einen Tag vorher von der Front zurückgekommen. Es war ein ruhiger Abschnitt gewesen, in dem sie das erstemal, seit man sie ins Feld geschickt hatte, eingesetzt worden war. Nichts war passiert. Jetzt lagen sie in der warmen Augustsonne um ein kleines Feuer herum und brieten Kartoffeln, die sie in den Feldern gefunden hatten. Eine Minute später war nichts mehr davon da. Ein plötzlicher Artillerieüberfall — eine Granate, die mitten ins Feuer geschlagen hatte —; als er wieder zu sich kam, heil, unverletzt, sah er zwei seiner Kameraden tot — und etwas weiter seinen Freund Paul Meßmann, den er kannte, seit sie beide laufen konnten, mit dem er gespielt hatte, die Schule besuchte, von dem er unzertrennlich gewesen war — er lag da, den Magen und den Bauch aufgerissen, die Eingeweide hervorquellend...

Sie schleppten ihn auf einer Zeltbahn zum Feldlazarett, den nächsten Weg, durch ein Getreidefeld einen flachen Abhang hinauf. Sie schleppten ihn zu viert, jeder an einer Ecke, und er lag in der braunen Zeltbahn, die Hände in die weißen, fetten, blutigen Eingeweide gepreßt, den Mund offen, die Augen verständnislos starr.

Er starb zwei Stunden später. Eine davon schrie er.

Ravic erinnerte sich, wie sie zurückgekommen waren. Er hatte stumpf und verstört in der Baracke gesessen. Es war das erstemal, daß er so etwas gesehen hatte. Katczinsky hatte ihn da gefunden, der Gruppenführer, Schuhmacher im Privatleben. »Komm mit«, hatte er gesagt. »In der Bayernkantine gibt es heute Bier und Schnaps. Wurst auch.« Er hatte ihn angestarrt. Hatte solche Roheit nicht begriffen. Katczinsky hatte ihn eine Weile beobachtet, hatte dann gesagt: »Du kommst mit. Und wenn ich dich hinprügeln sollte. Du wirst heute fressen und saufen und in einen Puff gehen.« Er hatte nicht geantwortet. Katczinsky hatte sich neben ihn gesetzt. »Ich weiß, was los ist. Ich weiß auch, was du jetzt über mich denkst. Aber ich bin zwei Jahre hier und du zwei Wochen. Hör zu! Können wir noch etwas für Meßmann tun? — Nein. — Glaubst du, daß wir alles riskieren würden, wenn eine Chance da wäre, ihn zu retten?« — Er hatte aufgeblickt. Ja, das wußte er. Er wußte das von Katczinsky. »Gut. Er ist tot. Wir können nichts mehr machen. Aber in zwei Tagen müssen wir wieder ’raus und nach vorn. Diesmal wird es nicht so ruhig da sein. Wenn du jetzt hier hockst und an Meßmann denkst, frißt du es in dich ’rein. Es macht deine Nerven kaputt, wirst unsicher. Gerade genug vielleicht, daß du beim nächsten Feuerüberfall draußen nicht schnell genug bist. Halbe Sekunde zu spät. Dann schleppen wir dich wie Meßmann zurück. Wem nützt das? Meßmann? Nein. Jemand anderem? Nein. Dich haut es um, das ist alles.Verstehst du nun?« — »Ja, aber ich kann nicht.« — »Halt’s Maul, du kannst! Andere haben es auch gekonnt. Du bist nicht der erste.«

Es war besser geworden nach dieser Nacht. Er war mitgegangen, er hatte seine erste Lektion gelernt. Hilf, wenn du kannst — tu alles dann —; aber wenn du nichts mehr tun kannst, vergiß! Dreh dich um! Halt dich fest! Mitleid ist etwas für ruhige Zeiten. Nicht, wenn es ums Leben geht.

Begrabe die Toten und friß das Dasein! Du wirst es noch brauchen müssen. Trauer ist eines, Tatsachen sind ein anderes. Man trauert nicht weniger, wenn man trotzdem die Tatsachen sieht und anerkennt. Nur so überlebt man.

Ravic trank den Kognak aus. Die Franzosen am Nebentisch schwatzten immer noch über ihre Regierung. Über das Versagen Frankreichs. Über England. Über Italien. Über Chamberlain. —

Worte, Worte. Die einzigen, die handelten, waren die anderen. Sie waren nicht stärker, nur entschlossener. Sie waren nicht mutiger; sie wußten nur, daß die anderen nicht kämpfen würden. Aufschub, aber was tat man damit? Rüstete man, holte man nach, raffte man sich auf? Man sah zu, wie die andern weiterrüsteten — und wartete, hoffte untätig auf neuen Aufschub. Die Geschichte der Walroßherde. Hunderte am Strand; zwischen ihnen der Jäger, der eines nach dem andern mit der Keule erschlug. Zusammen konnten sie ihn leicht erdrücken — aber sie lagen da, sahen ihn kommen, morden und rührten sich nicht; er erschlug ja nur gerade den Nachbarn — einen Nachbarn nach dem andern. Die Geschichte der europäischen Walrosse. Das Abendrot der Zivilisation. Müde, gestaltlose Götterdämmerung. Die leeren Banner der Menschenrechte. Der Ausverkauf eines Kontinents. Anbrandende Sintflut. Krämergeschäftigkeit um die letzten Preise. Der alte Jammertanz auf dem Vulkan. Völker, wieder einmal langsam auf die Schlachtbank getrieben. Die Flöhe würden sich schon retten, wenn das Schaf geopfert wurde. Wie immer.

Ravic drückte seine Zigarette aus. Er blickte sich um. Was sollte das alles? War der Abend nicht wie eine Taube gewesen vorhin, wie eine weiche, graue Taube? Begrabe die Toten und friß das Leben. Die Zeit ist kurz. Überstehen war alles. Irgendwann würde man gebraucht werden. Man sollte sich dafür heil und bereit halten. Er winkte dem Kellner und zahlte.

Die Scheherazade war dunkel, als er eintrat. Die Zigeuner spielten, und nur das Licht des Scheinwerfers lag voll auf dem Tisch neben dem Orchester, an dem Joan Madou saß.

Ravic blieb am Eingang stehen. Einer der Kellner kam heran und rückte ihm einen Tisch zurecht. Aber Ravic blieb stehen und sah zu Joan Madou hinüber.

»Wodka?« fragte der Kellner.

»Ja. Eine Karaffe.«

Ravic setzte sich hin. Er goß sich ein Glas Wodka ein und trank es rasch. Er wollte loswerden, was er draußen gedacht hatte. Die Fratze der Vergangenheit und die Fratze des Todes — einen von Granaten zerrissenen Bauch und einen von Krebs zerfressenen. Er sah, daß er an demselben Tisch saß, an dem er vor zwei Tagen mit Kate Hegström gesessen hatte. Nebenan wurde ein anderer Tisch frei. Er rückte nicht hinüber. Es war gleichgültig, ob er an diesem Tisch saß oder am nächsten — es half Kate Hegström nicht. Was hatte Veber einmal gesagt? Weshalb regen Sie sich auf, wenn eine Operation hoffnungslos ist? Man tut, was man kann, und geht nach Hause. Wo bliebe man sonst? Ja, wo bliebe man sonst? Er hörte die Stimme Joan Madous vom Orchester her. Kate Hegström hatte recht gehabt — es war eine erregende Stimme. Er griff nach der Karaffe mit dem klaren Schnaps. Einer dieser Augenblicke, wo die Farben zerfielen und das Leben grau wurde unter machtlosen Händen. Die mystische Ebbe. Die tonlose Zäsur zwischen den Atemzügen. Der Biß der Zeit, die langsam das Herz zernagte. Santa Lucia Luntana, sang die Stimme neben dem Orchester. Es kam herüber wie ein Meer — von einem vergessenen anderen Ufer, an dem etwas blühte.

»Wie gefällt sie Ihnen?«

»Wer?« Ravic stand auf. Der Manager stand neben ihm. Er machte eine Bewegung zu Joan Madou hinüber.

»Gut. Sehr gut.«

»Sie ist gerade keine Sensation. Aber zu brauchen, zwischen den anderen Nummern.«

Der Manager glitt weiter. Sein Spitzbart stand einen Augenblick schwarz vor dem weißen Licht. Dann verschwand er in der Dunkelheit. Ravic blickte ihm nach und griff nach seinem Glas.

Der Scheinwerfer erlosch. Das Orchester begann einen Tango zu spielen. Die erleuchteten Tischflächen tauchten wieder auf und über ihnen die undeutlichen Gesichter.

Joan Madou erhob sich und ging zwischen den Tischen hindurch. Sie mußte einige Male warten, weil die Paare zur Tanzfläche gingen. Ravic sah sie an, und sie sah ihn an. Ihr Gesicht verriet keine Überraschung. Sie ging gerade auf ihn zu. Er stand auf und schob den Tisch beiseite. Ein Kellner kam, um ihm zu helfen. »Danke«, sagte er, »das mache ich schon allein. Wir brauchen nur noch ein Glas.«

Er rückte den Tisch wieder zurecht und füllte das Glas, das der Kellner brachte. »Das ist Wodka hier«, sagte er. »Ich weiß nicht, ob Sie das trinken.«

»Ja. Wir haben es schon einmal getrunken. In der Belle Aurore.«

»Richtig.«

Wir waren auch schon einmal hier, dachte Ravic. Vor einer Ewigkeit. Vor drei Wochen. Damals hast du hier gesessen, zusammengekauert in deinem Regenmantel, nichts als ein bißchen Unglück und Ausgelöschtsein im Halbdunkel. Jetzt... »Salute«, sagte er.

Ein Schein flog über ihr Gesicht. Sie lachte nicht; ihr Gesicht wurde nur heller. »Das habe ich lange nicht gehört«, sagte sie. »Salute.«

Er trank sein Glas aus und sah sie an. Die hohen Brauen, die weit auseinanderstehenden Augen, der Mund — alles, was früher verwischt und einzeln und ohne Zusammenhang gewesen war, hatte sich auf einmal versammelt zu einem hellen, geheimnisvollen Gesicht, einem Gesicht, dessen Geheimnis seine Offenheit war. Es versteckte nichts und gab dadurch nichts preis. Daß ich das früher nicht gesehen habe, dachte er. Aber vielleicht war es damals nicht da, vielleicht war es da ganz ausgefüllt von Verwirrung und Angst.

»Haben Sie eine Zigarette?« fragte Joan Madou.

»Nur die algerischen. Die mit dem schweren, schwarzen Tabak.«

Ravic wollte dem Kellner winken. »Sie sind nicht zu schwer«, sagte sie. »Sie haben mir schon einmal eine gegeben. Am Pont de l’Alma.«

»Das ist wahr.«

Es ist wahr, und es ist nicht wahr, dachte er. Damals warst du ein gehetztes, fahles Wesen, nicht du; da ist noch manches andere zwischen uns gewesen, und plötzlich ist nichts mehr davon wahr. »Ich war schon einmal hier«, sagte er.

»Vorgestern.«

»Ich weiß es. Ich habe Sie gesehen.«

Sie fragte nicht nach Kate Hegström. Sie saß ruhig und entspannt in der Ecke und rauchte, und sie schien ganz hingegeben daran, daß sie rauchte. Dann trank sie, ruhig und langsam, und schien ganz hingegeben daran, daß sie trank. Sie schien alles ganz zu tun, was sie gerade tat, auch wenn es noch so nebensächlich war. Sie war auch ganz verzweifelt damals, dachte Ravic — und ebenso ist sie es jetzt nicht mehr. Sie hatte plötzlich Wärme und eine selbstverständliche, sichere Gelassenheit. Er wußte nicht, ob es daher kam, weil nichts im Augenblick ihr Leben bewegte; er fühlte nur, wie es ihn anstrahlte.

Die Karaffe Wodka war leer. »Wollen wir das weiter trinken?« fragte Ravic.

»Was war es, das Sie mir damals zu trinken gegeben haben?«

»Wann? Hier? Ich glaube, wir haben da eine Menge durcheinander getrunken.«

»Nein. Nicht hier. Am ersten Abend.«

Ravic dachte nach. »Ich weiß es nicht mehr. — War es nicht Kognak?«

»Nein. Es sah aus wie Kognak, aber es war etwas anderes. Ich habe versucht, es zu bekommen, aber ich habe es nicht gefunden.«

»Warum? War es so gut?«

»Nicht deshalb. Es war das Wärmste, was ich je in meinem Leben getrunken habe.«

»Wo haben wir es getrunken?«

»In einem kleinen Bistro in der Nähe des Arc. Man mußte ein paar Stufen hinuntergehen. Es waren Chauffeure da und ein paar Mädchen. Der Kellner hatte eine Frau auf seinem Arm tätowiert.«

»Ah, ich weiß. Es wird Calvados gewesen sein. Apfelschnaps aus der Normandie. Haben Sie den schon versucht?«

»Ich glaube nicht.«

Ravic winkte dem Kellner. »Haben Sie Calvados?«

»Nein. Leider nicht. Er wird nie verlangt.«

»Zu elegant hier dafür. Es wird also Calvados gewesen sein. Schade, daß wir es nicht herausfinden können. Am einfachsten wäre, noch einmal in die Kneipe zu gehen. Aber das können wir ja jetzt nicht.«

»Warum nicht?«

»Müssen Sie nicht hierbleiben?«

»Nein. Ich bin fertig.«

»Gut. Wollen wir gehen?« — »Ja.«

Ravic fand die Kneipe ohne Mühe. Sie war ziemlich leer. Der Kellner mit der tätowierten Frau auf dem Arm warf beiden einen kurzen Blick zu; dann schlurfte er hinter der Theke hervor und wischte die Tischplatte ab. »Ein Fortschritt«, sagte Ravic. »Das hat er damals nicht gemacht.«

»Nicht diesen Tisch«, sagte Joan. »Den dort.«

Ravic lächelte. »Sind Sie abergläubisch?«

»Manchmal.«

Der Kellner stand neben ihnen. »Stimmt«, sagte er und ließ die Tätowierung springen. »Damals haben Sie auch hier gesessen.«

»Erinnern Sie sich noch daran?«

»Genau.«

»Sie sollten General werden«, sagte Ravic. »Mit so einem Gedächtnis.«

»Ich vergesse nie etwas.«

»Dann wundert es mich, daß Sie noch leben. Aber wissen Sie auch noch, was wir damals getrunken haben?« »Calvados«, sagte der Kellner ohne Zögern. »Gut. Das wollten wir jetzt wieder trinken.« Ravic wandte sich an Joan Madou. »Wie einfach sich manchmal Probleme lösen! Jetzt werden wir sehen, ob er auch noch genauso schmeckt.«

Der Kellner brachte die Gläser. »Doppelte. Sie bestellten damals doppelte Calvados.« »Sie werden mir langsam unheimlich, Mann. Wissen Sie auch noch, wie wir angezogen waren?« »Regenmantel. Die Dame trug ein Béret de Basque.« »Sie sind zu schade hier. Sie gehören in ein Varieté.« »War ich doch«, erwiderte der Kellner erstaunt. »Zirkus. Habe ich Ihnen doch erzählt. Haben Sie das denn vergessen?« »Ja. Zu meiner Schande, ja.« »Der Herr vergißt leicht«, sagte Joan Madou zu dem Kellner. »Er ist ein Künstler im Vergessen. So wie Sie ein Künstler im Nichtvergessen.«

Ravic blickte auf. Sie sah ihn an. Er lächelte. »Vielleicht doch nicht«, sagte er. »Und jetzt wollen wir den Calvados versuchen. — Salute!«

»Salute!«

Der Kellner blieb stehen. »Was man vergißt, das fehlt einem später im Leben, mein Herr«, erklärte er. Das Thema war für ihn noch nicht erschöpft .

»Richtig. Und was man nicht vergißt, macht es einem zur Hölle.«

»Mir nicht. Es ist ja vorbei. Wie kann es einem da das Leben zur Hölle machen?«

Ravic blickte auf. »Gerade deshalb, Bruder. Aber Sie sind ein glücklicher Mensch, nicht nur ein Künstler. Ist der gleiche Calvados?« fragte er Joan Madou. — »Er ist besser.«

Er sah sie an. Eine leichte Wärme stieg ihm in die Stirn. Er wußte, was sie meinte; aber es war entwaffnend, daß sie es sagte. Sie schien sich nicht darum zu kümmern, wie es wirken konnte. Sie saß in der kahlen Kneipe, als wäre sie ganz bei sich selbst. Das Licht der ungeschützten elektrischen Birnen war unbarmherzig. Zwei Huren, die ein paar Tische weiter saßen, sahen darin aus wie ihre Großmütter. Aber es tat ihr nichts. Was vorher, im Dämmer des Nachtklubs, dagewesen war, hielt hier stand. Das kühne, helle Gesicht, das nicht fragte, das nur da war und wartete — es war ein leeres Gesicht, dachte er; ein Gesicht, das jeder Wind des Ausdrucks ändern konnte. Man konnte alles hineinträumen. Es war wie ein schönes, leeres Haus, das auf Teppiche und Bilder wartete. Alle Möglichkeiten waren in ihm — es konnte ein Palast und eine Hurenbude werden. Es kam auf den an, der es füllte. Wie begrenzt erschien dagegen alles, was schon vollgestopft war und eine Maske hatte...

Er sah, daß sie ihr Glas ausgetrunken hatte. »Alle Achtung«, sagte er. »Das war ein doppelter Calvados. Wollen Sie noch einen?«

»Ja. Wenn Sie Zeit haben.«

Warum sollte ich keine Zeit haben, dachte er. Dann fiel ihm ein, daß sie ihn das letztemal mit Kate Hegström gesehen hatte. Er blickte auf.

Ihr Gesicht verriet nichts.

»Ich habe Zeit«, sagte er. »Ich muß morgen um neun operieren, das ist alles.«

»Können Sie das, wenn Sie so spät aufbleiben?«

»Ja. Das hat nichts damit zu tun. Es ist Gewohnheit. Ich operiere auch nicht jeden Tag.«

Der Kellner füllte die Gläser nach. Er brachte mit der Flasche eine Schachtel Zigaretten und legte sie auf den Tisch. Es war ein Paket Laurens grün. »Die hatten Sie doch damals auch, wie?« fragte er Ravic triumphierend.

»Keine Ahnung. Sie wissen mehr als ich. Aber ich glaube Ihnen ohne weiteres.«

»Es stimmt«, sagte Joan Madou.

»Es waren Laurens grün.«

»Sehen Sie! Die Dame hat ein besseres Gedächtnis als Sie, mein Herr.«

»Das weiß man noch nicht. Auf jeden Fall können wir die Zigaretten brauchen.«

Ravic öffnete das Paket und hielt es ihr hinüber. »Wohnen Sie noch in demselben Hotel?« fragte er.

»Ja. Ich habe nur ein größeres Zimmer genommen.«

Eine Gruppe von Chauffeuren kam herein. Sie setzten sich an den Nebentisch und begannen ein lautes Gespräch.

»Wollen wir gehen?« fragte Ravic. Sie nickte.

Er winkte dem Kellner und zahlte. »Müssen Sie nicht doch noch zurück zur Scheherazade?«

»Nein.«

Er nahm ihren Mantel. Sie zog ihn nicht an. Sie hängte ihn nur über ihre Schultern. Es war ein billiger Nerz und möglicherweise eine Imitation — aber er sah an ihr nicht billig aus. Billig war nur, was man nicht selbstverständlich trug, dachte Ravic. Er hatte schon billige Kronenzobel gesehen.

»Dann werden wir Sie jetzt zu Ihrem Hotel bringen«, sagte er, als sie draußen vor dem Eingang in dem leise sprühenden Regen standen.

Sie wandte sich langsam zu ihm. »Gehen wir nicht zu dir?«

Ihr Gesicht war dicht unter seinem, schräg aufwärts zu ihm gerichtet. Das Licht von der Laterne vor der Tür lag voll darauf. Die feinen Sprühperlen der Feuchtigkeit glitzerten in ihrem Haar.

»Ja«, sagte er.

Ein Taxi kam heran und hielt. Der Chauffeur wartete eine Weile. Dann gab er einen schnalzenden Laut von sich, schaltete knarrend und fuhr weiter.

»Ich habe auf dich gewartet. Wußtest du das?« fragte sie. — »Nein.«

Ihre Augen glänzten im Widerschein der Laterne. Man konnte hindurchsehen, und sie schienen nirgendwo aufzuhören. »Ich habe dich heute erst gesehen«, sagte er. »Das früher warst du nicht.«

»Nein.«

»Das früher war alles nicht.«

»Nein. Ich habe es vergessen.«

Er fühlte die leichte Ebbe und Flut ihres Atems. Unsichtbar bebte es ihm entgegen, sanft, ohne Schwere, bereit und voll Vertrauen — ein fremdes Dasein in der fremden Nacht. Er spürte plötzlich sein Blut. Es kam und kam und war mehr als das: Leben, tausendmal verflucht und gegrüßt, oft verloren und wiedergewonnen — vor einer Stunde noch eine dürre Landschaft, kahl, voll Gestern und ohne Trost — und jetzt wieder strömend und nahe dem rätselhaften Augenblick, an den er nie mehr geglaubt hatte; man war wieder der erste Mensch am Rande des Meeres, und aus den Fluten stieg es auf, weiß und leuchtend, Frage und Antwort in einem, es kam und kam, und der Sturm über den Augen begann...

»Halte mich«, sagte Joan. Er sah in ihr Gesicht hinunter und legte den Arm um sie. Ihre Schultern kamen ihm entgegen wie ein Schiff, das sich in einen Hafen legen will.

»Muß man dich halten?« fragte er.

»Ja.«

Ihre Hände lagen dicht zusammen an seiner Brust. »Ich werde dich schon halten.«

»Ja.«

Ein zweites Taxi bremste quietschend an der Bordkante. Der Chauffeur schaute ungerührt zu ihnen hinüber. Auf seiner Schulter saß ein kleiner Hund, der eine Strickweste trug. »Taxi?« krächzte der Mann unter einem langen, flächsernen Schnurrbart hervor.

»Sieh«, sagte Ravic. »Der dort weiß von nichts. Er weiß nicht, daß uns etwas angerührt hat. Er sieht uns, und er sieht nicht, daß wir uns verändert haben. Das ist das Verrückte in der Welt: Du kannst dich in einen Erzengel, einen Narren oder einen Verbrecher verwandeln, niemand sieht es. Aber wenn dir ein Knopf fehlt — das sieht jeder.«

»Es ist nicht verrückt. Es ist gut. Es läßt uns bei uns.«

Ravic sah sie an. Uns — dachte er. Welch ein Wort! Das geheimnisvollste Wort der Welt.

»Taxi?« krächzte der Chauffeur ungeduldig, aber lauter, und zündete sich eine Zigarette an.

»Komm«, sagte Ravic. »Den dort werden wir nicht los. Er hat Berufserfahrung.«

»Wir wollen nicht fahren. Laß uns gehen.«

»Es fängt an zu regnen.«

»Das ist kein Regen. Das ist Nebel. Ich will kein Taxi. Ich will mit dir gehen.«

»Gut. Aber dann will ich dem da drüben wenigstens klarmachen, daß inzwischen hier etwas geschehen ist.«

Ravic ging hinüber und sprach mit dem Chauff eur. Der Mann lächelte ein wunderschönes Lächeln, grüßte mit einer Geste, wie sie nur Franzosen in solchen Augenblicken haben, zu Joan hin und fuhr ab.

»Wie hast du es ihm klargemacht«, fragte sie, als Ravic zurückkam.

»Durch Geld. Es ist das einfachste. Nachtarbeiter und Zyniker. Er verstand sofort. War wohlwollend mit einer Spur liebenswürdiger Verachtung.«

Sie lächelte und lehnte sich an ihn. Er spürte, wie etwas in ihm sich öffnete und ausbreitete, warm und weich und weit, etwas, das ihn niederzog wie mit vielen Händen, und es war plötzlich unerträglich, daß sie nebeneinander standen, auf Füßen, schmalen Plattformen, lächerlich aufgerichtet, balancierend; anstatt es zu vergessen und niederzusinken, dem Schluchzen der Haut nachzugeben, dem Ruf hinter den Jahrtausenden, als es das alles noch nicht gab, Gehirn und Fragen und Qual und Zweifel — nur das dunkle Glück des Blutes...

»Komm«, sagte er.

Sie gingen durch den feinen Regen die leere, graue Straße entlang, und plötzlich, als sie an das Ende kamen, lag der Platz wieder mächtig und ohne Grenzen vor ihnen, und schwebend, hoch, hob sich das schwere Grau des Arc aus dem fließenden Silber.