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Nachbemerkung

Die Jahre des Widerstandskampfes gegen den Faschismus und des zweiten Weltkrieges haben in der progressiven Literatur Deutschlands ein bisher vernachlässigtes und mißbrauchtes Genre zu neuen Ehren gebracht — die Anekdote und die Kalendergeschichte.

Die Volksbewegungen im Gefolge der Oktoberrevolution und im Kampf gegen den Faschismus hatten die anonyme Tat und den Heroismus der einfachen Menschen im Gegensatz zu den Handlungen sogenannter großer Männer immer stärker hervortreten lassen. Der antifaschistische Schriftsteller war Chronist, Sammler und Bearbeiter dieser vom Volksmund pointierten und weitergetragenen wahren oder gut erfundenen Episoden, wobei natürlich auch den gut erfundenen Episoden eine gesellschafdiche und politische Wahrheit zugrunde liegen mußte.

So ist auch F. C. Weiskopf zur Anekdote gekommen. In einer Zeit, da der "unterirdische Krieg" nicht nur in Deutschland, sondern auch in vielen anderen Ländern die einzige Form des Kampfes sein konnte, in Tausende von Einzelaktionen, anonymen Heldentaten und einsamen Martyrien aufgesplittert, bot der Bericht, die Skizze, die Kurzgeschichte oft die beste Möglichkeit, um der Welt die Untaten der Faschisten und den Widerstandskampf der Antifaschisten vor Augen zu führen. Die Anekdote trat aus dem Bereich des Bildungswitzes und der Histörchensammlung "großer Männer" wieder in die Nähe der "anonymen Volksgeschichte, der Legende und des Volksliedes", nahm die volkstümlichplebejische Tradition der Kalendergeschichte wieder auf, die in Johann Peter Hebels "Schatzkästlein" einst den Höhepunkt ihrer Entwicklung erreicht hatte. Die Zeit war da, so schrieb Weiskopf in der Notiz zur früheren Ausgabe des "Anekdotenbuches", "die Anekdote in ihrer ursprünglichen Bedeutung wiederherzustellen: als pointiert vorgetragene, merkwürdige (das ist des Merkens würdige) Kurzgeschichte, die Vorgänge, Verhaltensweisen und Charaktere gewissermaßen blitzartig erhellt, dergestalt, daß die Mit- und Nachwelt den Kern eines Menschen, die Quintessenz einer Situation, den Herzpunkt eines gesellschaftlichen oder historischen Zustandes präsentiert bekommt".

F. C. Weiskopf hat die Anekdote einmal das "liebste Kind" seines schriftstellerischen Schaffens genannt. Ständig hat er seine Aufzeichnungen neu überarbeitet, ergänzt und gesichtet. Mehrere Ausgaben und Fassungen sind dem eigentlichen "Anekdotenbuch" von 1955 vorausgegangen, das unserem Taschenbuch unter Hinzufügung neuer Stücke — es handelt sich um die letzten 27 Anekdoten, die, überwiegend aus dem Nachlaß, den Grundstock zu einem zweiten, nun unvollendeten Band ("Das andere Anekdotenbuch") bilden sollten — zugrunde gelegt wurde. Sie gehen zurück auf jene erste Sammlung von Skizzen, Berichten und Kurzerzählungen, die in der Schriftenreihe der "Neuen deutschen Blätter" unter dem Titel "Die Stärkeren" 1934 in Prag erschienen. "Episoden aus einem unterirdischen Krieg" waren hier zusammengetragen, Zeugnisse des antifaschistischen Widerstandes und der Hitler-Barbarei in Deutschland, Geschichten, wie sie von der Zeit selbst geschrieben worden waren. Später erfaßte die Sammlung auch andere Bereiche des antifaschistischen Kampfes: Krieg in Spanien, organisierter Widerstand in der Tschechoslowakei oder in Norwegen, französische Resistance, Vaterländischer Krieg der Sowjetunion. Aus den "Stärkeren" waren die "Unbesiegbaren" geworden; sie erschienen 1945 mit dem Untertitel "Berichte. Anekdoten. Legenden. 1933 bis 1945" im Aurora-Verlag, New York. In der fünf Jahre später erscheinenden Ausgabe "Elend und Größe unserer Tage" ist die Konzentration noch stärker geworden, die Hinwendung zur klassischen Anekdote ist vollzogen, was in dem Band "Das Anekdotenbuch" von 1955, bereichert durch neue Thematik aus der Sphäre des amerikanischen Imperialismus, pointierte Kurzberichte aus dem antiimperialistischen Kampf der Völker und aus dem neuen Leben in unserer Republik, auch im Haupttitel zum Ausdruck kam.

Die Anekdote begleitete das Leben eines Dichters, dessen Schaffen stets mit dem politischen Tageskampf verbunden war. Bevor noch die ersten Romane von ihm erschienen, hatte sich Weiskopf als Mitarbeiter an Zeitschriften, als Publizist bereits einen Namen gemacht. Die zweisprachige Herkunft bestimmte seinen Lebensweg. "Ich bin 1900 in Prag geboren", schreibt Weiskopf in einer autobiographischen Skizze. "In meiner Familie wurde nach dem Vater deutsch, nach der Mutter tschechisch gesprochen. Außerdem noch — weil meine Mutter die Französische Revolution, allerdings auch Napoleon bewunderte — viel französisch. Es war eine Familie aus dem alten Österreich. Im letzten Jahr des ersten Weltkriegs wurde ich von der Schulbank weg "einrückend gemacht", wie es im k. u. k. Militärjargon hieß. Beim Militär wurde ich Sozialist, dank einem ungarischen Leutnant, der mir eines Tages eine Broschüre zeigte und fragte: "Kennst du das?" (Es war Marxens "Lohn, Preis und Profit") und der mir, als ich verneinte, den dienstlichen Befehl gab, Marx zu lesen. Schon nach kurzer Zeit brauchte ich keinen Befehl zur Fortsetzung solcher Lektüre. Nach Kriegsende zurück ins Gymnasium, Beteiligung an der Schülerratsbewegung. Universität, erster Kontakt mit der tschechischen Arbeiterbewegung, Diskussionen und Seminare im "Marxisticke Sdruzeni" und in der "Freien Vereinigung sozialistischer Akademiker", zwei linkssozialistischen Studentenvereinen. Eintritt in die damalige Sozialdemokratie und Anschluß an die Linke innerhalb der Partei. Erlebnis des Gründungskongresses der Kommunistischen Partei im Jahre 1921."

In diese Zeit greift Weiskopf in seinem ersten größeren erzählerischen Werk "Das Slawenlied" von 1931 zurück. "Roman aus den letzten Tagen Österreichs und den ersten Jahren der Tschechoslowakei", so heißt der Untertitel dieses Buches, in dem, noch stark autobiographisch geprägt, das Schicksal eines Menschen des Jahrgangs 1900 aus dem bürgerlichen "deutschen Prag" gestaltet ist, sein Übergang von der bürgerlichen Klasse zum Proletariat. Später, in den Jahren des Exils, nahm Weiskopf dieses Thema wieder auf, er plante einen Romanzyklus "von Krieg zu Krieg", dervon 1913 bis 1939 spielen sollte. Ausgeführt davon sind "Abschied vom Frieden (1913-14)", englisch 1946, deutsch 1950 erschienen, ein Gesellschaftsbild Österreich-Ungarns vor dem Ausbruch des ersten Weltkriegs, und "Inmitten des Stroms (1917)", 1955 veröffentlicht, das die Handlungsfäden des ersten Buches fortführt und die Auswirkungen der Oktoberrevolution auf die habsburgische Monarchie schildert. Dazwischen liegen Werke wie "Lissy oder Die Versuchung" (1937), "Vor einem neuen Tag" (englisch 1942, deutsch 1944), "Himmelfahrtskommando" (englisch 1944, deutsch 1945) und viele Erzählungen, Essays, Reisebücher und Nachdichtungen.

Mit seinem vielfältigen schriftstellerischen Werk, seinem unermüdlichen politischen Kampf ist Weiskopf tief in der Literatur und im öffentlichen Bewußtsein unserer Zeit verankert. Er starb am 14. September 1955. Viele Menschen in vielen Ländern, die er formte, habe er hinterlassen, sagte Stephan Hermlin an seinem Grabe, "und dreißig Bücher, die immer weiter neue Menschen formen werden".