37349.fb2 Arc de Triomphe - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 9

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Ravic ging zum Hotel zurück. Joan Madou hatte morgens noch geschlafen, als er weggegangen war. Er hatte geglaubt, in einer Stunde zurück zu sein. Jetzt war es drei Stunden später.

»Hallo, Doktor«, sagte jemand, der ihm auf der Treppe zum zweiten Stock begegnete.

Ravic sah den Mann an. Ein blasses Gesicht, ein Busch wilder, schwarzer Haare, eine Brille. Er kannte ihn nicht.

»Alvarez«, sagte der Mann. »Jaime Alvarez. Erinnern Sie sich nicht?«

Ravic schüttelte den Kopf.

Der Mann bückte sich und streifte ein Hosenbein hoch. Eine lange Narbe lief vom Schienbein aufwärts zum Knie. »Erinnern Sie sich jetzt?«

»Habe ich das operiert?«

Der Mann nickte. »Auf einem Küchentisch hinter der Front. In einem provisorischen Lazarett von Aranjuez. Kleine, weiße Villa in einem Mandelhain. Erinnern Sie sich nun?«

Ravic spürte plötzlich den schweren Geruch der Mandelblüten. Er roch ihn, als käme er die dunkle Treppe herauf, faulig, unentwirrbar gemischt mit dem süßeren und fauleren von Blut.

»Ja«, sagte er. »Ich erinnere mich.«

Die Verwundeten hatten auf der mondhellen Terrasse gelegen, in Reihen nebeneinander. Ein paar deutsche und italienische Flugzeuge hatten das fertiggebracht. Kinder, Frauen, Bauern, zerrissen von Bombensplittern. Ein Kind ohne Gesicht; eine schwangere Frau, aufgerissen bis zur Brust; ein alter Mann, der die Finger der Hand, die ihm weggeschmettert waren, ängstlich in der andern hielt, weil er glaubte, man könne sie wieder annähen. Über allem der schwere Nachtgeruch und der klare, fallende Tau.

»Ist das Bein wieder ganz in Ordnung?« fragte Ravic.

»Ungefähr. Ich kann es nicht voll biegen.« Der Mann lächelte. »Es war gut genug, um über die Pyrenäen damit zu kommen. Gonzales ist tot.«

Ravic wußte nicht mehr, wer Gonzales war. Aber er erinnerte sich jetzt an einen jungen Studenten, der ihm geholfen hatte. »Wissen Sie, was aus Manolo geworden ist?«

»Gefangen. Erschossen.«

»Und Serna? Der Brigadekommandeur?«

»Tot. Vor Madrid.« Der Mann lächelte wieder. Es war ein starres, automatisches Lächeln, das plötzlich kam und ohne jede Emotion war. »Mura und La Pena sind gefangen worden. Erschossen.«

Ravic wußte nicht mehr, wer Mura und La Pena waren. Er hatte Spanien nach sechs Monaten verlassen, als die Front durchbrachen war und das Lazarett aufgelöst wurde.

»Carnero, Orta und Goldstein sind im Konzentrationslager«, sagte Alvarez. »In Frankreich. Blatzky ist auch sicher. Versteckt hinter der Grenze.«

Ravic erinnerte sich nur noch an Goldstein. Es waren zu viele Gesichter damals gewesen. »Wohnen Sie jetzt hier im Hotel?« fragte er.

»Ja. Wir sind vorgestern eingezogen. Drüben.« Der Mann zeigte auf die Zimmer im zweiten Stock. »Wir waren lange im Lager unten an der Grenze. Sind endlich ’rausgelassen worden. Wir hatten noch Geld.« Er lächelte wieder. »Betten. Richtige Betten. Gutes Hotel. Sogar Bilder von unseren Führern an den Wänden.«

»Ja«, sagte Ravic ohne Ironie. »Das muß angenehm sein, nach all dem drüben.«

Er verabschiedete sich von Alvarez und ging auf sein Zimmer.

Das Zimmer war aufgeräumt und leer. Joan war fort. Er sah sich um. Sie hatte nichts hinterlassen. Er hatte es auch nicht erwartet.

Er klingelte. Das Mädchen kam nach einer Weile. »Die Dame ist fort«, sagte es, bevor er fragen konnte.

»Das sehe ich selbst.Woher wissen Sie denn, daß jemand hier war?«

»Aber Herr Ravic«, sagte das Mädchen, ohne weiter etwas hinzuzufügen, mit einem Gesicht, als sei ihre Ehre schwer beleidigt worden.

»Hat sie Frühstück gehabt?«

»Nein. Ich habe sie nicht gesehen. Ich hätte sonst schon daran gedacht. Ich weiß das doch von früher.«

Ravic sah es an. Der Nachsatz gefiel ihm nicht. Er zog ein paar Frank hervor und steckte sie dem Mädchen in die Schürzentasche. »Schön«, sagte er. »Machen Sie es das nächstemal ebenso. Bringen Sie nur Frühstück, wenn ich es Ihnen ausdrücklich sage. Und kommen Sie nicht zum Aufräumen, bevor Sie genau wissen, daß das Zimmer leer ist.«

Das Mädchen lächelte vertraut. »Sehr wohl, Herr Ravic.«

Er blickte ihm unbehaglich nach. Er wußte, was es dachte. Es glaubte, Joan sei verheiratet und wolle nicht gesehen werden. Früher hätte er darüber gelacht. Jetzt gefiel es ihm nicht. Warum eigentlich nicht, dachte er. Er zuckte die Achseln und ging zum Fenster. Hotels waren Hotels. Man konnte das nicht ändern.

Er öffnete das Fenster. Ein wolkiger Mittag stand über den Häusern. Spatzen schrien in den Dachrinnen. Einen Stock tiefer zankten zwei Stimmen. Es mußte die Familie Goldberg sein. Der Mann war zwanzig Jahre älter als die Frau. Getreidehändler en gros aus Breslau. Die Frau hatte ein Verhältnis mit dem Emigranten Wiesenhoff . Sie glaubte, daß niemand das wußte. Der einzige, der es nicht wußte, war Goldberg.

Ravic schloß das Fenster. Er hatte morgens eine Gallenblase operiert. Eine anonyme Gallenblase für Durant. Ein Stück unbekannten, männlichen Bauch, den er für Durant aufgeschnitten harte. Zweihundert Frank Honorar. Danach war er bei Kate Hegström gewesen. Sie hatte Fieber. Zuviel Fieber. Er war eine Stunde dagewesen. Sie hatte unruhig geschlafen. Es war nichts Außergewöhnliches. Aber es hätte besser nicht sein sollen.

Er starrte durch das Fenster. Das sonderbare, leere Gefühl des Nachher. Das Bett, das nichts mehr sagte. Der Tag, der das Gestern unbarmherzig zerriß wie ein Schakal das Fell einer Antilope. Die Wälder der Nacht, zauberhaft in der Dunkelheit hochgeschossen, schon wieder endlos entfernt, eine Fata Morgana nur noch über der Wüste der Stunden...

Er wandte sich ab. Auf einem Tisch fand er die Adresse Lucienne Martinets. Sie war vor kurzem entlassen worden. Sie hatte keine Ruhe gegeben. Er war vor zwei Tagen bei ihr gewesen. Es war nicht nötig, sie schon wieder zu sehen; er hatte nichts weiter zu tun und beschloß, hinzugehen.

Das Haus lag in der Rue Clavel. Zu ebener Erde lag eine Schlächterei, in der eine mächtige Frau das Beil schwang und Fleisch verkaufte. Sie war in Trauer. Der Mann war vor zwei Wochen gestorben. Jetzt regierte die Frau das Geschäft mit einem Gesellen. Ravic sah sie im Vorbeigehen. Sie schien einen Besuch vorzuhaben. Sie trug einen Hut mit einem langen, schwarzen Kreppschleier und hackte für eine Bekannte aus Gefälligkeit rasch noch ein Schweinebein ab. Der Schleier wehte über das offene Schwein, das Beil blitzte und krachte hernieder.

»Mit einem Schlag«, sagte die Witwe befriedigt und warf das Bein auf die Waage.

Lucienne wohnte im obersten Stock in einem kleinen Zimmer unter dem Dach. Sie war nicht allein. Ein Bursche von etwa fünfundzwanzig Jahren lungerte auf einem Stuhl herum. Er hatte eine Radfahrermütze auf und rauchte eine selbstgedrehte Zigarette, die beim Sprechen an der Oberlippe klebenblieb. Als Ravic eintrat, blieb er sitzen.

Lucienne lag im Bett. Sie war verwirrt und errötete. »Doktor — ich wußte nicht, daß Sie heute kommen würden.« Sie sah nach dem Burschen.

»Dies ist...«

»Irgend jemand«, unterbrach der Bursche sie grob. »Nicht weiter nötig, mit Namen herumzuwerfen.« Er lehnte sich zurück. »So, Sie sind also der Doktor?«

»Wie geht es, Lucienne?« fragte Ravic, ohne sich um ihn zu kümmern. »Vernünftig, daß Sie noch im Bett liegen.«

»Sie könnte längst aufstehen«, erklärte der Bursche. »Ihr fehlt nichts mehr. Wenn sie nicht arbeitet, kostet und kostet das nur.«

Ravic sah sich nach ihm um. »Gehen Sie mal ’raus«, sagte er.

»Was?«

»’raus. Vor die Tür. Ich will Lucienne untersuchen.«

Der Bursche brach in ein Gelächter aus. »Das können Sie auch so.Wir sind nicht so fein. Und wieso untersuchen? Sie waren ja erst vorgestern hier. Das kostet dann wieder einen Besuch extra, was?«

»Bruder«, sagte Ravic ruhig. »Sie sehen nicht so aus, als ob Sie es bezahlen. Und ob es was kostet, ist außerdem eine andere Sache. Und nun verschwinden Sie.«

Der Bursche grinste und spreizte behaglich die Beine. Er trug spitze Lackschuhe und violette Strümpfe.

»Bitte, Bobo«, sagte Lucienne. »Es dauert sicher nur einen Augenblick.«

Bobo beachtete sie nicht. Er fixierte Ravic. »Ganz gut, daß Sie da sind«, sagte er. »Da kann ich Ihnen gleich einmal Bescheid stoßen. Wenn Sie vielleicht denken, mein Lieber, Sie könnten eine Rechnung schinden, Hospital, Operation und so was — ist nicht! Wir haben nicht verlangt, daß sie ins Hospital sollte — von Operation gar nicht zu reden, also mit großem Geld ist Essig. Sie können sich noch freuen, daß wir keinen Schadenersatz beanspruchen! Operation wider Willen.« Er zeigte eine Reihe fleckiger Zähne. »Da staunen Sie, was? Ja. Bobo weiß Bescheid; er ist nicht so leicht anzuschmieren.«

Der Bursche sah sehr zufrieden aus. Er hatte das Gefühl, sich glänzend herausgedreht zu haben. Lucienne war blaß geworden. Sie blickte ängstlich von Bobo zu Ravic.

»Verstanden?« fragte Bobo triumphierend.

»War es der?« fragte Ravic Lucienne. Sie antwortete nicht. »Der also«, sagte er und betrachtete Bobo.

Ein magerer, langer Lümmel mit einem kunstseidenen Schal um den dünnen Hals, an dem der Adamsapfel auf und ab stieg. Abfallende Schultern, eine zu lange Nase, ein degeneriertes Kinn — ein Vorstadtzuhälter aus dem Buche.

»Was der also?« fragte Bobo herausfordernd.

»Ich habe Ihnen, glaube ich, jetzt oft genug gesagt, daß Sie ’rausgehen sollen. Ich will untersuchen.«

»Merde«, erwiderte Bobo.

Ravic ging langsam auf ihn zu. Er hatte genug von Bobo. Der Bursche sprang auf, wich zurück und hatte plötzlich einen dünnen Strick von etwa einem Meter Länge in den Händen. Ravic wußte, was er wollte. Er hatte vor, wenn Ravic näher kam, zur Seite zu springen, dann schnell hinter ihn, um ihm dann den Strick über den Kopf zu streifen und ihn von hinten zu drosseln. Es war gut, wenn der andere es nicht kannte oder zu boxen versuchte.

»Bobo«, rief Lucienne. »Bobo, nicht!«

»Du Rotzjunge«, sagte Ravic. »Der jämmerliche alte Seiltrick — weiter weißt du nichts?« Er lachte.

Bobo war einen Moment verblüfft. Seine Augen wurden unsicher. Ravic hatte ihm gleich darauf das Jackett mit beiden Händen über die Schultern heruntergezogen, so daß er die Arme nicht mehr heben konnte. »Das hier kanntest du wohl noch nicht?« sagte er, öffnete rasch die Tür und stieß den überraschten, wehrlosen Burschen ziemlich grob hinaus. »Wenn du Lust auf so was hast, werde Soldat, du Möchtegern-Apache! Aber belästige keine Erwachsenen.«

Er schloß die Tür von innen ab. »So, Lucienne«, sagte er. »Nun wollen wir mal sehen.«

Sie zitterte. »Ruhig, ruhig. Es ist schon vorbei.« Er nahm das verschlissene, baumwollene Plumeau und legte es auf den Stuhl. Dann rollte er die grüne Decke zurück. »Pyjama? Warum denn das? Es ist doch unbequemer. Sie sollen sich noch nicht viel bewegen, Lucienne.«

Sie schwieg einen Augenblick. »Ich habe sie nur heute angezogen«, sagte sie dann.

»Haben Sie keine Nachthemden mehr? Ich kann Ihnen zwei von der Klinik schicken.«

»Nein, nicht deshalb. Ich habe sie angezogen, weil ich wußte...«, sie blickte nach der Tür und flüsterte, »... daß er kam. Er sagt, ich wäre nicht mehr krank. Er will nicht mehr warten.«

»Was? Schade, daß ich das vorher nicht gewußt habe.« Ravic blickte grimmig nach der Tür. »Er wird warten!«

Lucienne hatte die sehr weiße Haut anämischer Frauen. Die Adern lagen blau unter der dünnen Oberschicht. Sie war hübsch gewachsen, mit schmalen Knochen, schlank, aber nirgendwo mager. Eines der zahllosen Mädchen, dachte Ravic, bei denen man sich fragte, warum die Natur den Aufwand gemacht hatte, sie so zierlich zu bilden — wenn man wußte, was aus fast allen von ihnen wurde — ein überarbeitetes, durch falsches und ungesundes Leben rasch formlos werdendes Wesen.

»Sie müssen noch eine Woche ziemlich viel im Bett liegenbleiben, Lucienne. Sie können aufstehen und hier herumgehen. Aber seien Sie vorsichtig; heben Sie nichts. Und steigen Sie keine Treppen in den nächsten Tagen. Haben Sie jemand, der nach Ihnen sieht? Außer diesem Bobo?«

»Die Vermieterin. Aber die knurrt auch schon.« »Sonst niemand?« »Nein. Marie war früher da. Sie ist tot.« Ravic musterte das Zimmer. Es war ärmlich und sauber. Vor dem Fenster standen ein paar Fuchsien. »Und Bobo?« fragte er. »Der ist also wieder aufgetaucht, nachdem alles vorbei war...«

Lucienne antwortete nicht.

»Warum schmeißen Sie ihn nicht ’raus?«

»Er ist nicht so schlecht, Doktor. Nur wild...«

Ravic sah sie an. Liebe, dachte er. Auch das ist Liebe.

Das alte Mirakel. Es wirft nicht nur den Regenbogen der Träume an den grauen Himmel der Tatsachen — es verklärt sogar einen Scheißhaufen mit romantischem Licht —; ein Wunder und ein toller Hohn. Er hatte plötzlich das sonderbare Gefühl, in einer fernen Weise zum Mitschuldigen geworden zu sein. »Gut, Lucienne«, sagte er. »Machen Sie sich nichts daraus. Werden Sie nur erst gesund.«

Sie nickte erleichtert. »Und das mit dem Geld«, sagte sie verlegen und eilig, »das ist nicht wahr. Er hat das nur so gesagt. Ich werde alles bezahlen. Alles. In Raten. Wann kann ich wieder arbeiten?«

»In ungefähr zwei Wochen, wenn Sie keinen Unsinn machen. Und nichts mit Bobo! Absolut nichts, Lucienne! Sie können sonst sterben, verstehen Sie?«

»Ja«, erwiderte sie ohne Überzeugung.

Ravic legte die Decke über den schmalen Körper. Als er aufblickte, sah er, daß sie weinte. »Geht es nicht doch früher?« sagte sie. »Ich kann ja sitzen, wenn ich arbeite. Ich muß...«

»Vielleicht. Wir werden sehen. Es hängt davon ab, wie Sie sich verhalten. Sie sollten mir sagen, wie die Hebamme hieß, die den Eingriff gemacht hat, Lucienne.«

Er sah die Abwehr in ihren Augen. »Ich gehe nicht zur Polizei«, sagte er. »Bestimmt nicht. Ich will nur versuchen, das Geld herauszubekommen, das Sie ihr bezahlt haben, Sie können dann ruhiger sein. Wieviel war es?«

»Dreihundert Frank. Sie werden es nie von ihr kriegen.«

»Man kann es versuchen. Wie heißt sie, und wo wohnt sie? Sie werden sie nie mehr brauchen, Lucienne. Sie können keine Kinder mehr bekommen. Und sie kann nichts gegen Sie tun.«

Das Mädchen zögerte. »In der Schublade dort«, sagte sie dann. »Rechts in der Schublade.«

»Dieser Zettel hier?« — »Ja.«

»Gut. Ich werde in den nächsten Tagen hingehen. Haben Sie keine Angst.« Ravic zog seinen Mantel an. »Was ist denn?« fragte er. »Weshalb wollen Sie aufstehen?«

»Bobo. Sie kennen ihn nicht.«

Er lächelte. »Ich glaube, ich kenne schlimmere. Bleiben Sie nur liegen. Nach dem, was ich gesehen habe, brauchen wir keine Sorge zu haben. Auf Wiedersehen, Lucienne. Ich komme bald wieder.«

Ravic drehte den Schlüssel und die Klinke zur selben Zeit und öffnete rasch die Tür. Niemand stand auf dem Flur. Er hatte es auch nicht erwartet; er kannte Bobos Typ.

In der Schlächterei unten stand jetzt der Geselle, ein gelbgesichtiger Mensch ohne die Passion der Wirtin. Er hackte lustlos herum. Seit dem Trauerfall war er bedeutend müder geworden.

Seine Chance, die Meisterin zu heiraten, war gering. Ein Bürstenbinder gegenüber im Bistro erklärte das laut und auch, daß sie ihn vorher ebenfalls zum Friedhof bringen würde. Der Geselle habe bereits stark verloren. Die Witwe aber sei mächtig aufgeblüht. Ravic trank einen Cassis und zahlte. Er hatte geglaubt, Bobo in dem Bistro zu treffen; aber Bobo war nicht da.

Joan Madou kam aus der Tür der Scheherazade. Sie öffnete die Tür des Taxis, in dem Ravic wartete. »Komm«, sagte sie. »Laß uns weg von hier. Wir wollen zu dir.«

»Ist etwas passiert?«

»Nein. Nichts. Ich habe nur genug vom Nachtklubleben.«

»Einen Augenblick.« Ravic winkte die Blumenverkäuferin, die vor dem Eingang stand, heran. »Muttchen«, sagte er. »Gib mir alle deine Rosen. Was kosten sie? Aber sei nicht wahnsinnig.«

»Sechzig Frank. Für Sie.Weil Sie mir das Rezept für den Rheumatismus gegeben haben.«

»Hat es genützt?«

»Nein. Kann es auch nicht, solange ich die Nacht im Nassen stehe.«

»Sie sind der vernünftigste Patient, den ich im Leben getroffen habe.«

Er nahm die Rosen. »Hier ist eine Entschuldigung, weil du heute morgen allein aufwachen mußtest und kein Frühstück bekommen hast«, sagte er zu Joan und packte die Blumen auf den Boden des Taxis.

»Willst du noch etwas trinken?«

»Nein. Wir wollen zu dir. Leg die Blumen hierher auf den Sitz. Nicht auf den Boden.«

»Sie liegen da gut. Man soll Blumen lieben, aber nicht zu viele Umstände mit ihnen machen.«

Sie wendete rasch den Kopf. »Du meinst, was man liebt, soll man nicht verwöhnen?«

»Nein. Ich meine nur, daß man schöne Dinge nicht dramatisieren soll. Im Augenblick ist es außerdem besser, wenn keine Blumen zwischen uns liegen.«

Joan blickte ihn einen Moment zweifelnd an. Dann erhellte sich ihr Gesicht. »Weißt du, was ich heute getan habe? Ich habe gelebt. Wieder gelebt. Ich habe geatmet. Wieder geatmet. Ich war da. Wieder da. Zum ersten Male. Ich habe wieder Hände. Und Augen und einen Mund.«

Der Chauffeur manövrierte das Taxi in der schmalen Straße aus den anderen Wagen heraus. Dann fuhr er mit einem Ruck an. Der Stoß warf Joan gegen Ravic. Er hielt sie einen Augenblick in seinen Armen und fühlte sie. Es war wie ein warmer Wind, als wehte sie ihn an und schmelze die Krusten des Tages hinweg, die sonderbare, abwehrende Kühle in ihm, während sie dasaß und sprach, hingerissen von ihrem Gefühl und von sich selbst.

»Den ganzen Tag — es strömte, als wären überall Brunnen, es warf sich mir über den Nacken und gegen die Brust, als müßte ich grün werden und Blätter treiben und Blüten — es hielt mich und hielt mich und hielt mich und ließ mich nicht los — und da bin ich nun — und du...«

Ravic sah sie an. Sie saß vorgebeugt auf dem schmutzigen Ledersitz, und ihre Schultern leuchteten aus ihrem schwarzen Abendkleid. Sie war offen und unbedenklich und ohne Scham, sie sagte, was sie fühlte, und er kam sich ärmlich und trocken gegen sie vor.

Ich habe operiert, dachte er. Ich habe dich vergessen gehabt. Ich war bei Lucienne. Ich war irgendwo in der Vergangenheit. Ohne dich. Dann, als der Abend kam, kam langsam die Wärme. Ich war nicht bei dir. Ich habe an Kate Hegström gedacht.

»Joan«, sagte er und legte seine Hände über ihre Hände, die sie auf den Sitz gestützt hatte. »Wir können noch nicht gleich zu mir fahren. Ich muß noch einmal zur Klinik. Nur für einige Minuten.«

»Mußt du nach der Frau sehen, die du operiert hast?«

»Nicht nach der von heute morgen. Nach einer anderen. Willst du irgendwo auf mich warten?«

»Mußt du gleich hingehen?«

»Es ist besser. Ich will nicht, daß man mich später anruft .«

»Ich kann bei dir warten. Haben wir so viel Zeit, bei deinem Hotel vorbeizufahren?« »Ja.«

»Dann laß uns hinfahren. Du kommst dann später. Ich kann auf dich warten.«

»Gut.« Ravic sagte dem Chauffeur die Adresse. Er lehnte sich zurück und fühlte die Kante des Sitzes an seinem Nacken. Seine Hände waren noch auf den Händen Joans. Er spürte, daß sie wartete, er solle etwas sagen. Etwas über ihn und sie. Aber er konnte es nicht. Sie hatte schon zuviel gesagt. Es war nicht so viel, dachte er.

Der Wagen hielt. »Fahr weiter«, sagte Joan. »Ich werde schon hier fertig. Ich habe keine Angst. Gib mir nur deinen Schlüssel.«

»Der Schlüssel ist im Hotel.«

»Ich werde ihn mir geben lassen. Ich muß das lernen.« Sie nahm die Blumen vom Boden. »Bei einem Mann, der mich verläßt, während ich schlafe, und wiederkommt, wenn ich es nicht erwarte — ich muß da wohl manches lernen. Laß mich gleich anfangen.«

»Ich werde mit dir hinaufgehen. Wir wollen nicht übertreiben. Schlimm genug, daß ich dich gleich wieder allein lasse.«

Sie lachte. Sie sah sehr jung aus. »Warten Sie bitte einen Moment«, sagte Ravic zu dem Chauffeur.

Der Mann schloß langsam ein Auge. »Auch länger.«

»Gib mir den Schlüssel«, sagte Joan, als sie die Treppe hinaufgingen.

»Warum?«

»Gib ihn mir.«

Sie schloß die Tür auf. Dann blieb sie stehen. »Schön«, sagte sie in das dunkle Zimmer hinein, in dem hinter dem Fenster ein kahler Mond durch die Wolken schien.

»Schön? Diese Bude?«

»Ja, schön! Alles ist schön.«

»Jetzt vielleicht noch. Jetzt ist es dunkel. Aber...« Ravic griff nach dem Lichtschalter.

»Laß. Ich mache das selbst. Und nun geh. Aber komm nicht erst morgen mittag wieder.«

Sie stand an der Türöffnung im Dunkeln. Das silberne Licht vom Fenster war hinter ihren Schultern und ihrem Kopf. Sie war undeutlich und aufregend und geheimnisvoll. Ihr Mantel war hinuntergeglitten; er lag wie ein Haufen schwarzer Schaum zu ihren Füßen. Sie lehnte in der Türöffnung, und nur einer ihrer Arme fing einen langen Streifen Licht vom Korridor her. »Geh und komm wieder«, sagte sie und schloß die Tür.

Das Fieber Kate Hegströms war heruntergegangen. »Ist sie aufgewacht?« fragte Ravic die verschlafene Schwester.

»Ja. Um elf. Sie hat nach Ihnen gefragt. Ich habe ihr gesagt, was Sie mir aufgetragen haben.«

»Hat sie etwas über die Verbände gesagt?«

»Ja. Ich habe ihr gesagt, Sie hätten schneiden müssen. Eine leichte Operation. Sie würden es ihr morgen erklären.«

»Das war alles?«

»Ja. Sie sagte, wenn Sie es für richtig gehalten hätten, wäre alles in Ordnung. Ich sollte Sie grüßen, wenn Sie noch einmal kämen, heute nacht, und Ihnen sagen, sie vertraue Ihnen.«

»So...«

Ravic stand eine Weile und sah auf das schwarze, gescheitelte Haar der Schwester hinab. »Wie alt sind Sie?« fragte er dann.

Sie hob verwundert den Kopf. »Dreiundzwanzig.«

»Dreiundzwanzig. Und wie lange pflegen Sie schon?«

»Seit zweieinhalb Jahren. Im Januar werden es zweieinhalb Jahre.«

»Lieben Sie Ihren Beruf?«

Die Schwester lächelte über ihr Apfelgesicht. »Ich habe ihn gern«, erklärte sie redselig. »Manche Kranke sind natürlich anstrengend, aber die meisten sind sehr nett. Madame Brissot hat mir gestern ein schönes, fast neues Seidenkleid geschenkt. Und die letzte Woche habe ich von Madame Lerner ein Paar Lackschuhe bekommen. Von der, die dann zu Hause gestorben ist.« Sie lächelte wieder. »Ich brauche mir fast keine Garderobe zu kaufen. Ich bekomme fast immer irgend etwas. Wenn ich es nicht verwerten kann, tausche ich es um bei einer Freundin, die ein Geschäft hat. Mir geht es dadurch sehr gut. Madame Hegström ist auch immer sehr freigebig. Sie gibt Geld. Das letztemal waren es einhundert Frank. Für nur zwölf Tage. Wie lange wird sie diesmal liegen, Doktor?«

»Länger. Ein paar Wochen.«

Die Schwester sah glücklich aus. Sie rechnete hinter ihrer klaren, faltenlosen Stirn aus, wieviel ihr das einbringen würde. Ravic beugte sich noch einmal über Kate Hegström. Sie atmete ruhig. Der schwache Wundgeruch mischte sich mit dem herben Parfüm ihres Haares. Er konnte es plötzlich nicht ertragen. Sie hatte Vertrauen zu ihm. Vertrauen. Der schmale, zerschnittene Bauch, in dem das Tier fraß. Zugenäht, ohne etwas tun zu können. Vertrauen.

»Gute Nacht, Schwester«, sagte er. — »Gute Nacht, Doktor.« Die rundliche Schwester setzte sich in den Sessel in der Ecke des Zimmers. Sie schirmte das Licht gegen das Bett hin ab, wikkelte sich eine Decke um die Füße und griff nach einem Magazin. Es war eines der billigen Hefte mit Detektivgeschichten und Filmbildern. Sie rückte sich behaglich zurecht und begann zu lesen. Neben sich auf dem Tischchen hatte sie eine geöffnete Tüte mit Schokoladenplätzchen liegen. Ravic sah noch, wie sie ohne aufzuschauen eines herausnahm. Manchmal begreift man die einfachsten Dinge nicht, dachte er — daß in demselben Raum einer todkrank liegt, und den andern geht es überhaupt nichts an. Er schloß die Tür. Aber ist es nicht mit mir dasselbe? Gehe ich nicht aus diesem Zimmer in ein anderes, in dem...

Das Zimmer war dunkel. Die Tür zum Badezimmer war etwas geöffnet. Dahinter brannte Licht. Ravic zögerte. Er wußte nicht, ob Joan noch im Badezimmer war. Dann hörte er sie atmen. Er ging durch den Raum zum Bad. Er sagte nichts. Er wußte, sie war da, und sie schlief nicht, aber auch sie sagte nichts. Das Zimmer war plötzlich voll Schweigen und Warten und Spannung — wie ein Strudel, der lautlos rief —; ein unbekannter Abgrund, jenseits der Gedanken, aus dem der Schwindel und der Mohn einer roten Betäubung aufwölkte.

Er schloß die Badezimmertür. Im klaren Licht der weißen Birnen war alles wieder vertraut und bekannt. Er drehte die Hähne der Brause an. Es war die einzige Brause im Hotel. Ravic hatte sie selbst bezahlt und anbringen lassen. Er wußte, daß sie in seiner Abwesenheit als Sehenswürdigkeit noch immer den französischen Verwandten und Freunden der Hotelbesitzerin gezeigt wurde.

Das heiße Wasser strömte über seine Haut. Nebenan lag jetzt Joan Madou und wartete auf ihn. Ihre Haut war glatt, ihr Haar überstürzte wie eine heftige Welle das Kissen, und ihre Augen glänzten, sogar, wenn das Zimmer fast dunkel war, als fingen sie selbst das spärliche Licht der Wintersterne vor dem Fenster und reflektierten es. Sie lag da, geschmeidig und veränderlich und aufregend, weil nichts übrigblieb von der Frau, die man noch eine Stunde vorher kannte, sie war alles, was es an Reiz und Lockung ohne Liebe geben konnte — und doch empfand er auf einmal etwas wie Abneigung gegen sie — eine sonderbare Abwehr, gemischt mit einer heftigen und plötzlichen Zuneigung. Er blickte sich unwillkürlich um — wenn das Badezimmer noch einen zweiten Ausgang gehabt hätte, hätte er es für möglich gehalten, daß er sich angezogen hätte und fortgegangen wäre, um zu trinken.

Er trocknete sich ab und zögerte noch eine Weile herum. Merkwürdig, was ihn da angeflogen war aus dem Nirgendwo. Ein Schatten, ein Nichts. Vielleicht war es gekommen, weil er bei Kate Hegström gewesen war. Oder durch das, was Joan vorher im Taxi gesagt hatte. Viel zu schnell und viel zu leicht. Oder einfach nur, weil jemand wartete — statt daß er wartete. Er verzog die Lippen und öffnete die Tür.

»Ravic«, sagte Joan aus dem Dunkel. »Der Calvados steht auf dem Tisch am Fenster.«

Er blieb stehen. Er merkte, daß er in einer Spannung gewesen war. Er hätte vieles nicht ertragen können, was sie gesagt hätte. Dieses war richtig. Die Spannung löste sich zu loser, leiser Sicherheit. »Hast du die Flasche gefunden?« fragte er.

»Das war einfach. Sie stand ja da. Aber ich habe sie geöffnet. Ich habe einen Korkenzieher entdeckt, irgendwo unter deinen Sachen. Gib mir noch ein Glas.«

Er schenkte zwei Gläser ein und brachte ihr eines »Hier...« Es war gut, den klaren Apfelgeist zu spüren. Es war gut, daß Joan das richtige Wort gefunden hatte.

Sie lehnte den Kopf zurück und trank. Das Haar fiel auf die Schultern, und sie schien nichts zu sein als Trinken in diesem Augenblick. Ravic hatte das schon vorher an ihr bemerkt. Sie gab sich ganz hin an das, was sie gerade tat. Es streifte ihn vage, daß darin nicht nur ein Reiz, sondern auch eine Gefahr lag. Sie war nichts als Trinken, wenn sie trank; nichts als Liebe, wenn sie liebte; nichts als Verzweiflung, wenn sie verzweifelte; und nichts als Vergessen, wenn sie vergaß.

Joan setzte das Glas ab und lachte plötzlich. »Ravic«, sagte sie. »Ich weiß, was du gedacht hast.«

»Wirklich?«

»Ja. Du fühltest dich schon halb verheiratet vorhin. Ich mich auch. Vor der Tür verlassen zu werden, ist kein besonderes Erlebnis. Noch dazu mit Rosen im Arm. Gottlob war der Calvados da. Sei nicht so vorsichtig mit der Flasche.«

Ravic goß ein. »Du bist eine großartige Person«, sagte er. »Es ist wahr. Drüben im Badezimmer konnte ich dich nicht besonders ausstehen. Jetzt finde ich dich wunderbar. Salute!«

»Salute!«

Er trank seinen Calvados aus. »Es ist die zweite Nacht«, sagte er. »Sie ist gefährlich. Der Reiz des Unbekannten ist vorbei, und der Reiz des Vertrauens ist noch nicht da. Wir werden sie überstehen.«

Joan setzte ihr Glas nieder. »Du scheinst ja eine ganze Menge darüber zu wissen.«

»Ich weiß gar nichts. Ich rede nur. Man weiß nie etwas. Alles ist immer anders. Jetzt auch. Es ist nie die zweite Nacht. Es ist immer die erste. Die zweite wäre das Ende.«

»Gottlob! Wohin käme man sonst. In irgend etwas wie Arithmetik. Und nun komm. Ich will noch nicht schlafen. Ich will mit dir trinken. Die Sterne stehen nackt da oben in der Kälte. Wie leicht man friert, wenn man allein ist! Auch wenn es heiß ist. Zu zweien nie.«

»Zu zweien kann man sogar erfrieren.«

»Wir nicht.«

»Natürlich nicht«, sagte Ravic, und sie sah im Dunkeln den Ausdruck nicht, der über sein Gesicht flog. »Wir nicht.«