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Königsberg 1945

Der 10. Januar 1945 war ein trüber, von Nebelschwaden verhangener Wintertag. Der Schneefall hatte aufgehört, der scharfe, eisige Ostwind war zur Ruhe gekommen und hatte Ostpreußen, Königsberg und das Frische Haff in eine eisstarrende bizarre Landschaft verwandelt. Auf den Landstraßen nach Westen, nach Elbing, Allenstein, Ortelsburg und Danzig zogen die ersten Trecks von Flüchtlingen zwischen von der Front kommenden und zur Front fahrenden Militärkolonnen in eine unbekannte Zukunft. Nur weg von hier, wohin, das war gleichgültig, nur weg in Sicherheit, ins Überleben, weg von der Vernichtung. Auf Leiterwagen und Handkarren hatte man verladen, was ihnen das Wichtigste war: Bettzeug und Decken, Töpfe und Geschirr, Stühle und Tische, die Standuhr des Großvaters oder ein Teppich, Säcke mit Kohl und Kartoffeln, Holzscheite und Briketts, den alten Herd und Wäsche, Kleidung, Schuhe, das Nötigste, was man zum Leben braucht oder woran das Herz besonders hing. Und zwischen Kisten und Säcken, Möbeln und Kleinkram hockten die Menschen, eingemummt in Decken, Schals um den Kopf gegen die Kälte, hohläugig, hungernd und doch voll Hoffnung, den sicheren Westen Deutschlands zu erreichen. Frauen und Kinder, Greise und Säuglinge. Wer kein Fuhrwerk besaß und kein Pferd mehr, ging zu Fuß, schlang sich um den Körper die Seile, mit denen man die Karren zog, selbst in Kinderwagen schoben sie ihre letzte Habe durch das verschneite Land. Tausende, eine endlose, dunkle Menschenschlange, die sich über die verstopften Straßen quälte, die Angst im Nacken.

An Ostpreußens Grenze stand der Russe. Noch wartend auf den großen Tag, an dem die Winteroffensive die deutschen Fronten aufrollen sollte. Von allen Seiten drangen die Armeen der Amerikaner, Engländer, Franzosen und Russen nach Deutschland vor. Aus Großdeutschland war ein Großkessel geworden, ein Sack, der von Tag zu Tag enger zusammengeschnürt wurde. Der totale Krieg war von Goebbels proklamiert worden. Alle Männer ab fünfzig Jahren, die nicht in kriegswichtigen Betrieben arbeiteten, wurden zum Volkssturm eingezogen, zu einer armseligen Truppe, die einen Wall aus Leibern gegen den Ansturm der feindlichen Divisionen bilden sollte, miserabel bewaffnet, angefeuert mit Parolen, aus denen jeder Denkende heraushören konnte: Das Ende kommt, das Reich muß verteidigt werden. Der Krieg fällt in Deutschland ein. Die meisten Städte lagen nach unfaßbaren Luftangriffen und Bombardements in Trümmern, in Kellern und Ruinen hauste man, in zerfallenen Häusern oder Bunkern. Und doch… für die Flüchtenden aus Ostpreußen war dieser zerbombte Westen die letzte Rettung, eine letzte Möglichkeit, sich zu verkriechen und zu überleben.

Im Führerhauptquartier stand Hitler wie jeden Tag bei der Besprechung zur Lage an der großen Karte auf dem langen Tisch, beugte sich über sie und betrachtete die neu eingezeichneten Linien des Frontverlaufes. Generalfeld marschall Keitel, Generaloberst Jodl und Generaloberst Heinz Guderian berichteten von den Fronten. Hitler, seit dem Attentat des Grafen von Stauffenberg am 20. Juli 1944 zusammengefallen, körperlich ein Wrack, immer öfter von einem Nervenschütteln befallen, von Tag zu Tag immer weniger ansprechbar, ein Mann am Rande der Selbstauflösung, je näher die Front von allen Seiten nach Deutschland vorrückte, hörte wortlos dem Bericht zur Lage zu, den Guderian ihm vortrug.

Es sah trostlos aus. Die Ardennenoffensive des Generalfeldmarschalls von Rundstedt war zum Stehen gekommen, in Ungarn stießen die Russen vorwärts, in Mittelitalien drangen die Briten vor; seit dem 10. Oktober 1944, nach der Eroberung von Riga durch die sowjetischen Armeen, war die gesamte Heeresgruppe Nord eingekesselt; an Ostpreußens Grenze standen im Halbkreis drei russische Fronten bereit zum Av griff; die Bombergeschwader der Engländer und Amerikaner flogen fast völlig unbehindert ins Reich und zerstörten systematisch Städte, Brücken, Eisenbahnlinien und Fabriken. Die Zahl der Bombentoten ging in die Hunderttausende.

Hitler schwieg. Woran dachte er jetzt? An die Flüchtlinge im Schneesturm, an die Ohnmacht, die Armeen der Alliierten aufhalten zu können, an das jetzt sinnlose Opfer von Hunderttausenden Soldaten? War er nicht selbst geflohen? Sein geliebtes Führer-Hauptquartier» Wolfsschanze «bei Rastenburg in Ostpreußen hatte er verlassen müssen, nachdem es unmittelbar von der Roten Armee bedroht war. Jetzt hatte er sein Hauptquartier in Ziegenberg bei Frankfurt aufgeschlagen, hörte das Heulen der Sirenen, wenn die alliierten Bombergeschwader Deutschland zerhackten und die Städte in Flammen untergingen. Woran dachte er?

Guderian erfuhr es sehr schnell.

Nach Abschluß der Besprechung zur Lage holte Guderian eine Liste aus seiner Aktenmappe und sah Hitler sehr ernst an.

«Mein Führer«, sagte er mit fester Stimme.»Um die zukünftige Lage zu verstehen, ist es notwendig, die neuesten Zahlen der Kräfteverhältnisse zu vergleichen. Ich habe hier den neuesten Stand…«

«Mich interessieren Zahlen nicht!«Hitler warf einen kurzen Blick auf Guderian.»Was soll ich mit Zahlen?«

«Mein Führer, wir müssen entscheiden, an welcher Front wir unsere Reserven einsetzen sollen. Die Ardennenoffensive hat uns viel Menschen und Material gekostet, die Munition wird knapp, aus Treibstoffmangel liegen viele Panzer still, der Nachschub kann nicht mehr nach vorn wegen der Luftangriffe. Wir sollten genau überlegen — «

«Wir?!«unterbrach ihn Hitler. Seine Stimme war lauter geworden, schriller, hysterischer.»Wir? Wer ist wir?! Sie, Guderian?!«

Guderian blieb ruhig.»Nach den neuesten Berichten ist es ein Fehler, Truppen aus dem Osten abzuziehen und an die Westfront zu werfen.«

«Ein Fehler?!«Hitlers Stimme schwoll noch mehr an.»Sie lasten mir einen Fehler an?! Keitel, hören Sie das?!«Und dann war er da, der Tobsuchtsanfall, den alle fürchteten und gegen den es keinen Widerstand mehr gab.»Sie brauchen mich nicht zu belehren, Guderian!«schrie Hitler mit sich überschlagender Stimme.»Ich führe seit fünf Jahren die deutschen

Heere im Felde und habe in dieser Zeit soviel praktische Erfahrungen gesammelt, wie die Herren vom Generalstab sie nie sammeln können! Ich bin besser im Bilde als Sie!«

Der ehemalige Gefreite hatte gebrüllt, die Generäle senkten die Köpfe. Nur Guderian ließ sich nicht beeindrucken. Er wartete ab, bis Hitler Luft holen mußte, und las dann aus seinem Papier ungerührt vor:

«Von der Abwehr, Abteilung >Fremde Heere Ost<, ist gemeldet worden, daß die Russen für Mitte Januar eine Großoffensive vorbereiten mit drei Stoßrichtungen auf Ostpreußen, Weichsel, Ukraine. Also die gesamte Front unserer Heeresgruppen Mitte und A. Die russische Überlegenheit beträgt bei der Infanterie das elffache unserer Truppen, das siebenfache bei den Panzern, das zwanzigfache bei der Artillerie…«Guderian machte eine winzige Pause, weil es ihm guttat, diesen Satz zu sagen…»und die Überlegenheit der sowjetischen Luftwaffe zweifelt niemand mehr an!«Das war ein Fußtritt gegen Reichsmarschall Göring, aber Göring war bei dieser Besprechung nicht zugegen.»In Zahlen, mein Führer, sieht die Lage folgendermaßen aus: An der 1200 Kilometer langen Ostfront von der Ostsee bis zum Plattensee in Ungarn haben wir zur Verfügung: 145 Divisionen, Kampfgruppen und Brigaden, hinzu kommen 16 schnelle Verbände, 12 Panzerdivisionen mit 318 Panzern, 616 Sturmgeschützen und 793 Pak. Im Gebiet der Heeresgruppe A meldet Generaloberst Harpe, daß er seinen Frontabschnitt von 700 Kilometern nur mit 137 Infanteristen pro Kilometer halten muß. Die Rote Armee kann pro Frontkilometer aber rund 1500 Infanteristen einsetzen. Die Reserve von Generaloberst Harpe besteht nur aus vier Panzerdivisionen, einer Panzergrenadierdivision und einer gepanzerten Kampfgruppe in Brigadestärke. Sie ist der Rest der aufgeriebenen 10. Panzerdivision.«

Guderian schwieg und sah Hitler an. Das Gesicht des Führers war regungslos, starr, maskenhaft. Auf beide Hände gestützt, starrte er auf die Karte vor sich, als habe er nichts gehört, als sei er mit seinen Gedanken gar nicht mehr im Raum. Er blieb stumm und unbeweglich. Guderian setzte zum letzten Schlag an.

«Mein Führer, die Abwehr kann verbindlich mitteilen: Unseren schwachen Verbänden stehen auf Seiten der sowjetischen Westfront gegenüber: 55 einsatzbereite Armeen, sechs Panzerarmeen, 35 Panzer- und mechanisierte Korps, zusammen 6 289 000 Soldaten! Sechs Millionen, mein Führer! Diesen sowjetischen Verbänden stehen zur Verfügung: 115 100 Geschütze, 15 100 Panzer und Selbstfahrlafetten, 158 150 Kraftfahrzeuge. Die Zahl der Raketenwerfer >Katjuscha<, von uns >Stalinorgeln< genannt, ist dabei nicht erfaßt…«

Der Name Stalin schien Hitler aus seiner Starrheit aufzureißen. Sein Kopf zuckte nach hinten, die Hände schnellten zur Brust empor und ballten sich.»Zahlen!«brüllte er.»Zahlen! Nichts als Zahlen. Der deutsche Soldat ist zehnmal mehr wert als ein Russe! Wir haben unsere >Tiger<, >Panther< und >Königstiger<, wir haben das neue Sturmgewehr 44, das beste Maschinengewehr der Welt — das MG 42 —, wir haben unsere Sturmgeschütze und wir haben den Heldenmut des deutschen Soldaten, der weiß, daß er sein Vaterland verteidigen muß, seine Frauen und Kinder, Mütter und Väter und die Zukunft des Reiches! Was sind dagegen Zahlen?! Wo haben Sie diese Zahlen überhaupt her, Guderian?!«

«Von der >Abteilung Fremde Heere Ost< der Abwehr, mein Führer. Die Zusammenstellung hat General Gehlen besorgt!«»Gehlen! Gehlen! Immer dieser Schwarzseher! Dieser Jongleur mit Utopien! Ich will Ihnen sagen, was ich von diesen Zahlen halte: Das ist der größte Bluff seit Dschingis-Khan! Wie kann man einen solchen Blödsinn ausgraben? Ihn für wahr nehmen?! Und Gehlen fällt darauf herein! Ich nicht, Guderian, ich nicht! Aber sprechen Sie es aus: Was folgern Sie daraus?!«

«Die Räumung Kurlands und die Öffnung des Kessels um die Heeresgruppe Nord, Schaffung von Abwehrschwerpunkten im Räume Litzmannstadt und Hohensalza, Verstärkung der Ostfront von Ostpreußen bis zur Ukraine durch Verlegung von Verbänden aus Norwegen und der Westfront und Zurücknahme des Frontbogens zwischen Radom und Kielce. Eine sowjetische Großoffensive zielt auf eine Zangenbewegung ab, die ganz Ostpreußen, Polen und Pommern einkreisen soll.«

«Sagt Gehlen?!«schrie Hitler.

«Sagt uns die Lage, mein Führer.«

«Nein! Nein! Nein!«Hitler stampfte mit den Stiefeln auf, ein wildes Zucken lief über sein Gesicht, ein erschreckender Anblick, aber die Generäle hatten sich schon daran gewöhnt. Nur Keitel sah Guderian böse an.»Sie alle erkennen nicht die Wahrheit! Die Ostfront steht! Im Westen brauchen wir einen Riegel! Im Westen! Nicht ein Soldat wird aus der Westfront abgezogen! Bin ich denn der einzige, der die Lage richtig überblickt?!«

«Wie Sie befehlen, mein Führer. «Guderian packte seine Unterlagen in die Ledermappe, grüßte mit dem Hitler-Gruß und verließ das Zimmer. Er war der einzige Generalstabschef des Heeres, der es bisher gewagt hatte, Hitler die Wahrheit zu sagen.

Der Wehrmachtsbericht an diesem 10. Januar 1945 lautete lapidar:

«Von der übrigen Ostfront werden keine Kämpfe von Bedeutung gemeldet.«

So war die Lage, als Jana Petrowna an ihrem freien Abend das Städtische Krankenhaus verließ, um Michael Wachter zu besuchen. Zu Oberschwester Wilhelmi sagte sie, daß sie sich noch einmal den neuen Veit-Harlan-Film Kolberg anschauen wollte mit dem unvergleichlichen Horst Caspar als Gneisenau und dem Schauspielerheros Heinrich George.

Wachter wohnte jetzt in einem Kellergewölbe des langgestreckten Nordflügels des Königsberger Schlosses neben den Kellern der Schloßgaststätte» Blutgericht«, ein in ganz Europa berühmtes Lokal, das der Weingroßhändler David Schindelmeißer gepachtet und umgebaut hatte. Früher waren die Keller Gefängnis, Gericht, Folterkammer und Hinrichtungsstätte der Ordensritter gewesen, woran der Name» Blutgericht «erinnerte. Unter Schindelmeißers Hand wurden sie zur bevorzugten Gaststätte des ostpreußischen Landadels, die Junker hatten hier ihre Stammzimmer, und aus allen Ländern kamen die Reisenden herbei, um mit einem leisen Grauen im Nacken in Gewölben zu essen und zu trinken, wo einst die Gefolterten schrieen, während ihnen auf den Streckbänken die Glieder ausgerissen wurden. Auch Gauleiter Koch saß gern im» Blutgericht«, trank einen schweren Rotwein und gab seine bombastischen Sätze von sich.

Das Schloß von Königsberg… es gab es nicht mehr.

Es begann damit, daß im Frühjahr 1944 in der zweiten Etage ein Brand ausbrach. Dort hatte Koch zusammen mit dem Generalfeldmarschall von Küchler eine Ausstellung eröffnet, die eine einzige antisowjetische Hetze war. Das Bild des slawischen» Untermenschen «sollte sich so in den Köpfen der Deutschen festsetzen. Aber obwohl das Schloß Tag und Nacht von Soldaten bewacht wurde und es sogar eine Brandwache gab, die innerhalb des Schlosses alle Räume kontrollierte, gelang es unbekannten Nazi-Gegnern, diese Ausstellung kurz nach ihrer Eröffnung in Flammen aufgehen zu lassen.

Koch tobte, sorgte dafür, daß die Wehrmachtswache sofort an die Front verlegt wurde, und rief dann Museumsdirektor Dr. Findling, Michael Wachter und den Stadtkommandanten zu sich.

«Es ist eine Sauerei!«schrie Koch.»Unter meinen Augen, im bewachten Schloß, tummeln sich Terroristen! Aber das schwöre ich jetzt: Es werden andere Saiten aufgezogen! Hier wird nach meiner Melodie getanzt!«

Nach einer Stunde Beschimpfung verließ der Stadtkommandant bedrückt das Amtszimmer des Gauleiters. Zurück blieben Dr. Findling und Wachter; sie warteten, bis Koch seinen wildesten Zorn mit einem tiefen Schluck Kognak gemäßigt hatte.

Das Feuer, im zweiten Stock gelegt, hatte die darüber liegende Gemäldesammlung und das Bernsteinzimmer nicht gefährdet. Als Koch es sofort nach der Löschung des Brandes mit Findling und Wachter besichtigte, lag nur ein weißer Belag über den Wandtafeln. Wachter, der zur Zeit des Feuers wie immer im Bernsteinzimmer gesessen hatte, hustete noch von dem Qualm, der in das Zimmer gedrungen war.

«Man kann es leicht abwischen, Gauleiter«, sagte er und rieb mit dem Ärmel über die Mosaike.»Niederschlag des Rauches ist es. Welch ein Glück haben wir gehabt.«

«So ist es. «Dr. Findling hatte Gauleiter Koch schon auf dem Weg zur dritten Etage beruhigt, aber jetzt erst atmete Koch sichtbar auf.»Aber man soll sich nie auf das Glück verlassen. Ich weiß nicht, wer es gesagt hat, aber der Mann hatte recht: Das Glück ist eine Hure!«

«Das könnte von mir sein!«Koch lachte kurz auf.»Was wollen Sie damit andeuten, Dr. Findling?«

«Deutschland befindet sich nach einem Angriffskrieg im Abwehrkampf…«

«Findling, hoffen Sie nicht darauf, daß meine Ohren Ihnen gegenüber immer taub bleiben. «Koch sah Dr. Findling freundlich, aber tadelnd an.»In einem Krieg geht es hin und her… bis zum Endsieg! Denken Sie an Friedrich den Großen. Nach der Niederlage bei Kunersdorf gab keiner mehr einen Heller für ihn, Preußen schien am Ende. Und was kam dann? Leuthen! Und Preußen strahlte heller denn je! Warum? Weil Friedrich nie aufgab! Und so ist auch der Führer… er gibt nicht auf, Rückschläge machen ihn nur stärker, und eines Tages haben wir unser Leuthen: den Endsieg!«

«Immerhin wäre es möglich, Gauleiter, daß sich die Luftangriffe auf den Westen auch nach Ostpreußen ausdehnen«, sagte Findling vorsichtig.

«Sollen sie kommen! Wir holen sie vom Himmel!«

«Aber Bomben können sie trotzdem werfen. Und wenn nur eine Bombe das Schloß trifft, hier diesen Flügel, die dritte Etage…«

Koch starrte Dr. Findling an. Er verstand ihn sofort, und er begriff auch sofort das Unvorstellbare, das dann geschehen würde. Auch Wachter war plötzlich wie erstarrt und spürte ein Würgen im Hals.

«Das Bernsteinzimmer — «sagte Koch leise.

«Und alle Gemälde.«

«Unersetzbar.«

«Wenn wir sie nicht retten, Gauleiter.«

«Was schlagen Sie vor, Findling?«

«Ich möchte das Bernsteinzimmer wieder abbauen, in Kisten verpacken und in den sicheren Keller des Südflügels einlagern. Nach dem Endsieg-«, Dr. Findling machte eine bedeutungsvolle Sprechpause,»- nach dem Endsieg kann es dann leicht wieder aufgebaut werden, wenn es nicht nach Linz transportiert wird in das Führer-Museum.«

«Es bleibt hier!«Koch zeigte mit beiden Händen auf den Fußboden.»Hier in Königsberg. Ich werde das bei Bormann und dem Führer durchboxen. «Er sah sich um, drehte sich einmal um sich selbst, und man sah, wie seine Augen vor Stolz leuchteten.»Ausbauen also, Findling?«

«Ja. Alle Wandtafeln sind jetzt so angebracht, daß man sie ohne Schwierigkeiten abnehmen kann. Bei den Girlanden und Sockeln ist es das gleiche. Der Ausbau in Puschkin war wesentlich schwieriger. Rastrelli hatte sie mit der Wand fest verbunden.«

Koch wandte sich zur Seite und streckte den Zeigefinger nach Wachter aus.

«Und was ist Ihre Meinung, Wachter? Sie sind ja fast selbst ein Stück Bernstein… würden Sie sich in einen Keller einschließen lassen?«

«Um zu überleben… jederzeit, Herr Gauleiter.«

«Dann halten wir es so. Dr. Findling, Sie haben meine Genehmigung, das Bernsteinzimmer in Sicherheit zu bringen, wo immer Sie es für sicher halten.«

Das war ein kluges Wort gewesen.

In aller Eile wurden die herrlichen Vertäfelungen, Schnitzereien, Sockel, Figuren, Masken, Mosaiken, Engelsköpfe und Friese herausgenommen und in 25 Kisten verpackt. Wachter hatte die Verantwortung übernommen, daß nichts beschädigt wurde, aber trotzdem war Dr. Findling jeden Tag mehrere Stunden im Saal, um diesen Kunstschatz zu überwachen. Dabei sagte er einmal:»Die Schäden, die das Zimmer in Puschkin durch unsere Truppen bekommen hat, haben wir alle ausgebessert, Michael. «Im Laufe der Monate hatte er sich angewöhnt, zu Wachter Michael und Sie zu sagen, eine Vertrautheit, die beweisen sollte, welch eine große Meinung er von Wachter hatte und wie eng er ihm verbunden war in ihrer gemeinsamen Liebe zum Bernsteinzimmer.»Sie wissen, daß wir uns fürchterlich geärgert haben über diesen, sagen wir es offen unter uns, Vandalismus deutscher Soldaten. Man konnte schamrot werden. Aber eins geht mir nicht aus dem Kopf, und wir haben seltsamerweise nie darüber gesprochen: Aus der vierten Wandtafel war ein kleiner Engelskopf herausgebrochen. Erinnern Sie sich, Michael? Und wenn ich alte Fotos mit der Lupe betrachte, diese kleine kahle Stelle war immer zu sehen, war immer vorhanden. Nie hat jemand versucht, den Engelskopf neu zu schnitzen und einzusetzen. Auch Sie nicht, Michael. Und auch Ihr Vater nicht. Haben Sie dafür eine Erklärung?«

«Er wurde nie ersetzt, Doktor. Und als ich sah, daß Sie den Engelskopf nachschnitzen ließen und in die leere Stelle einsetzten, habe ich nichts gesagt, aber ich war wie gelähmt.«»Michael! Was ist denn mit Ihnen?!«Dr. Findling blickte Wachter verwirrt an.»Sie werden ja ganz bleich.«

«Dieses kleine Loch in der vierten Tafel war für uns wie eine Reliquie. Für uns Wachters, nur für uns. Mein Vorfahr Friedrich Theodor Wachter, der erste Betreuer des Bernsteinzimmers, hatte den Engelskopf herausgebrochen, um ihn dem Zar Peter dem Großen in den Sarg zu legen. Das war am 28. Januar 1725 in St. Petersburg. Es war einer der letzten Wünsche des Zaren: Ein Stück vom Bernsteinzimmer auf seiner Brust, um es mitzunehmen in die Ewigkeit. Er starb, bevor mein Vorfahr ihm den Engelskopf bringen konnte. Er hat ihn zwei Tage nach der Beerdigung am Ufer der Newa eingegraben, an der Stelle, wo der Zar am liebsten stand und über seine herrliche Stadt blicken konnte.«

Wachter senkte den Kopf, und auch Dr. Findling war erschüttert. Sie schwiegen eine ganze Weile, bis Findling sagte:»Michael, das hat niemand gewußt. Ich verspreche Ihnen: Wenn wir das Bernsteinzimmer wieder aufstellen, entferne ich den nachgemachten Engelskopf. Der >Zarenfleck<, nennen wir ihn so, soll bleiben.«

«Danke. «Wachter wischte sich mit beiden Händen über die Augen.»Danke, Dr. Findling. Sie sind einer der wenigen, die das verstehen.«

Wie nötig der Abbau des Bernsteinzimmers war, erkannte man in der Nacht vom 29. zum 30. August 1944. Bombergeschwader der anglo-amerikanischen Luftwaffe erschienen über Königsberg. Ein verheerendes Bombardement begann, die Stadt ging in Flammen auf, Flak und Nachtjäger schossen vergeblich in diesen dichten Schwärm hinein. Ais dem Nachthimmel regnete es Tod und Zerstörung. Sprengbomben, Luftminen, Brandbomben und Phosphorbomben entfachten eine Gluthölle. Am Morgen des 30. August 1944 gab es das alte Königsberg nicht mehr.

Das Schloß der Ordensritter, der Stolz der Stadt, war in einer einzigen Nacht fast völlig zerstört worden. Rauchende Ruinen blieben zurück, zerplatzte Mauern, eingestürzte Türme, zerfetzte Gebäudeflügel… das Schloß von Königsberg war ein Haufen geschwärzter, verkohlter, zerfetzter Trümmer.

Der Wehrmachtsbericht lautete:

«30. 8. 1944.

In der Nacht führte die britische Luftwaffe erneut unter Verletzung schwedischen Hoheitsgebietes Terrorangriffe gegen Stettin und Königsberg.

Luftverteidigungskräfte schossen bei diesen Angriffen 82 viermotorige Terrorbomber ab…«

Das war alles. Ein paar allgemeine Sätze über die Vernichtung einer Stadt, das Elend von Tausenden, den Tod von Frauen, Kindern und Greisen, über aufgerissene Leiber und Menschen, die in den Kellern erstickten, die verbrannten oder an Lungenriß jämmerlich krepierten.

Gauleiter Koch, aus seinem sicheren Bunker hervorgekrochen, ließ sich sofort zum Schloß fahren, zum Südflügel, der völlig zerbombt war. Er suchte Findling und Wachter und fand sie im Hof des Schlosses, umgeben von Soldaten und polnischen Zwangsarbeitern.

«Das Bernsteinzimmer!«schrie Koch, als er aus dem Wagen sprang.»Was ist mit dem Bernsteinzimmer, Findling, sagen Sie mir die Wahrheit!«

Die Stadt brannte noch, Häuser stürzten in sich zusammen, Bergungstrupps wühlten die Trümmer nach Überlebenden durch. In den Krankenhäusern, in Schulen und Turnhallen lagen die Wimmernden und Sterbenden, arbeiteten die Arzte und Sanitäter, die Schwestern und Freiwilligen und kämpften um jedes Leben.

«Es ist unversehrt, Gauleiter. «Dr. Findling, mit rußgeschwärztem Gesicht, nickte Koch zu.»Die Keller haben gehalten.«

«Das ist Ihr Verdienst, Findling! Ich werde das nie vergessen. «Koch zögerte, dann streckte er Findling beide Hände hin.»Ich danke Ihnen.«

«Das Bernsteinzimmer ist ein Teil meiner Seele, Gauleiter. «Findling wandte sich zu Wachter um. Polnische Arbeiter schleppten gerade die erste Kiste aus dem Keller nach oben in den Schloßhof, begleitet von Wachters Rufen:»Aufpassen! Höher halten! Mehr nach links, ihr Kerle! Links…«

«Was soll denn das?«fragte Koch laut.

«Ich lasse die Kisten in den Nordflügel bringen, Gauleiter. Dort sind sie sicherer. Die Keller des Südflügels sind zwar tief genug, aber die Gewölbe im Nordflügel sind stärker. Die Keller neben dem >Blutgericht< sind die sichersten im ganzen Schloß. Hier kommt die stärkste Bombe oder Luftmine nicht durch. Hier kann es keinen Brand geben.«

«Tun Sie, was Sie für richtig halten, Findling. «Koch blickte auf die erste Kiste, die jetzt auf dem trümmerübersäten Schloßhof stand.»Ich vertraue Ihnen einen der größten Kunstschätze der Welt an. Nach dem Endsieg werde ich Sie dem Führer vorstellen… er wird Ihnen sehr dankbar sein.«

Koch grüßte, stieg in seinen Wagen und fuhr wieder zurück in die brennende Stadt. In das Führerhauptquartier schickte er die Meldung:»Der Einfachheit halber bitte ich Sie, dem Führer und Reichsleiter Bormann mitzuteilen, daß das Bernsteinzimmer unversehrt geblieben ist.«

Es war selbstverständlich, daß Wachter nach dem Transport des Bernsteinzimmers in die Gewölbe des Nordflügels einen Keller weiter als neue Wohnung bezog. Seine bisherige Wohnung war bis auf die Grundmauern zerstört worden, nichts fand er von ihr wieder als eine kleine, aus Messing gehämmerte, dreiteilige Reise-Ikone, die Zar Peter. 1720 seinem heimlichen Freund Friedrich Theodor Wachter geschenkt hatte. Seitdem war sie von Generation zu Generation vererbt worden, hatte in der» schönen Ecke «auf einem Holzbord gestanden, wo sonst das Kruzifix hing, und Julius Wachter, der Sohn Friedrichs, der Medicus und Bernsteinzimmerverwalter unter den drei Zarinnen Anna, Elisabeth und Katharina EL, hatte auf der Rückseite eingravieren lassen:»Möge der Segen uns alle erleuchten und beschützen, solange es Tag und Nacht wird auf dieser Erde. Petersburg, den 20. Mai 1766, unter der Güte der großen Katharina.«

Der Segen war geblieben… Wachter fand die Ikone unter den Trümmern seines Kleiderschrankes, geschützt von den Fetzen eines Anzuges, als habe eine göttliche Hand sie unter den Stoff gesteckt.

Die Kellerwohnung war bombensicher, aber kalt. Die dicken Mauern atmeten noch immer den Moder der Jahrhunderte aus. Drei Öfen ließ sich Wachter bringen, ein breites Bett mit dicken Daunendecken, einen Tisch, vier Stühle, einen Waschtisch, einen Schrank, einen Spiegel, einen Kohleherd, für dessen Abzugsrohr vier Tage lang ein Loch in das Gemäuer geschlagen werden mußte, ein paar Töpfe, Geschirr und Bestecke, einige Gläser, einen Teppich aus Kokosfasern, eine Lampe für die Decke und zwei für den Tisch. Das war alles, was man ihm aus dem Versorgungslager gab, und auch nur, weil er ein Schreiben des Gauleiters vorwies:»… dem Michael Wachter ist jede Hilfe zu gewähren…«

Ein Feiertag war's, als polnische Arbeiter auf einem Handwagen ein richtiges Sofa brachten, ein Sofa mit grünem Plüschbezug und geschnitzten Lehnen, wie es millionenfach in deutschen Zimmern stand. Es war ein Geschenk von Kochs Intimus Bruno Wellenschlag, der nun, zum Gauhauptamtsleiter befördert, verantwortlich war für die Zuteilung an Mobiliar für ausgebombte Volksgenossen. Und auch zwei Bilder schickte Wellenschlag neben dem Sofa zur Verschönerung der Kellerwohnung mit. Das berühmte Hitlerbild, das den Führer in Uniform und Wettermantel zeigte, den Kragen hochgeschlagen, den festen Blick in die Ferne, in die Zukunft gerichtet, und eine Reproduktion des Gemäldes von Menzel: Das Flötenkonzert von Sanssouci.

Sans souci… ohne Sorgen. Welch bittere Ironie!

Wohin mit Hitler, fragte sich Wachter, als er das große Führerbild vor sich stehen hatte. Dort an die Wand? Ihn immer ansehen müssen, Tag und Nacht, bei jeder Bewegung, bei jedem Tun? Es beherrschte das Zimmer. Wohin mit ihm?

Den Menzel hing er über dem Sofa auf. Den Führer nagelte er draußen an seine Tür. Als Dr. Findling ihn das erste Mal im Keller besuchte und sarkastisch sagte:»Ist hier das Führerhauptquartier?«, antwortete Wachter:»Es ist mir eine Freude, ihn von hinten zu sehen. Die anderen sollen denken, ich folge ihm. Jedem das Seine…«

An diesem 10. Januar 1945 nun besuchte Jäna Petrowna ihr» Väterchen«.

Glücklich war sie, fröhlich, himmelhochjauchzend, die Welt umarmend, stürzte fast in den Kellerraum hinein, fiel Wachter um den Hals, küßte ihn und drehte sich mit ihm im Kreise. Den ganzen Tag hatte sie im Krankenhaus gearbeitet, Listen und Berichte geschrieben, Formulare ausgefüllt und Oberschwester Frieda Wilhelmi auf dem Kontrollgang durch die Stationen begleitet. Die Schreibmaschine beherrschte sie jetzt vollkommen, schrieb blind und schnell, wie ein Maschinengewehr ratterte es, wenn sie Briefe oder Mitteilungen tippte, und Frieda, der Fleischturm mit dem menschlichen Gesicht, gewöhnte sich an ihre Mutterrolle so sehr, daß sie Jana wie eine Tochter liebte. Alle Mutterliebe, die sie nie hatte geben können, schüttete sie über Jana aus. Mit einem Donnerschlag hatte sie dafür gesorgt, daß der flotte Dr. Hans Phillip, nachdem er Jana in einer Abstellkammer bedrängt und ihr das Kleid zerrissen hatte, von Königsberg nach Elbing versetzt wurde. Nach der Drohung, alles hinzuschmeißen und mit ihrem» Töchterchen «nach Berlin zu ziehen, war der Krankenhausleitung gar nichts anderes übriggeblieben. Das war 1943 gewesen, und seitdem gab es niemanden mehr, der Jana Petrownas Gegenwart als ungewöhnlich empfand. Auch der Personalchef schwieg… sie war die einzige Schwester ohne Papiere. Eigentlich ein Nichts, ein Phantom, das auf der Lohnliste stand.

Seit 1943 hatte Jana eine Freundin, die Sylvie Aarenlund hieß und in Schweden geboren war. Sie studierte in Uppsala Kunstgeschichte, interessierte sich vor allem für ostasiatische Kunst und war 1943, als Bürgerin eines neutralen Landes, nach Königsberg gekommen, um sich an der Universität als Gasthörerin weiterzubilden.

Zum ersten Mal trafen sich Jana und Sylvie im Schloß, in der Gemäldegalerie und dann im Bernsteinzimmer, das Dr. Findling damals zur Besichtigung für alle freigegeben hatte. Jana fiel auf, daß das blonde Mädchen nicht wie andere Besucher einen Rundgang an den Bernsteinwänden entlang machte, sondern oft stehenblieb, einzelne Mosaike betrachtete und sich dann sogar auf einen der Stühle setzte, die zum Ausruhen im Zimmer standen. Wachter, der eine Gruppe Schüler mit ihrem Lehrer herumführte und die Geschichte des Bernsteinzimmers erzählte, beachtete das Mädchen nicht. Er wunderte sich nur bei einem schnellen Seitenblick, daß Jana, die ihn an diesem Nachmittag besuchte, mit der jungen Besucherin sprach.

«Das Zimmer interessiert Sie?«hatte Jana das Mädchen angesprochen. Und in akzentfreiem Deutsch hatte Sylvie geantwortet:

«Es ergreift mich. Verstehen Sie, was ich meine? Ich bin nicht fasziniert von diesem einmaligen Kunstwerk… das wäre zu wenig. Es… es dringt mir ins Herz…«

«Mir geht es genauso. Manchmal bin ich wie betäubt von soviel Schönheit.«

«Sie sind Krankenschwester, wie ich an Ihrer Tracht sehe.«»Ja. Hier im Krankenhaus.«

«Stammen Sie aus dem Baltikum? Sie sprechen ein hartes Deutsch.«

«Ich bin in Masuren geboren. «Die alte Lüge, die ein gutes Schutzschild war.»In einem kleinen Dorf bei Lyck.«

So begann eine Freundschaft. Sylvie und Jana fanden sich sofort sympathisch, verabredeten sich zu einem Kinobesuch, und — als sei sie wirklich eine brave Tochter — nahm Jana die neue Freundin eines Tages auch mit ins Krankenhaus und stellte sie Frieda Wilhelmi vor.

«Sie ist ein nettes Mädchen«, sagte Frieda am Abend, als sie wie immer zusammen am Tisch saßen und aßen, was ihnen vom Arztkasino gebracht worden war.»Es freut mich, daß du endlich eine Freundin hast und nicht immer allein ausgehst oder hier herumsitzt. Das heißt nicht — «Frieda hob den Zeigefinger, — »daß ihr nun zu zweit herumflitzt und den Männern die Köpfe verdreht. Ich passe weiter auf dich auf, Tochter.«

Es wurden schöne Wochen. Im Sommer fuhren sie hinaus zur Nehrung und badeten in der Ostsee, mieteten sich ein Segelboot und segelten im Haff, und es zeigte sich, daß Sylvie eine erfahrene Seglerin war und jede Windsituation meisterte. Im Winter liefen sie Schlittschuh im Eisstadion, auf dem gefrorenen Haff oder am Ufer der Pregel, tranken Glühweinersatz, teilten die mitgenommenen Butterbrote miteinander, wobei Sylvies Schnitten immer besser belegt waren, da sie aus Schweden Freßpakete erhielt… wie Schwestern wuchsen sie zusammen, und es gab nichts, was zwischen ihnen ein Geheimnis war.

Das änderte sich im Sommer 1944.

Jana, die von Sylvie einen Schlüssel zu deren kleiner Wohnung in einem Vorort von Königsberg erhalten hatte, kam an diesem Abend unverhofft zu Besuch. Sie hatte von Frieda unerwartet frei bekommen, war mit der Straßenbahn hinausgefahren, schloß leise die Wohnungstür auf, um Sylvie zu überraschen, und stand plötzlich im Zimmer.

Von einer Sekunde zur anderen wie versteinert, blieb Jana in der Tür stehen. Sylvie saß in einem Sessel, tief über einen schmalen Kasten auf ihrem Schoß gebeugt. Ein Kabel verband den schwarzen Kasten, an dem einige Knöpfe und Schalter waren, mit einem Kopfhörer, den sie übergestülpt hatte. Angestrengt schien sie auf etwas zu lauschen, schaltete dann um und tippte mit dem Mittelfinger auf eine Taste. Es klapperte leise… kurz, lang, kurz, kurz… und irgendwo saß jemand anderer und nahm die Zeichen auf.

«Guten Abend, Sylvie…«sagte Jana laut.

Sylvie fuhr entsetzt hoch, schaltete das Gerät aus, riß den Kopfhörer herunter, griff zur Seite und ließ die Hand hochschnellen. Ihre Finger umklammerten eine Pistole, die sie jetzt auf Janas Brust richtete.

«Jana, mein Gott, Jana, das hättest du nicht tun dürfen«, flüsterte sie mit erstickter Stimme.»Jana… jetzt… jetzt muß ich dich erschießen… Rühr dich nicht von der Stelle! Jana… warum hast du nicht angeklopft?«

«Ich wollte dich überraschen. «Jana starrte auf die Pistole. Der Lauf zeigte genau auf ihr Herz.

«Das ist dir gelungen. Und… ich muß dich töten. Ich muß…«»Du hast ein Funkgerät, Sylvie…«

«Ja.«

«Du gibst Nachrichten durch…«

«Ja.«

«Du bist eine Spionin…«

«Ihr nennt es so… Ich kämpfe gegen dein Deutschland, gegen den Faschismus, gegen den Krieg, gegen euren verdammten Führer… ich kämpfe für Freiheit und Frieden.. «

«Und du… du heißt auch nicht Sylvie Aarenlund…«

«Doch. Das ist mein richtiger Name. Aber was sind Namen?«Sie hielt die Pistole immer noch auf Janas Brust, den Finger am Abzug leicht gekrümmt. Nur eine winzige Krümmung mehr, und es gab Jana Petrowna nicht mehr.»Wir sind eine kleine Gruppe von Antifaschisten. Ich melde ihnen, was ich hier sehe, und sie unterrichten mich, was sie aus Rußland hören. Über unsere Gruppe läuft ein direkter Kontakt zum NKWD in Leningrad. «Sie atmete tief durch, hob die Pistole höher und zielte.»Jetzt weißt du alles, Jana… ich muß schießen. Versteh mich… ich muß!«

«Du erschießt eine Freundin, Sylvie — «

«Ich muß!« rief Sylvie voller Qual.»Ich kann jetzt doch nicht anders. Ich darf keinen Mitwisser haben!«

«Aber eine Mitkämpferin… ist das auch verboten?«Jana kam ins Zimmer und sah, daß der Lauf der Pistole jeder ihrer Bewegungen folgte.»Sieh mich nicht so ungläubig an, Sylvie. Du hattest dein Geheimnis, ich habe mein Geheimnis… beide bedeuten den Tod! Ich bin keine Rote-Kreuz-Schwester.«

«Das sagst du jetzt nur!«Sylvie hielt die Pistole in Augenhöhe, während Jana mit beiden Händen durch ihr Haar fuhr. Die Schwesternhaube hatte sie vom Kopf gerissen und auf den Boden geschleudert.»Damit kannst du dich nicht mehr retten,«

«Ich bin auch nicht in Lyck geboren, sondern in Leningrad. Ich bin eine Russin und heiße richtig Jana Petrowna Rogowska-ja.«

Ganz langsam ließ Sylvie ihre Waffe sinken.»Wie… wie willst du das beweisen?«sagte sie gepreßt.

«Kannst du russisch?«

«Ja.«

«Ich bin in der Uniform der Rote-Kreuz-Schwester bei Puschkin von den deutschen Truppen überrollt worden und bin seitdem Deutsche«, sagte sie auf russisch.»Niemand hat mich gefragt… die Schwesterntracht allein genügte. Ich gehöre zur Bewachung des Bernsteinzimmers… der Verwalter, Michael Wachter, ist mein zukünftiger Schwiegervater. Sein Sohn N-kolaus kämpft in Leningrad gegen die Deutschen… Nikolaj Michajlowitsch Wachterowskij. Bei Beginn der Blockade war er in der Eremitage beschäftigt. Ich weiß nicht, ob er noch lebt, ob er die neunhundert Tage Hunger und Sterben überlebt hat, neunhundert Tage Hölle, bis unsere Rote Armee die deutschen Truppen zurückdrängte und Leningrad befreite. Ich habe keine Nachricht von ihm, wie auch? Woher? Sylvie, ich lebe hier ein anderes Leben, genau wie du… Glaubst du mir?«»Ja. «Sylvie ließ die Pistole sinken.»Ich glaube dir. Mein Gott, ich hätte dich erschossen, erschießen müssen… meine beste, einzige Freundin.«

«Ich verstehe es, Sylvie.«

«In welch einer gnadenlosen Zeit leben wir!«

Sie ließ das Funkgerät auf den Sessel gleiten, sprang auf, umarmte Jana, zog sie an sich und küßte sie nach alter Russenart dreimal auf die Wangen. Und plötzlich weinte sie, die Nervenanspannung löste sich und wurde zum Schluchzen. Die Erkenntnis, daß sie Jana wirklich erschossen hätte, ließ sie fast zusammenbrechen.

Von diesem Tag an gab es nichts, was Sylvie und Jana hätte trennen können. Manchmal saß Jana neben ihr, wenn sie mit ihrer Gruppe den Funkverkehr aufgenommen hatte und die Truppenteile durchgab, die Königsberg verließen oder in Königsberg einmarschierten. In Leningrad war man so über alle Truppenbewegungen der deutschen Armeen unterrichtet, über ihre Ausrüstung, über die Zahl von Artillerie und Panzer und über die Züge, die Verpflegung und Munition in die Stadt brachten. Jana half mit, indem sie wiedergab, was ihr die verwundeten Soldaten im Krankenhaus von der Front erzählten, von Munitions- und Spritmangel, von der Stimmung in der Truppe, von den herumgeisternden Gerüchten, die der Landser» Latrinenparolen «nannte und die doch immer ein Quentchen Wahrheit enthielten. Aus den von allen Seiten hereinkommenden Mosaiksteinchen an Informationen setzte man dann in Moskau das ganze Bild der deutschen Lage zusammen. Ein fast vollkommenes Bild… das langsame, aber unaufhaltsame Sterben des Großdeutschen Reiches. Die Niederlage Hitlers. Das Ende der Naziherrschaft. In Moskau wußte man mehr als der Großteil der deutschen Bevölkerung. Man kannte die Wahrheit… wer in Deutschland wußte von ihr? Die Wahrheit über Sylvie erfuhr ein paar Tage später auch Wachter. Er nahm sie sehr vorsichtig auf, prüfte das hübsche blonde Mädchen, sprach mit ihr russisch, nahm einmal teil an dem Funkverkehr mit Schweden und las die Notizen, bevor Sylvie sie verbrannte.

«Sag ihnen — «, meinte eines Abends Wachter zu Sylvie,»-daß das Bernsteinzimmer unversehrt und gut bewacht ist. Sie sollen es nach Leningrad weitergeben, zum Direktor der Eremitage. Und eine große Bitte habe ich«, er sprach jetzt wieder russisch,»die Bitte eines Vaters. Frag sie, ob sie mein Söhn-chen gesehen haben, ob sie wissen, ob er noch lebt oder ob er gefallen oder verhungert ist. Hat er an der Front gekämpft, oder ist er auf der Straße erfroren wie all die Hunderttausenden in Leningrad. Lebt er noch… wo ist er dann? Sylvie, kannst du das fragen? Ein Vaterherz kannst du von vielen Zweifeln und großer Not befreien. Auch Jana zittert um Nikolaj. Frag sie… frag sie… bitte…«

Sylvie versprach es, aber in Leningrad schwieg man. Wochen gingen dahin, Monate, und immer hatte sie mit den Schultern gezuckt, wenn Jana fragte. Ein zermürbendes Warten war's, bis Wachter sagte:

«Sie finden ihn nicht… auch das ist eine Antwort. Töchterchen, seien wir gefaßt, belügen wir uns nicht selbst. Nikolaj gehört zu den Tausenden Unbekannten, die sie in Leningrad begraben haben. Er ist als Held gestorben… das sei unser Stolz.«

Er entzündete eine kleine runde Kerze in einem Metallschälchen, das die Deutschen» Hindenburglicht «nannten, stellte sie vor die aufgeklappte Reise-Ikone seines Vorfahren Friedrich Theodor und betete zusammen mit Jana Petrowna für das Seelenheil Nikolajs. Jeden Tag erneuerte er die Kerze, ließ das flackernde Lichtchen nie ausgehen. Und als der große Flüchtlingstreck über Oslpreußen hereinbrach, als Tausende Leiterwagen, zweirädrige Karren mit Frauen und alten Männern als Zugtieren und voll bepackte Kinderwagen, Schlitten und sogar Flöße aus Brettern über die vereisten Straßen nach Westen zogen, im Schneesturm steckenblieben, als Tausende am Straßenrand erfroren und dort liegenblieben, weil es sinnlos und hindernd war, die Leichen mitzuschleppen, als von allen zuerst die Säuglinge und kleinen Kinder, die Schwachen und die Greise starben, besorgte sich Wachter kraft seines Gauleiter-Briefes aus der Zentrale für Bombengeschädigte drei Kisten voll» Hindenburglichter«, weil Bruno Wellenschlag sie kontingentierte: Für jede Familie pro Woche zwanzig

Stück.

Drei Kisten… jetzt hatte er genug bis zum Ende des Krieges. Das Ende, das vor der Tür stand, an den Grenzen Ostpreußens und im Westen von Ungarn bis zur Nordseeküste. Eine riesige Zange, die Deutschland zusammenquetschte. Jetzt war es kein Krieg mehr, den Hitler führte… es war ein millionenfacher Mord an seinem eigenen Volk.

Gauleiter Koch empfing alle wichtigen Männer seiner Stäbe, alle Befehlshaber der vielfältigen Organisationen, die Kommandierenden der Truppenteile in und um Königsberg, auch Dr. Findling und sogar Wachter befahl er zu sich in den Saal der Gauleitung.

Vor einer riesigen, an der Wand aufgespannten Hakenkreuzfahne stand er dann in seiner maßgeschneiderten Uniform mit den breiten Breecheshosen, die Beine gespreizt, den Kopf in den Nacken geworfen, vor seinen Satrapen, hielt eine seiner von Führerverehrung triefenden Reden und schrie am Schluß:

«Königsberg bleibt deutsch! Ostpreußen wird nicht geräumt! Der Kampf bis zum letzten Mann ist unsere Pflicht! Es lebe unser Führer Adolf Hitler. Sieg heil!«

Die Anwesenden streckten den rechten Arm empor und brüllten mit. Sieg heil! Sieg heil! Sieg heil!

Auch Wachter hob den Arm und rief mit. Verzeiht mir alle, dachte er dabei. Verurteilt mich nachher nicht, ich tu's für mein Bernsteinzimmer. Der Sieg wird kommen. Er steht schon vor der Tür und holt nur noch tief Atem.

Auf Königsbergs Straßen, an allen freien Wänden, an Ruinenmauern, an Plakatwänden und den Aufbauten der Lastwagen, auf Transparenten und in allen Zeitungen schrien die neuen Parolen auf die Bevölkerung herab. Parolen, die mehr aussagten als jeder Wehrmachtsbericht, jeder Artikel von Goebbels in der Zeitschrift Das Reich, jeder Kommentar im Reichsrundfunk. Aus diesen Parolen schrie der Untergang, den man verleugnen wollte, und die Mächtigen merkten es nicht.

Der Führer erwartet Dein Opfer für Wehrmacht und Volkssturm

Damit Dein Stolz, Dein Volkssturmmann, in Uniform sich zeigen kann, räum Du jetzt Schrank und Truhe leer und bring uns bitte alles her!

Auf zum heiligen Volkskrieg

für die deutsche Heimat und unsere Zukunft.

Unser unbeugsamer Wille: niemals Sklaven des anglo-amerikanischen Kapitalismus, niemals als bolschewistischer Zwangsarbeiter nach Sibirien!

Hitler befiehl… wir folgen Dir!

Die Menschen rannten achtlos an diesen Sprüchen vorbei. Die Furcht um ihr nacktes Leben zerriß ihre Gesichter. Gab es noch ein Entrinnen? Was tat der Russe, wenn er Königsberg erobert hatte? Schlachtete er alles ab, wie die Propaganda behauptete? Selbst Dr. Findling stellte sich diese Frage. Seit dem 3. Januar lebte er allein in einem Keller des» Blutgerichts«; er hatte durch seine Beziehungen erreicht, daß seine Frau mit dem Schiff von Königsberg nach Danzig ausreisen konnte, und hatte dann beim Abschied zu ihr gesagt:

«Martha, weine nicht, ich komme nach, ich versprech es dir. Fahr von Danzig nach Berlin und warte dort auf mich. Und wenn es in Berlin zu unsicher wird, fahr zu deiner Cousine Luise nach Hannover. Irgendwo sehen wir uns wieder, und irgendwie komme auch ich hier heraus, wenn ich weiß, was mit dem Bernsteinzimmer wird.«

«Bernsteinzimmer! Bernsteinzimmer! Immer Bernsteinzimmer! Das verfluchte Bernsteinzimmer!«Sie hatte sich an ihn geklammert, weinend, zitternd, mit beiden Händen seinen Kopf umfassend.»Komm mit, Wilhelm. Komm mit, ich flehe dich an. Willst du dein Leben opfern für das verfluchte Zimmer?«

«Es ist kein Opfer, Martha, es ist ganz einfach Pflichterfüllung.«

«Daß du stirbst wegen ein paar Bernsteinwänden? Das ist doch Wahnsinn, Wilhelm! Ihr habt das Bernsteinzimmer den Russen gestohlen… laß sie es doch zurückerobern.«

«Das verstehst du nicht, Martha. «Er hatte sie bis zum Schiff gebracht und winkte ihr nach, als sie die Gangway hinaufging an Bord. Es war ein ehemaliger Ausflugsdampfer. Fröhliche Fahrt entlang der Ostseeküste. Mit drei Tagen Badeaufenthalt auf Usedom. Im herrlichen Seebad Heringsdorf oder Mistroy. Kraft durch Freude… Jetzt war das Schiff grau gestrichen und sah aus wie ein Hilfskreuzer.

«Wir sehen uns wieder, Liebes…«hatte Findling leise gesagt, als er sie an der Reling stehen sah, weinend, so zart und klein, wie er sie bisher nie gesehen hatte.»Gute Fahrt, mein Liebling… du bist in Sicherheit.«

Dr. Findling hatte nie erfahren, daß zwei Tage später nördlich von Rügenwalde ein sowjetisches U-Boot mit zwei Torpedos das graue Schiff versenkte. Es wurde niemand gerettet.

Heute nun, am 10. Januar 1945, jauchzte und lachte, weinte und schluchzte Jana Petrowna am Hals von Väterchen Michail, schwenkte ihn im Kreis herum und rief dabei immer wieder, obgleich ihr bei jedem Wort die Stimme brach:

«Er lebt! Er lebt! Er lebt! Väterchen, Nikolaj lebt. Nachricht hat er gegeben! Grüßen läßt er uns! Grüßen! In Leningrad ist er noch. In der Eremitage. Er lebt… er lebt… er lebt…«Dann sackte sie zusammen, Wachter trug sie auf das alte Plüschsofa und legte sie hin.

Nikolaj lebt. Gut geht es ihm. Gott, o Gott, wie kann ich Dir danken?! Mein Söhnchen habe ich wieder. Auf die Knie falle ich vor Dir, Allmächtiger, wie hast Du uns gesegnet…

Und er kniete wirklich nieder vor der alten Reise-Ikone aus Messing, vor dem dünn flackernden Flämmchen des Hinden-burglichts, faltete die Hände und betete und war erlöst und glücklich, daß die Tränen über sein Gesicht liefen und sein Herz vor Freude zu bluten schien.

Nikolaj, mein Söhnchen, lebt.

O Herr, wieviel Gnade schenkst Du uns.

Tagesbefehl des Marschalls Tschernjakowskij,

Befehlshaber der 3. Weißrussischen Front, vom 12. Januar 1945

Zweitausend Kilometer sind wir marschiert und haben die Vernichtung all dessen gesehen, was wir in zwanzig Jahren aufgebaut haben. Nun stehen wirvorderHöhle, aus der heraus die faschistischen Angreifer uns überfallen haben. Wir bleiben erst stehen, nachdem wir sie gesäubert haben. Gnade gibt es nicht — für niemanden, wie es auch keine Gnade für uns gegeben hat. Es ist unnötig, von Soldaten der Roten Armee zu fordern, daß Gnade geübt wird. Sie lodern vor Haß und vor Rachsucht. Das Land der Faschisten muß zur Wüste werden, wie auch unser Land, das sie verwüstet haben. Die Faschisten müssen sterben, wie auch unsere Soldaten gestorben sind.

Aufruf des sowjetischen Schriftstellers Ilja Ehrenburg als Flugblatt unter russische Soldaten verteilt.

«Tötet! Tötet! Es gibt nichts, was an den Deutschen unschuldig ist, die Lebenden nicht und die Ungeborenen nicht! Folgt der Weisung des Genossen Stalin und zerstampft für immer das faschistische Tier in seiner Höhle. Brecht mit Gewalt den Rassehochmut der germanischen Frauen! Nehmt sie als rechtmäßige Beute!«

In der Gauleitung rief Gauleiter Koch erneut seine Getreuen, so nannte er sie, zusammen. Mit zitternden Händen hielt er ein Papier vor sich hin, und als er sprach, war seine Stimme rauh vor Erregung.

«General Gehlen von >Fremde Heere Ost< der Abwehr hat uns soeben einen Aufruf des Judenlümmels Ilja Ehrenburg durchgegeben. Alle deutschen Wehrmachtsverbände werden darüber unterrichtet. Der Führer hat befohlen, daß jeder diese widerliche Schmiererei kennt, um endlich klar zu sehen, was uns erwartet, wenn wir uns nicht mit allem Heldenmut dieser roten Mörderflut entgegenstemmen.«

Koch verlas den Aufruf Ehrenburgs wie ein Schauspieler einen dramatischen Text. Den Tagesbefehl des Marschalls Tschern-jakowskij unterschlug er. Als er den Vortrag beendet hatte, warf er das Blatt auf den Boden und stampfte mit den Stiefeln darauf. Die versteinerten Gesichter vor sich nahm er nicht wahr, auch nicht, daß Wachter die Hände gefaltet hatte. Kreisleiter Wagner rückte nervös an seiner Koppel herum. Bruno Wellenschlag schluckte mehrmals, als verstopfe etwas seinen Hals.

«Sie haben es gehört!«schrie Koch mit hochrotem Gesicht.»Das ist ein Aufruf zum Mord! Das ist der Befehl, unsere Frauen zu vergewaltigen! Die bolschewistischen Bestien werden losgelassen! Ein dreckiges Judenschwein will uns den Arsch aufreißen! Männer… es geht jetzt nicht mehr darum, ein Stück Land zu verteidigen. Wir müssen unsere Frauen und Kinder retten! Wir kämpfen bis zum letzten Mann. Sieg heil!«Bevor sie alle den Saal mit der riesigen Hakenkreuzfahne verließen, winkte Koch mit der rechten Hand Dr. Findling und Wachter, zu bleiben. Als sie allein waren, fiel die Maske des Kämpfers für Führer und Volk von Koch ab. Mit verzerrtem Mund, seinen kleinen Schnurrbart streichelnd, kam er auf sie zu.

«Man erwartet jeden Tag den Beginn der großen sowjetischen Offensive«, sagte er.»Heute oder morgen oder übermorgen… länger wird's nicht dauern. Wir alle vertrauen auf unsere tapferen Soldaten, eine Überlegenheit des Feindes hat uns noch nie geschreckt. Nicht 1870/71, nicht im Ersten Weltkrieg und heute schon gar nicht. Trotzdem… Findling, kann mein Bernsteinzimmer sofort verlagert werden?«

Er sagte tatsächlich» mein Bernsteinzimmer«. Dr. Findling starrte ihn an, als traue er seinen Ohren nicht.

«Natürlich wäre das möglich, es kommt nur darauf an, wohin. Man müßte es für einen längeren Transport allerdings neu und besser verpacken.«

«Ich habe darüber nachgedacht. «Koch nahm eine kleine Wanderung vor Dr. Findling auf. Drei Schritte hin, drei Schritte zurück.»Ich habe auch schon mit Gauleiter Mutschmann in Dresden gesprochen. Er hält die Sächsische Schweiz nicht für sicher genug. Eine wirkliche Sicherheit bieten nur Thüringen oder die Salzbergwerke bei Göttingen, das Bergwerk Grasleben oder Merkers in Thüringen. Auch die Salzstollen in der Ostmark wären scher… rund um den Dachstein gibt es Riesenhöhlen, deren Eingang man nach der Einlagerung der Kunstschätze sprengen könnte. Niemand würde erfahren, wo das Bernsteinzimmer hingekommen ist… nur ein paar Eingeweihte. Sie, Dr. Findling, Sie, Wachter, ich und natürlich der Führer und Reichsleiter Bormann. Und noch ein paar andere, die mit dem Transport zu tun haben. Was halten Sie davon?«»Sie glauben, daß der Russe Königsberg erobern wird, Gauleiter?«fragte Dr. Findling.

«Stellen Sie nicht so dämliche Fragen, Mann!«Koch starrte Findling wütend an.»Was ich denke, ist unwichtig. Wichtig ist allein die Rettung der unersetzlichen Kulturgüter. Auch die Rettung vor einer möglichen Gefahr… möglichen Gefahr, sage ich, hören Sie genau zu! Ich bin gewillt, das Bernsteinzimmer, die Ikonensammlung, die russischen Gemälde, die Bibliothek des Zaren Peter und das ganze Silber, alles, was aus Puschkin zu uns gebracht wurde, aus Königsberg wegzuschaffen! Ins sichere Reich! Wie lange brauchen Sie bis zur Transportbereitschaft?«

«Ein paar Tage nur, Gauleiter. «Dr. Findling räusperte sich.»Soll das ohne eine Benachrichtigung des Führers geschehen?«

«Natürlich nicht. Natürlich werde ich den Führer fragen. Auch den genauen Einstellort werden wir dann festlegen. Wichtig ist, daß Sie — «, er sah dabei Dr. Findling und Wachter scharf an,»- sofort mit der Arbeit beginnen.«

Doch das, was zuerst kam, war die Rote Armee.

Am 12. Januar, vor Sonnenaufgang, rollte die größte Offensive an, die jemals in einem Krieg losgeschlagen wurde. Entgegen aller Erwartungen öffneten sich die Schleusen an Mensch und Material nicht an der ostpreußischen Front, sondern weiter südlich, am Weichsel-Brükckenkopf von Baranow. Die 1. Ukrainische Front unter Marschall Konjew, bestehend aus sieben Armeen, darunter drei Garde-Armeen, setzte nach einer heftigen Artillerievorbereitung und Hunderten von Stalinorgeln zum Sturm auf die deutschen, schwach besetzten Stellungen an. Sechzig Infanterie-Divisionen und acht Panzerkorps wälzten sich nach Westen und überrollten wie eine Lawine die Verteidigungslinien der deutschen 4. Panzerarmee. hr Kommandeur, General der Panzer Graeser, hatte es kommen sehen. Seine Meldung an das Führerhauptquartier war knapp: Den sowjetischen Armeen gelang der Durchbruch.

Gleichzeitig begann rund um Ostpreußen, plötzlich wie ein Donnerschlag, ein mehrstündiges, unvorstellbares Artilleriefeuer. Sowjetische Stoßtrupps in Bataillonsstärke rannten gegen die deutschen Linien an, aber es war noch nicht der alles vernichtende Orkan. Es war ein Vortasten, eine Warnung, eine militärische Visitenkarte: Hier sind wir.

Das Oberkommando der Wehrmacht gibt bekannt: 13. 1. 1945 An der Weichselfront hat die lange erwartete Winteroffensive der Bolschewisten begonnen. Nach außergewöhnlich starker Artillerievorbereitung trat der Feind zunächst an der Westfront des Brückenkopfes von Baranow mit zahlreichen Schützendivisionen und Panzerverbänden an. Erbitterte Kämpfe sind entbrannt. Nebenangriffe südlich der Weichsel und im Nordteil des Baranow-Brückenkopfes wurden zerschlagen. Im ostpreußischen Grenzgebiet lag beiderseits der Rominter Heide schweres feindliches Artilleriefeuer auf unseren Stellungen. Zahlreiche bataillonsstarke Angriffe der Sowjets wurden abgewiesen…

Welch karge Worte für Tod und Untergang!

Kaum hatte man im Führerhauptquartier den Schock überwunden, als das eintraf, was General Gehlen rechtzeitig gemeldet hatte und Hitler mit einer Handbewegung als den größten Bluff seit Dschingis-Khan weggewischt hatte: Am Morgen des 13. Januar erhebt sich der russische Riese. Aus dem Raum Pillkallen heraus wird Ostpreußen überrannt. Die 3. Weißrussische Front unter Marschall Tschernjakowskij bricht mit sechs Armeen, zwei Garde-Panzerkorps und einem Gewitter von Artilleriebeschuß über die deutschen Stellungen herein. Ihr Ziel ist offensichtlich: die Zerschlagung der deutschen 3. Panzerarmee und damit die Eroberung des Kuri-schen Haffs. Damit wäre Königsberg nach Norden abgeschnitten worden.

Am gleichen Tag, Samstag, den 13. Januar, bricht der Damm an den beiden Brückenköpfen am Narew: Die 2. Weißrussische Front unter Marschall Rokossowskij ergießt sich über das Land. Sechs Armeen, zwei Panzerkorps, ein Pionierkorps und das berühmte 3. Garde-Kavalleriekorps zermalmen die Stellungen der deutschen 2. Armee unter Generaloberst Walter Weiß. Das große Ziel Rokossowskijs ist Elbing. Gelingt der Durchbruch, ist Ostpreußen ein einziger großer Kessel.

Und dann der nächste Schlag: Am Sonntag, den 14. Januar, trifft Rußlands genialster Heerführer, Marschall Schukow, mit seiner 1. Weißrussischen Front, bestehend aus fünf vollständig aufgefüllten Armeen, darunter die polnische 1. Armee, auf die deutsche 9. Armee. Hier, an den Weichsel-Brückenköpfen Magnuszew und Pulawy, beginnt die Hauptoffensive der Roten Armee: Durchbruch nach Westen und Nordwesten, Zerschlagung der Heeresgruppe A, Zurückeroberung von Polen und das Betreten deutschen Bodens.

Welch ein Ziel: russische Armeen auf dem Marsch nach Berlin.

Die Front der deutschen 9. Armee wird überrannt, die sowjetischen Divisionen strömen nach Westen.

Der» größte Bluff seit Dschingis-Khan «läßt Hitlers Rükken noch runder werden, das Zittern seiner Hände verstärkt sich, sein Gesicht wird fahl und teigig. Generaloberst Guderian empfindet keinen Triumph… er hat nur noch Mitleid mit dem» größten Führer aller Zeiten«.

Deutschland steht auf dem Spiel.

6,2 Millionen russische Soldaten holen zum Gegenschlag aus. In Königsberg wurde fieberhaft gepackt.

Die große, dieses Mal amtlich organisierte Evakuierung der Bevölkerung rollte an. Die Stunde der Kriegsmarine war gekommen. Der Kommandeur des Marineoberkommandos Ost, Generaladmiral Kummetz, übernahm die gesamten Flüchtlingstransporte, an Gauleiter Koch vorbei, der bisher jeden Treck nach Westen einen Verrat am Führer genannt hatte. Alles, was man an Handelsschiffen, Dampfern, seetüchtigen Fahrzeugen, Booten und Kähnen besorgen kann, wird nach Königsberg befohlen. Sogar die bisher als Wohnschiffe benutzten Passagierdampfer und Kriegsschiffe aller Größen laufen aus den Häfen Pillau, Danzig, Gdingen und Kolberg aus, um den Flüchtlingsstrom der Hunderttausenden aufzunehmen und zu retten. 24 Flottillen und 350 kleinere Kriegsschiffe unter dem Befehl von Konteradmiral Butow bilden den Geleitschutz für die Personenschiffe und Handelsschiffe, die restlos überfüllt sind. Wer keinen Platz mehr auf den Schiffen bekommt, zieht auf den Straßen weiter… endlose Schlangen von Menschen und Fahrzeugen, hinein in einen Winter, in einen Frost, der sie zermürbt, bei dem sie unter freiem Himmel kampieren müssen, ohne ausreichende Verpflegung, gejagt vom Artilleriebeschuß der Sowjets, niedergemäht von den Angriffen der Tiefflieger, in die Straßengräben und Felder abgedrängt, wenn Panzer, Lastwagen, Geschütze und Transporter mit Infanterie nach Königsberg hineinjagten oder von Königsberg an die immer enger werdende Einschnürung der Front geworfen wurden.

Gauleiter Koch hatte nur noch einmal Zeit, sich um» sein «Bernsteinzimmer zu kümmern. Die Räumung Oslpreußens, der Verlust seines Reichskommissariats Ukraine, das zügige Vordringen der Roten Armee, der Verluste an Menschen und Panzern nichts auszumachen schien und die aus der Tiefe des Landes immer neue Reserven an die Fronten warf, vor allem aber die Vorbereitungen für seine eigene Flucht nahmen ihn voll in Anspruch.

«Wohin, Gauleiter?«fragte Dr. Findling.»Wohin können wir noch? Wenn der Russe weiter vordringt, gibt es keinen Weg mehr nach Westen!«

«Das Führerhauptquartier ist umgezogen! Es wird jetzt in Berlin eingerichtet. Ich kann weder den Führer noch Bormann erreichen. Findling, wenn ich sehe, daß es keine andere Möglichkeit mehr gibt, bringen wir die Kunstschätze ohne den Befehl des Führers weg! Zunächst nach Thüringen.«

Am selben Tag änderte Koch seinen Plan. Nicht nach Thüringen, teilte er Dr. Findling telefonisch mit, sondern nach Sachsen, nach Wechselburg bei Rochlitz und nach Burg Kriebstein. Gauleiter Mutschmann hatte dort Platz geschaffen. Dreihundert Quadratmeter gut durchlüftete und bombensichere Keller standen dort zur Verfügung.

«Wie kommen Sie voran?«fragte Koch.

«Gut, Gauleiter. Heute Abend sind wir fertig. Wir haben 25 Kisten, große Kisten, neu hergestellt. Zehn Mann haben unter Leitung des Tischlers Mann und des Schlossers Weiß daran gearbeitet. Eine sehr gute Arbeit. Stabilere Kisten sind nicht denkbar. Die Wandtafeln, Köpfe, Girlanden, Gesimse und Sockel sind erschütterungssicher in Steppdecken, Kopfkissen und Federbetten verpackt. Sie stehen jetzt auf dem Hof des Schlosses. In der Nacht werden wir die Gemälde einlösten, die Ikonen und die Silberbibliothek des Zaren Peter. Wir sind morgen zum Abtransport bereit. Wenn bloß kein neuer Luftangriff kommt — «

«Die Transportstaffel steht auch bereit. «Findling hörte, wie Koch erregt keuchte.»Aber ich bekomme den Führer nicht an den Apparat, und auch Bormann ist in der Parteikanzlei nicht zu erreichen. Findling, keine Angst… ich bekomme stündlich die Meldungen von der Front. Wir machen es dem Russen schwer, auf Königsberg vorzurücken…«

«… und uns schwerer, das Bernsteinzimmer zu retten. «Wachter hatte die Kellerwohnung bereits bis auf sein Bett geräumt. Für ihn war es selbstverständlich, daß er den Trans-port, wohin auch immer, begleiten würde. Dr. Findling, der seit acht Tagen zum Volkssturm gehörte und eine alte Uniform trug, aber keine Waffe, getreu des Witzes, den man sich jetzt erzählte: Was ist der Volkssturm? Eine Einheit von drei Mann, der eine trägt den Stahlhelm, der andere das Koppel, der dritte die Panzerfaust… mußte wahrscheinlich noch in Königsberg bleiben, wie Gauleiter Koch, bis zum letzten Mann…

Es war nicht viel, was Wachter mitnehmen wollte: zwei Anzüge, Wäsche, Schuhe, Hemden, das Allernötigste nur, und seine Reise-Ikone in einem mit Samt ausgeschlagenen ledernen Futteral. Die letzten Nächte lag er immer angezogen auf dem Bett, sofort zum Abmarsch bereit.

Die Lazarette und Krankenhäuser von Königsberg quollen nun über von Verwundeten. Was die Landser von der Front erzählten, deckte sich mit dem, was Sylvie jeden Tag über Schweden per Funk erfuhr, was aber in keinem Wehrmachtsbericht stand: Die Truppen des Marschalls Tschernjakowskij brachen in einem weiten Bogen in die deutschen Linien ein. Die deutsche 3. Panzerarmee, allein gelassen gegen sechs sowjetische Armeen in bester Verfassung und mit überlegener Ausrüstung, wurde an vielen Stellen auseinandergerissen. Gumbinnen war schon verloren, Insterburg lag unter einem verheerenden Granat- und Bombenfeuer, Goldap und Lotzen waren verloren, Kraupischken besetzt, aus dem Süden stieß Rokossowskij vor und eroberte Nikolaiken und Ortelsburg. Hunderte schwere Panzer vom Typ T 34 und T 42 rückten unaufhaltsam auf Allenstein und Wartenburg zu. Der Ring um Königsberg schloß sich… nur noch der Seeweg war frei und eine schmale Landverbindung nach Danzig über Heiligenbeil, Braunsberg und Elbing. Eine einzige Eisenbahnlinie und einige wenige Straßen… überfüllt von den Flüchtlingstrecks und Wehrmachtsverbänden, unter Beschuß von Tieffliegern, weittragenden Granaten und einem Bombenregen.

Die schweren deutschen Panzer» Tiger «und» Königstiger«, die sich dem Ansturm der Roten Armee hätten entgegenstemmen können, lagen nach einigen Tagen hilflos herum und wurden sogar wie kleine Festungen eingegraben. Der Sprit war verbraucht, neuer Brennstoff kam kaum durch, die Granaten für die Bordgeschütze wurden gezählt. Auf rätselhafte Weise verschwanden Nachschubzüge mit Munition und Benzin im Nichts. Der Oberquartiermeister der 2. Armee, die den Hauptangriff von Rokossowskijs sechs Armeen auffangen mußte, Oberst Wirsing, verfolgte am Telefon die Meldungen der Stationen, die ein Zug mit Tankwagen, mit dem lebenswichtigen Panzersprit, durchfuhr. Der Zug, der sich über Deutsch-Eylau der verzweifelt kämpfenden 2. Armee näherte. Und plötzlich war dieser Zug verschwunden, wie von Geisterhand weggewischt. Oberst Wirsing verfolgte noch einmal den Weg des Zuges, aber von nirgendwoher bekam er eine Antwort.

Die deutsche Lehrerin Elsbeth Langenbach, die in der deutschen Schule von Unieck unterrichtete und die man bei der kopflosen Flucht der Naziführer» vergessen «hatte, worauf sie auf einem Pferd vierzig Kilometer durch die vorstoßenden sowjetischen Panzerspitzen geritten war, bis sie die Linien der 2. Armee erreichte und zum Generalstab weitergereicht wurde, hörte die verzweifelte Suche nach dem Spritzug mit. Fassungslos sah sie Oberst Wirsing an, als er die Telefonate am Feldtelefon abbrach und resignierend sagte:»Es hat diesen Zug nie gegeben. Es war ein Gespensterzug. Was nützen uns jetzt unsere Panzer…?«

Alles war möglich in diesen Tagen des Zusammenbruchs der deutschen Ostfront. Während in Königsberg die Durchhaltepa-rolen von den Hauswänden schrien, wurde in der Nacht vom 21. zum 22. Januar heimlich ein» Gauleiter-Sonderzug «zusammengestellt, um Koch und seine Parteiprominenz, die aus ganz Ostpreußen nach Königsberg geflüchtet war, über die einzige Bahnstrecke nach Elbing und weiter nach Danzig in Sicherheit zu bringen. Der» Kämpfer bis zum letzten Mann «hatte seine Flucht vorbereitet.

Endlich, endlich am 22. Januar erhielt Koch eine telefonische Verbindung mit der Parteikanzlei in Berlin. Hitler in seinem neuen Hauptquartier war nicht zu sprechen, Bormann, aus Berchtesgaden zurückgekehrt, wo er unterirdische Anlagen besichtigt hatte, war so kurz angebunden und schroff, wie er immer mit Koch verkehrt hatte.

«Natürlich gibt der Führer die Erlaubnis, unersetzliches Kulturgut zu retten!«sagte er.»Warum ist das nicht schon längst geschehen?! Fast alle Kunstschätze der Museen in den bedrohten Gebieten sind verlagert worden, schon 1944, auch aus Ihren Museen, Gauleiter, das haben Sie ja selbst organisiert… Warum sind das Bernsteinzimmer und die Gegenstände aus Zarskoje Selo noch in Königsberg? Das ist unverantwortlich, Gauleiter!«

Das hab ich gern, dachte Koch verbittert. Ein Anschiß ohne Grund.»Es gab zwei Gründe, Herr Reichsleiter — «, antwortete er böse.»Erstens sollte durch die totale Verlagerung aller Kunstschätze die Bevölkerung nicht beunruhigt werden, und zweitens stand und stehe ich noch zum Endsieg des Führers!«Bormann schwieg einen Augenblick, vielleicht war er selbst erstaunt über die letzten Worte Kochs. Ihnen war nichts zu entgegnen.

«Sorgen Sie für den sofortigen Abtransport«, sagte er dann.»Über Elbing — Danzig — Stettin, Berlin — Weimar nach Reinhardsbrunn. Im Schloß Reinhardsbrunn wird dafür gesorgt werden, daß das Bernsteinzimmer eingelagert wird. Als Zwischenstation. Der endgültige Lagerort wird von dort bekanntgegeben.«

«Sie übermitteln den Befehl des Führers nach Reinhardsbrunn, Herr Reichsleiter?«

«Ja!«

Bormann legte abrupt auf. Koch wischte sich mit beiden Händen über das Gesicht. Reinhardsbrunn gefiel ihm gar nicht. Das Schloß kannte er nicht, wohl aber das Geheimnis, daß hier die SS, vor allem Himmler, eine große Menge Kunstschätze des Reichsamtes SS versteckt hatte.»Sein Bernsteinzimmer «neben den Schätzen der SS zu wissen, behagte ihm wenig. Auch Bormanns Mitteilung, daß Reinhardsbrunn nur eine Zwischenstation sein sollte, beruhigte ihn nicht. Warum nicht Thüringen, dachte er wütend. Warum nicht Göttingen? In den sicheren Schächten der Salzbergwerke, deren

Sohlen bis in 600 Meter Tiefe reichten, war der beste Platz, die Schätze zu retten. Man sprengte die Zugänge, und niemand, außer ein paar Eingeweihten, würde ahnen, was da unter der Erde lag. Bombensicher, gut konserviert, bestens temperiert… ein Lager für Jahrtausende, in diesem Falle für ein paar Jahre. Die neue Wunderwaffe, von der man munkelte und flüsterte, die Bombe mit Atomkernspaltung, an der ein geheimes Forscherteam zusammen mit Wernher von Braun, dem Schöpfer der Raketen V l und V 2, die jetzt täglich auf London niederheulten, unentwegt arbeitete, würde alle Feinde in einem unvorstellbaren Feuerball von dieser Erde brennen und Deutschland den Sieg bescheren.

In der Nacht zum 22. Januar 1945, die sowjetischen Divisionen hatten Wehlau erobert und standen jetzt nur noch knappe vierzig Kilometer vor Königsberg, rief Koch den vor Unruhe schlaflosen Dr. Findling an.

«Wir können!«sagte er.»Die Transportstaffel ist unterwegs zu Ihnen. Der Transportführer, ein Hauptmann Leyser, hat den genauen Fahrplan bei sich. Bei Morgengrauen müssen die Wagen die Stadt verlassen haben.«

«Ich bin bereit, Gauleiter.«

«Wieso Sie?«Kochs Stimme dehnte sich vor Erstaunen.»Sie brauche ich noch hier. Die Kisten können allein reisen. Es ist garantiert von der Parteikanzlei, daß sie überall bevorzugt behandelt werden und in eine sichere Lagerstelle kommen. Sie können jetzt für das Bernsteinzimmer nichts mehr tun…«

Dr. Findling schluckte. Er wußte, daß es für ihn keinen Ausweg gab. Er trug die Uniform des Volkssturmmannes, er hatte auf den Führer seinen Eid als Soldat abgelegt, er fiel unter die Parole» Bis zum letzten Mann«.

«Und Wachter?«fragte er.

«Findling, stellen Sie doch jetzt, wo's eilt, nicht so dumme Fragen! Was soll Wachter denn bei dem Transport?«

«Aufpassen. Wie immer. Wie seit über 226 Jahren!«

«Will er etwa auch noch mit hinunter in die 600-Meter-Sohle eines Bergwerkes?«fragte Koch spöttisch.»Ein moderner Barbarossa? Der treue Wachter, in Salz konserviert! Nach 226

Jahren hat die Familie Wachter es verdient, sich auszuruhen. Übrigens ist er noch nicht zu alt, um ein Gewehr zu halten und abzudrücken! Er bleibt in der Festung Königsberg wie Sie… und ich… Der Führer braucht jetzt jeden Mann. Wir wissen doch, seit Ilja Ehrenburg, was uns erwartet. Teilen Sie das Wachter mit.«

Eine Stunde nach diesem Gespräch, das Findling nie vergessen sollte, fuhren in den Schloßhof zwanzig Lastwagen ein. Dr. Findling traute seinen Augen nicht: Die Aufbauten und die Dächer der Transporter waren groß mit einem roten Kreuz bemalt, als handele es sich um eine Hilfsgüterkolonne oder um Verwundete.

Unterstrichen wurde dieser Eindruck auch noch durch die Ro-te-Kreuz-Armbinden, die jeder Fahrer über den linken Ärmel gestreift hatte. Nur Hauptmann Leyser, der in einem Kübelwagen fuhr, trug diese Armbinde nicht.

«Das ist die größte Frechheit, die ich jemals gesehen habe«, sagte Wachter gepreßt.»Wenn sich das rumspricht, ist kein wirklicher Lazarettwagen oder Verwundetenzug mehr sicher.«»Um Himmels willen, halten Sie den Mund, Michael!«Dr. Findling stieß Wachter warnend in die Rippen.»Denken Sie nur daran: In den Wagen ist das Bernsteinzimmer! Um es zu retten, wird es als Rote-Kreuz-Fracht getarnt. Nur daran müssen Sie denken. Ich möchte nicht wissen, wieviel Dinge unter dem Schutz des Roten Kreuzes hin und her geschoben werden. Mein Gott, denken Sie in unserer Situation bloß nicht an Moral!«Dr. Findling sah dem Auffahren der Lkw-Kolonne zu.»Morgen ist alles vorbei. Da sind wir Volkssturmmänner.«

«Ich nicht, Herr Doktor.«

«Wachter, was haben Sie vor?«

«Ich bleibe natürlich bei dem Bernsteinzimmer.«

«Das ist Wahnsinn! Wissen Sie, was das bedeutet? Fahnenflucht, Feigheit vor dem Feind! Von einem Schnellgericht werden Sie zum Tode verurteilt und aufgehängt oder erschossen!«

«Ich nicht.«

«Warum sollte man mit Ihnen eine Ausnahme machen? Wie wollen Sie überhaupt aus Königsberg raus? Sie haben keinen Marschbefehl. Dieser Hauptmann Leyser wird sich hüten, Sie heimlich mitzunehmen. Jetzt werden sogar Ritterkreuzträger aufgehängt — «

«Ich werde es schaffen, Doktor. «Wachter atmete tief ein. Die Sorge, was aus Jana wurde, war noch nicht gelöst. Für Oberschwester Frieda Wilhelmi war sie unentbehrlich geworden. Die Masse der Verwundeten, die mit Lazarettzügen oder San-kas nach Königsberg gebracht wurden, hatte die Aufnahmefähigkeit der Krankenhäuser, der Notlazarette in Schulen und Turnhallen und den weit verzweigten alten Festungsanlagen von Königsberg längst überschritten. Die alten Forts und Bollwerke waren überfüllt, es gab zu wenig Ärzte und Schwestern, Sanitäter oder Hilfskräfte. Lehrerinnen und Frauen in Sozialberufen wurden dienstverpflichtet. Sie wuschen die Verwundeten, gaben ihnen zu trinken, fütterten sie und drückten den Toten die Augen zu, saßen bei den Sterbenden und waren oft Mutter-, Frau- oder Brautersatz in den letzten Stunden.

«Wann kommen wir heraus?«fragte Jana an einem dieser Tage.

«Heraus?«Frieda hatte sie erstaunt angesehen.»Wann es befohlen wird.«»Und wenn das zu spät ist?«

«Ich bleibe, solange noch ein Verwundeter hier im Haus liegt!«»Die Russen werden Königsberg erobern…«

«Na und? Können meine Verwundeten weglaufen? Ich gehöre zu ihnen, sie brauchen mich.«

«Die Russen werden dich vergewaltigen… denk an den Aufruf Ehrenburgs.«

«Mich vergewaltigen?«Frieda, der Turm aus Knochen und Fleisch, lachte kurz auf.»Da müssen schon vier sibirische Riesen kommen…«

«Töten werden sie dich! Ganz einfach töten.«

«Tochter! Wer hätte das gedacht, du bist ja auch von der Propaganda verseucht! Ob Deutsche oder Russen, man kann mich überall brauchen. Man wird froh sein, daß ich noch da bin. Wir Ärzte und Schwestern kennen weder Freund noch Feind, nur Verletzte, Kranke, Hilfesuchende. Merk dir das,

Tochter!«

Janas letzter Besuch bei Sylvie wurde zu einer Qual. Unentwegt funkte diese ihre Beobachtungen nach Schweden, die von dort zur Zentralstelle in Leningrad weitergegeben wurden. Die Zehntausende von Flüchtlingen, die am Haff und am Bahnhof auf einen Platz in einem Eisenbahnwaggon oder auf einem Schiff warteten, die Schanzarbeiten an neuen Verteidigungslinien, das Aufstellen neuer Panzersperren aus Beton, das Hereinströmen der letzten Reserven, die versuchen sollten, einen Riegel vor Königsberg zu bilden… Berichte waren es, die der sowjetischen Führung zeigten, daß \erzweiflung ungeahnte Kräfte mobilisieren kann und daß es noch viel Blut kosten würde, bis man in Königsberg einmarschieren konnte. Aber das kannte man von Leningrad her. Neunhundert Tage Blockade durch die deutschen Truppen hatte man überstanden, eine Hingerhölle ohne Beispiel, bis im Januar 1944 die Stadt von der sowjetischen 42. Armee befreit wurde.

Für Königsberg aber gab es keine Befreiung mehr. Ob noch Tage oder Wochen… der Untergang war sicher.

«Ich will Abschied nehmen«, sagte Jana Petrowna. Sie saß Sylvie gegenüber, die ihr Funkgerät gerade abgestellt hatte.»Abschied? Wieso?«Sylvie sah Jana ungläubig an und schüttelte dabei den Kopf.»Was soll das heißen?«

«Ich werde Königsberg verlassen.«

«Bist du verrückt? Wo willst du denn hin?«

«Ich weiß es nicht. Noch nicht…«

«Jana, das ist Wahnsinn! Du bleibst hier bei mir in Königsberg, wirfst die Nazitracht weg, wirst dich beim sowjetischen Kommandanten melden, eine russische Feldscher-Uniform bekommen und wieder das sein, was du bist: eine Russin. Und nach dem Sieg wirst du deinen Nikolaj wiedersehen…«

«Ich kann Väterchen nicht allein lassen, Sylvie.«.»Michail Igo-rowitsch wird man mit offenen Armen aufnehmen. Ein Held wird er sein.«

«Ohne Bernsteinzimmer? Was ist Väterchens Leben wert ohne Bernsteinzimmer? Er bleibt bei ihm, wird mitziehen, wohin man es auch bringt, nicht trennen kann man ihn von ihm. Und

ich muß bei ihm bleiben, Sylvie. Er paßt auf das Bernsteinzimmer auf und ich auf Väterchen. Das ist meine Pflicht.«»Pflicht! Pflicht! Überleben sollst du! Wulst du als deutsche Krankenschwester irgendwo verrecken? Jana, in ein paar Tagen kannst du wieder eine Russin sein!«

«Ohne Bernsteinzimmer und Väterchen.«

«Du bist verrückt, verrückt, verrückt!«schrie Sylvie und sprang auf.»Ist denn das Bernsteinzimmer das Wichtigste auf der Welt?!«

«Für uns — ja.«

«Man sollte dich mit kaltem Wasser übergießen, damit du endlich vernünftig wirst. Was kannst du denn tun, wenn die Naziräuber das Bernsteinzimmer irgendwo vergraben?«

«Ich bin dabei… ich weiß, wo es vergraben ist… ich kann es nach dem Krieg wieder ausgraben lassen und zurückbringen nach Puschkin in den Katharinen-Palast. Das allein ist meine Aufgabe.«.»Und dafür hältst du den Kopf hin!«

«Ja. An den Fronten sterben unsere Männer und kämpfen um ihr Vaterland. Ich kämpfe auch, nur auf einem anderen Kampfplatz.«

«Der geheime Soldat Jana Petrowna! Wie heldenhaft das klingt! Und nun… warum bist du gekommen?«

«Um Abschied zu nehmen, Sylvie. «Jana faltete die Hände im Schoß. Das Herz wurde ihr schwer.»Ich hoffe, daß wir uns wiedersehen.«

«Wo?«

«In Leningrad, oder bei dir, in Schweden, in Uppsala oder sonstwo. Was wirst du nach dem Krieg tun?«

«Ich weiß es noch nicht. Weiterstudieren oder heiraten und Kinder kriegen, ein Sommerhäuschen auf den Schären… wie kann man sagen, was unsere Zukunft ist? Nicht schwer wird es sein, dich zu finden: Wo das Bernsteinzimmer ist, bist auch du.«

«So Gott will, Sylvie.«

«Du glaubst an Gott?«Sylvie starrte Jana verblüfft an.»Du — eine Kommunistin?! Eine ehemalige Komsomolzin?«

«Ja. Ich glaube an Gott. Ich bete sogar.«

«Aus dir soll man klug werden. «Sylvie umarmte Jana, als diese aufstand, sie küßten sich wie zwei Schwestern, und dann riß sich Jana los und rannte aus der Wohnung, als hätte sie jemand davongejagt. Gab es ein Wiedersehen?

Aus der Ferne, vom Wind herbeigetragen, rollte Kanonendonner über die Stadt. Ein Gewitter des Todes und der Zerstörung.

Die zwanzig Lkws mit dem roten Kreuz waren beladen. Die Kisten, in denen das Bernsteinzimmer, von allen Seiten gut gepolstert, stand, trugen einen roten Punkt. In den anderen Verschalungen steckten die berühmte Silbersammlung, die Gemälde alter russischer und europäischer Meister, darunter ein Rubens, ein Canaletto und ein Spitzweg. In einer besonderen Kiste hatte man einen Gobelin aus Flandern aus dem Jahre 1580 verstaut, ein Riesengewebe von 4,52x3,50 Metern. Diese Kiste trug, mit Pinsel und schwarzer Farbe aufgemalt, den Vermerk: M-D-Voß und — in einem gezeichneten Dreieck — den Buchstaben B. Ein Gobelin, der unter» Führervorbehalt «fiel. M-D-Voß war die Abkürzung für den Beauftragten des Sonderauftrages» Linz«, den in Dresden lebenden Museumsdirektor Voß, und das B im Dreieck ließ die Deutungen Berlin, Berchtesgaden oder Bormann zu.

Das hatte jetzt alles wenig Bedeutung. Was mit den Rote-Kreuz-Wagen abtransportiert wurde, galt als» Sammlung Gauleiter Koch«.

Noch einmal versuchte Dr. Findling, mit Koch zu sprechen. Es war fünf Uhr morgens, das Artilleriefeuer an der Front von Wehlau war deutlich zu hören. Aber Koch war nicht zu erreichen. Er hatte zur Überraschung aller seinen GauleiterSonderzug den in geballten Massen am Hafen und Bahnhof wartenden Flüchtlingen zur Verfügung gestellt. Militär und Parteifunktionäre regelten, so gut es ging, das Chaos, als Tausende den Zug stürmten. Der Befehl» Frauen und Kinder zuerst «war völlig sinnlos geworden, um einen Platz im Zug wurde getreten und geboxt, niedergerannt und zusammengeschlagen. Im Hafen war es nicht anders. Der Sturm auf die wenigen noch zur Verfügung stehenden Schiffe war ein Kampf auf Leben oder Tod. Die Zange um Ostpreußen schloß sich von Stunde zu Stunde mehr, die sowjetischen Armeen von Tschernjakowskij und Rokossowskij drangen unaufhaltsam vor.

Am Apparat erreichte Dr. Findling nur Bruno Wellenschlag, dessen Stimme vor Angst gebrochen schien.

«Ja, Doktor, ja! Hauen Sie ab!«rief Wellenschlag ins Telefon,»Die Russen stoßen auf Elbing zu und werden uns abschneiden. Dann ist für Sie der Ofen aus! Sie müssen den Landweg noch schaffen! Umladestation ist Berlin, von dort bringt ein Zug die Ladung nach Reinhardsbrunn. Der Gauleiter hat mit dem Gauleiter von Thüringen Sauckel alles durchgesprochen, von Schloß Reinhardsbrunn geht es weiter in ein Salzbergwerk. Reinhardsbrunn wird wahrscheinlich das neue Führerhauptquartier werden und den Namen >Wolfsturm< erhalten. Sicherer geht es nicht. Mann, hauen Sie endlich ab!«

Er legte auf. Hauptmann Leyser, der neben Dr. Findling stand und alles mitbekommen hatte, sah Findling betroffen an.»Das klingt nicht nach Endsieg — «, sagte er dann sarkastisch.»Also dann los! Sie bleiben hier?«

«Ich muß!«

«Dann — ein Überleben. Das ist alles, was ich Ihnen wünschen kann. «Sie gaben sich die Hand und gingen dann hinunter in den Hof des zerstörten Schlosses.

An den abfahrbereiten Lkws warteten neben den Fahrern mit der Rote-Kreuz-Binde auch Michael Wachter und eine junge Krankenschwester. Sie hatte einen Sanitätskoffer an einem Lederriemen über der linken Schulter hängen. Dr. Findling bekam einen Schreck, aber er besaß genug Beherrschung, es nicht zu zeigen. Michael, was tun Sie da? Die nächsten Minuten sind Ihr Todesurteil!

Hauptmann Leyser blickte erstaunt auf die beiden und kam schnell näher. Wachter kannte er vom Beladen der Lastwagen, die Rote-Kreuz-Schwester war ihm neu.

«Ja bitte?«fragte er knapp.»Sie wünschen?«

«Ich bin bereit«, antwortete Wachter.

«Wozu?«

«Zur Begleitung des Sonderkommandos, Herr Hauptmann.«»Sie? Davon weiß ich nichts. «Leysers Verblüffung war groß.»Ich habe Ihren Namen nicht auf der Transportliste.«

«Ich komme im persönlichen Auftrag des Herrn Gauleiters mit. Gewissermaßen in seiner Vertretung. Hier ist meine Anweisung, Herr Hauptmann.«

Wachter hielt Hauptmann Leyser den Brief vor, den Koch ihm nach dem verheerenden Luftangriff auf Königsberg geschrieben hatte.

«… dem Michael Wachter ist jede Hilfe zu gewähren. Er ist berechtigt, in meinem Namen im Zusammenhang mit den Kunstschätzen im Königsberger Schloß notwendige Anordnungen zu treffen…«

Hauptmann Leyser ließ den Brief sinken. Dr. Findling starrte Wachter ängstlich an. Ein eiskalter Hund sind Sie, Wachter, dachte er. Himmel, was wagen Sie da! Der Brief ist doch jetzt nichts mehr wert.

«Das ist kein Marschbefehl, Herr Wachter«, sagte Leyser prompt.»Zwar eine Vollmacht, aber — «

«In den Kisten befinden sich die größten Kunstschätze europäischer Kultur, Herr Hauptmann. Mein Auftrag vom Gauleiter lautet, sie nicht aus den Augen zu lassen und sie überallhin zu begleiten. Es gäbe ungeheure Komplikationen, wenn ich diesen Auftrag nicht erfüllen könnte. Sie haben es gelesen, daß ich zu notwendigen Anordnungen berechtigt bin.«

«Ohne Marschbefehl — «, sagte Leyser wieder, aber nun zögernder.

«Für die Ausstellung einer solchen Formalität ist es jetzt zu spät«, mischte sich Dr. Findling ein und blinzelte Wachter zu.»Sie haben gerade selbst am Telefon gehört: Der Transport muß sofort abgehen.«

«Dann also, gut. Steigen Sie ein!«Er wandte sich zu Jana um und betrachtete sie, wie jeder Mann, von oben bis unten mit einem interessierten Blick.»Und Sie?«

«Ich bin als Krankenschwester und Sanitäterin zugeteilt«, sagte sie mit einem forschen Augenaufschlag.»Der Herr Gaulei-ter ist der Ansicht, daß zu einer Sanitätskolonne auch eine Krankenschwester gehört. Und sei's zur Tarnung. Ich habe den Befehl zur Begleitung erhalten.«

«Natürlich in der Eile auch ohne Marschbefehl.«

«Nein, Herr Hauptmann… hier ist er. «Sie holte aus der Manteltasche das Formular. Marschbefehl für Schwester Jana Rogowskij für Sonderkommando Gauleiter Koch. Königsberg, den 21. Januar 1945. Unterschrift: Stabsarzt Dr. Pankratz.

«In Ordnung. «Leyser gab Jana das Papier zurück. Dr. Findling starrte sie fassungslos an.»Fahren Sie in meinem Kübel mit, Schwester Jana?«

«Wenn ich darf, Herr Hauptmann.«»Es wird mir eine Freude sein. «Leyser trat zwei Schritte zurück und hob den rechten Arm.»Aufsitzen!«brüllte er zu den vor ihren Wagen angetretenen Fahrern.»Wagenabstand dreißig Meter! Kolonne — los!«Zum letzten Mal gaben sich Dr. Findling und Wachter die Hand.

«Michael, Sie sind ein verdammt mutiger Kerl! Machen Sie's gut.«

«Sie auch, Doktor. Auf Wiedersehen — «

«Glauben Sie daran?«

«Ich will es glauben. Gott mit Ihnen, Doktor.«

Plötzlich fielen sie sich in die Arme und umarmten sich. Der erste Wagen fuhr schon an, Jana und Hauptmann Leyser liefen zu dem Kübelwagen, wo der Stabsgefreite Hasselmann wartete.

«Ich habe noch eine große Hoffnung«, sagte Dr. Findling leise.»Koch wird mich in seinen Stab nehmen, und Koch will überleben. An seiner Seite komme ich hier heraus… das ist meine einzige Chance…«

Wachter riß sich los, rannte zum Wagen neun, mit dessen Fahrer, dem Unteroffizier Josef Selch, er bereits gesprochen hatte, und kletterte ins Fahrerhaus. Dr. Findling winkte ihnen nach, aber nur kurz… er drehte sich um, senkte den Kopf und ging zurück in seinen Keller neben dem» Blutgericht«.

Durch den eisigen Morgen ratterte die Lastwagenkolonne durch die zerstörte Stadt zur einzigen Straße, die noch nach

Westen führte. Heiligenbeil — Braunsberg — Elbing… und dann freier Weg nach Berlin.

Am Morgen, als Frieda Wilhelmi in ihr Büro kam, wunderte sie sich, daß Jana nicht, wie immer seit fast vier Jahren, schon hinter der Schreibmaschine saß. Verschlafen hat sie sich, dachte sie. Ist das denn ein Wunder? Wie hat sie in den letzten Wochen arbeiten müssen, bis tief in die Nächte hinein. Einmal braucht auch der Körper Ruhe.

Aber um neun Uhr war Jana noch immer nicht gekommen. Frieda sah auf die Uhr, schüttelte den Kopf und rief in Janas Zimmer an. Sie meldete sich nicht. Uiruhig, besorgt um ihre» Tochter«, wälzte sich Frieda über den Gang zu Janas Zimmer, klopfte an und riß gleichzeitig die Tür auf. Wehe, wenn bei ihr im Bett ein Mann liegt! Wer's auch sein mag, und wenn es der Chef selbst ist — mit Ohrfeigen jage ich ihn davon. Und sie, Jana, bekommt auch ihre Prügel. Da gibt es gar kein Pardon.

Aber das Bett war leer, unberührt, mit militärischer Exaktheit hergerichtet,»gebaut «nennt es der Landser. Frieda Wilhelmi blieb in der Tür stehen, den Blick in sich gekehrt, im Herzen die plötzliche Schwere: Sie ist bei einem Mann über Nacht geblieben. Nein, denk nicht an so etwas! Sie hat bei ihrer Freundin Sylvie geschlafen und nicht mehr die Straßenbahn bekommen. Bei Sylvie kann man nicht anrufen, sie hat kein Telefon… aber in ein paar Minuten wird Jana kommen, ausschimpfen werde ich sie, das ist nötig, aber dann werde ich ihr einen Riegel Schokolade geben.

Erst als sie sich schon umdrehen und weggehen wollte, sah sie, daß auf dem Kopfkissen ein Briefkuvert lag. Frieda Wilhelmi schloß die Augen und atmete tief durch. Nein, sagte sie zu sich, nein! Das kann nicht sein, das darf nicht sein. Das tut Jana nicht. Das kann sie mir nicht antun! Dieser Brief ist nicht für mich. Nein, ich gehe nicht zum Bett und fasse ihn an. Nein! Nein!

Aber sie tat es doch. Sie setzte sich langsam auf die Bettkante, riß den Umschlag auf, und schon der erste Satz, die Anrede, bestätigte die große Tragödie ihres Lebens.

Meine liebe» Mutter «Frieda.

Alle Zeilen des Verlassene fangen an: Wenn Du diesen Brief liest, bin ich… Nein, so soll es bei uns nicht sein. Ich habe Dich nicht verlassen. Ich habe mich nur eine kurze Zeit von Dir entfernt und weiß, daß wir uns Wiedersehen. In einer besseren Zeit, in einem endlichen frieden, in einer Freiheit wie Vögel in der Luft, wie Wolken unter dem Himmel.»Mutter«, verzeih mir, ich mußte es tun. Nicht aus Feigheit, nicht aus Angst, glaub mir, ich wäre bei Dir geblieben, wenn ich nicht eine andere Aufgabe zu erfüllen hätte, von der ich Dir heute noch nichts sagen kann. Aber wenn wir uns wiedersehen, wirst Du mich verstehen, das weiß ich. Wieviel habe ich Dir zu verdanken. Nicht nur das Schreibmaschineschreiben, nicht nur die Kenntnis von Spritzen, Nadeln und Kanülen, von Verbänden und Wundenbehandlung, vom Trost für die Sterbenden und den tröstenden Worten für die Hinterbliebenen. Wie oft habe ich sie geschrieben, die Briefe an die Mütter und Väter, an die Frauen und Kinder. Er ist sanft und ohne Schmerzen eingeschlafen… dabei hat er geschrien und sich an mich geklammert, als sei ich das Leben. Wir haben aus Trost gelogen und fanden, daß es notwendig sei.»Mutter«, ich will jetzt nicht lügen, Dich nicht belügen, der ich soviel im Leben verdanke, vor allem Deine Mutterliebe, in die ich mich in Stunden der Angst und der Reue verkriechen konnte. Bei Dir war ich zu Hause. Bei Dir war ich sicher. Du hattest eine Burg um mich gebaut. Das werde ich Dir ewig danken. Und einmal wird der Tag kommen, an dem ich allen Dank über Dich ausschütten kann und zu Dir Mutter sagen werde.

Frieda… ich stamme nicht aus Lyck in Ostpreußen. Ich bin eine Russin aus Leningrad, heiße Jana Petrowna Ro-gowskaja und bin als falsche Rote-Kreuz-Schwester hinter die deutsche Front eingesickert, um meinen Auftrag zu erfüllen. Nein, ich schwöre Dir, ich bin keine Spionin, ich habe Deine Liebe nicht für die Spionage ausgenutzt, ich habe mit dem Militär nichts zu schaffen, ich habe keinen verraten, bitte glaub es mir. Mehr kann ich Dir heute nicht sagen.

Gott sei bei Dir, Mutter Frieda. Gott gebe uns die Gnade, uns wiederzusehen. Paß auf Dich auf, zu sagen, laß Dich nicht unterkriegen, wäre falsch: Du läßt Dich nicht unterkriegen! Ich umarme Dich, ich küsse Dich. Sei nicht enttäuscht von mir. Wo ich auch sein werde, in meinem Herzen bist Du dabei. Deine Jana Petrowna.

PS.: Ich habe aus Deinem Schreibtisch einen BlankoMarschbefehl, unterzeichnet von Dr. Pankratz, gestohlen und ausgefüllt. Verzeih mir, aber er ist der Paß für ein Überleben.

Frieda Wilhelmi las den Brief langsam durch, Wort für Wort, ganz langsam, als wolle sie ihn auswendig lernen. Dann zerriß sie ihn, nahm ihn mit in ihr Zimmer und steckte ihn in den Ofen. Sie sah zu, wie er verbrannte, zerstörte mit dem Schüreisen auch noch die Asche und warf dann die Ofenklappe zu. Jana Petrowna, Tochter, Gott sei auch mit dir.

Die Straße und die Eisenbahnlinie nach Elbing waren noch frei an diesem Morgen, dem 22. Januar 1945. Die sowjetische 48. Armee, 65. Armee und 2. Panzer-Armee stießen weiträumig über Osterode und Deutsch-Eylau auf die Küste zu, schwere Artillerie hatte Straße und Bahn bereits unter Beschuß, Tiefflieger stürzten sich auf die endlosen Flüchtlingstrecks und Militärkolonnen, aus Königsberg lief der letzte D-Zug nach Westen aus. Im Morgengrauen des 22. Januar… dann war der Weg in die Freiheit versperrt.

Die Nachricht, daß der Russe durchbrechen würde, löste eine unvorstellbare Panik aus. Die wichtigste Versorgungsstelle und das Zentrallager des Nachschubs, das Heereszeugamt in Ponart, wurde von seinem eigenen Leiter in Brand gesetzt. Die gesamte Besatzung des am Stadtrand von Königsberg gelegenen Lufthansa-Flugplatzes Devau flüchtete mit dem Flugzeug ins Reich; als Militär den Platz besetzte, fand es die Panzerschränke offen vor, randvoll mit geheimen Unterlagen.

Gauleiter Koch tobte. Todesurteile wurden gefällt und sofort ausgeführt. Da der Landweg nun versperrt war, setzte bei den verzweifelten Flüchtlingsmassen, die sich noch in der Stadt drängten, ein Sturm auf die letzten Schiffe im Hafen ein. Überfüllt, tief im Wasser liegend, stampften sie hinaus in die Ostsee, begleitet von kleinen Marinefahrzeugen, die nie in der Lage gewesen wären, sowjetische U-Boot-Angriffe abzuwehren. Nur weg, weg aus dem sich bildenden Kessel Königsberg. Weg von den Russen, die nach den Aufrufen ihrer Führung keine Gnade mehr kannten. Wenige der Flüchtenden nur dachten daran, daß sie nun das gleiche Schicksal erlitten, das vor ihnen die russische Bevölkerung beim Vormarsch der deutschen Divisionen auf sich nehmen mußte. Hunderttausende Tote durch Hunger, Verfolgung, Deportation, Erschießungen, allein in Leningrad während der neunhunderttägigen Blockade. Die Verhungerten lagen auf den Straßen herum und wurden mit Schlitten, auf Brettern und auseinandergeklappten Pappkartons, mit Handwagen oder einfach über die Schulter geworfen zu den Friedhöfen gebracht. Hunderttausende unschuldiger Menschen. Wer kann das vergessen?

Die Rote-Kreuz-Kolonne, die zwanzig Lkws mit dem Bernsteinzimmer und den» Gauleiter-Schätzen«, quälte sich durch den Flüchtlingstreck langsam nach Elbing. Hauptmann Leyser studierte während der Fahrt die Karte und schüttelte mehrmals den Kopf.

«Wenn das so weitergeht im Schrittempo, erreichen wir nie Berlin. Der Treck wird von Elbing aus die Straße nach Danzig und weiter über Stolp — Köslin — Stettin völlig verstopfen! Wir müssen weg von der großen Linie und versuchen, über den schmaleren Weg Elbing — Marienburg — Graudenz — Bromberg — Schneidemühl — Landsberg Berlin zu erreichen. Wenn der Russe nicht schneller ist — «Er sah Jana an, die neben ihm im Kübelwagen saß.»Was halten Sie davon?«

«Ich weiß es nicht. Ich kenne den Weg nicht. Ich weiß nur, daß der Russe sehr schnell ist.«

Sie fuhren drei Tage und drei Nächte, ununterbrochen, selbst die Mahlzeiten verzehrten sie im Fahren. Als sie endlich durch

Graudenz fuhren, das in panischer Räumung begriffen war, atmeten sie alle auf. Von hier ab lag der Weg nach Berlin noch frei vor ihnen, die deutsche 2. Armee hatte einen Riegel gebildet, gegen den fünf sowjetische Armeen anrannten. Aber auch diese Straße lag unter dem Artilleriefeuer der russischen 65. Armee, und in Richtung Thorn — Bromberg stieß die sowjetische 47. Armee des Marschalls Schukow vor, während gleichzeitig aus dem Raum südlich Warschaus fünf Armeen in den Raum Lodz, Posen, Bromberg marschierten. Jetzt, am 25. Januar — die russische Artillerie schoß bereits in die Stadt Königsberg und in den Hafen hinein — war es noch immer ein Wettrennen, aber man war der Umklammerung entkommen. Hauptmann Leyser ließ kurz anhalten und erklärte die Lage.»Wir haben richtig gehandelt, Leute!«sagte er.»Die Straßen über Bromberg — Schneidemühl und Landsberg sind noch frei. Wenn wir jetzt auf die Tube drücken, fahren wir vor den Sowjets her, immer im Rücken der zurückgehenden 9. Armee. Jungs, wir erreichen Berlin! Es wird zwar Tierfliegerangriffe geben, aber keine Bomben und Granaten. Aufgesessen und ab die Post!«

Tiefflieger — plötzlich ein Pfeifen in der Luft, heranjagende Schatten mit Flügeln, das Hämmern schwerer Maschinengewehre und das Bellen von Bordkanonen… drei-, viermal von allen Seiten… und dann war der Spuk wieder im Himmel verschwunden.

Neunmal erlebte die Lkw-Kolonne einen solchen Angriff, ohne beschossen zu werden. Das weithin auf den Dächern der Wagen leuchtende Rote Kreuz war ein sicherer Schutz. Die sowjetischen Jäger heulten über die zwanzig Transporter hinweg, umkreisten sie ohne einen Schuß, einige wackelten sogar wie zur Begrüßung, und dann jagten sie weiter, die Straße hinunter, um Bahndämme, Fabriken, Züge, Militärkolonnen und marschierende Truppen anzugreifen.

«Wenn die wüßten, was wir transportieren!«lachte Unteroffizier Selch. Neben ihm saß Wachter, der jedesmal den Kopf einzogen hatte.»Keine Angst, Kumpel. Aufs Rote Kreuz schießen die nicht. So sind sie nun doch nicht, die Russen.«

Am nächsten Tag, dem 26. Januar, erreichten die Russen den Stadtrand von Graudenz und bissen sich an den neuen deutschen Stellungen der 2. Armee fest. Hauptmann Leyser erfuhr es von Offizieren der Infanterie-Reserven, die ihnen auf der Straße entgegenkamen. Einer der Offiziere fragte, indem er auf die Lastwagenkolonne zeigte:»Verwundete?«, und Leyser antwortete:»Lazarettmaterial und Einrichtungen.«

Der Offizier wies mit dem Daumen zur Front:»Die Verwundeten sind aber da, Kamerad. Sie fahren in der falschen Richtung.«

«Und dahin — «, Leyser zeigte mit dem Daumen nach Westen,»- werden sie kommen. Es sollen neue Feldlazarette aufgebaut werden. Wie lange, Kamerad, glauben Sie, hält die Front noch?«

«Bis zum 1. Februar ist das hier alles russisch. «Der Offizier lachte verbissen.»Am besten, ihr baut eure Lazarette erst gar nicht hier auf. Schafft sie nach Berlin… da werdet ihr sie bald gebrauchen.«

«Das sieht ja düster aus.«

«Düster?!«Der Offizier grüßte kurz zum Abschied. Nicht mit dem Führergruß, sondern wie früher mit dem Handtippen an den Mützenschirm.»Alles Scheiße! Deine Emma! Gute Fahrt, Kamerad.«

Auf der Straße von Bromberg nach Schneidemühl geschah es dann.

Die Kolonne hatte am Rande eines Waldstückes gehalten, und der Stabsgefreite Hasselmann, der den Kübel fuhr, hatte noch Zeit genug, in einem großen Kessel über einem mit Dieselöl getränkten Holzstapel aus zehn Erbswürsten eine dünne Suppe zu kochen, in die man Kommißbrotstückchen bröckelte.

Sie saßen alle am Waldrand in einem weiten Bogen, vierzig Fahrer, Wachter, Jana und Hauptmann Leyser, als das bekannte Gebrumm und Pfeifen plötzlich über den Baumwipfeln aufklang.

«Flieger von links!«schrie Unteroffizier Selch.

Er warf sich sofort flach in den Schnee, die anderen spritzten auseinander, in den Wald hinter Bäume oder Büsche, Hauptmann Leyser riß Jana mit sich in den Schnee und schrie sie an:»Kopf runter! Schnell… robben Sie zum nächsten Baum. «Nur Wachter blieb erstaunt sitzen und starrte den drei sowjetischen Jägern nach, die über den Wald rasten, einen weiten Bogen flogen und dann, noch flacher über der Erde, zurückkamen.

«In Deckung, du Flasche!«schrie ihm Selch zu.»Wir sind nicht im Wagen, wir sind draußen!«

Zu spät. Aus den spitzen Schnauzen der Flugzeuge spuckten die Maschinengewehre und legten eine Naht von Geschossen vor den Waldrand. Ein Schuß einer leichten Bordkanone traf den Suppenkessel und ließ ihn zerplatzen. Weggeworfene Kochgeschirre wirbelten durchlöchert durch die Luft, drei Stahlhelme tanzten im Geschoßhagel über den Boden, und als jetzt, viel zu spät, Wachter mit einem weiten Satz zwischen die Bäume fliehen wollte, bekam er einen gewaltigen Schlag in die linke Schulter. Er taumelte, fiel nach vorn in den Schnee und kroch in den Wald hinein. Dort zerrten ihn drei Fahrer weiter in Deckung… nach einer Wende griffen die Tiefflieger zum zweiten Mal an.

Wachter lag auf dem Bauch und spürte keinen Schmerz. Nur ein heftiges Zittern lief von der Schulter über seinen ganzen Körper, klebrige Feuchtigkeit spürte er auf der Haut. Blut ist das, dachte er. Ja, das ist Blut. Sie haben mich getroffen, verwundet bin ich, die linke Schulter, wie ein Hammerschlag war's, aber es tut nicht weh, nur wie gelähmt bin ich rechts, kann den Arm nicht mehr heben, alles in mir zittert, als läge ich nackt auf Eis.

Seine Zähne schlugen aufeinander, er konnte es nicht verhindern. Er drehte sich auf den Rücken, starrte zum Baum, unter dem er lag, hinauf und staunte, wie weich und ineinander verlaufend alle Konturen waren und der Schnee nicht mehr weiß, sondern bläulich schimmerte. Und dann war da plötzlich das Gesicht von Jana, ganz nahe über ihm, ihre schwarzen Augen voll Sorge, ihr schöner Mund, und sie fragte:»Väterchen, tut's weh? Lieg ganz still, ganz still…«, und dann war das Hämmern der Maschinengewehre wieder um sie, das Klatschen der Geschosse in die Baumstämme und den Boden. Er hörte, wie der Stabsgefreite Hasselmann brüllte:»Diese Säue! Diese Drecksäue! Gibt's kein anderes Ziel als meinen Suppenkessel?«Und dann wieder Janas Kopf, sie sagte Worte, die er nicht verstand, in die hinein er aber flüsterte:»Töchterchen, es geht mir gut. Keine Schmerzen. Alles halb so schlimm…«Und dann hörte er Leysers Stimme:»Sammeln! Die Scheiße ist vorbei. Seht euch das an! Kein Schuß in die Wagen. Das war 'ne Meisterarbeit!«, und dann Janas Stimme:»Wir müssen ihn mitnehmen. Ich kann ihn nur notdürftig verbinden… bis zur nächsten Stadt…«, und wieder Leysers Stimme:»Das ist Schneidemühl…«

Dann spürte er, wie man ihn hochhob, zu einem Wagen trug und auf die Ladeklappe legte. Jemand sagte:»Schneid ihm die Uniform auf…«, plötzlich wurde es kalt an seiner Schulter, Jana sagte irgend etwas, die Augen riß er auf, aber er sah nur Dunkelheit um sich, und dann durchzuckte ihn ein Schmerz, der von der Hirnschale bis zum Zehennagel fuhr. Er schrie auf, vor seinen Augen schien ein Stern zu explodieren, und dann war er im Nichts. Es gab keine Gefühle und kein Denken mehr.

Irgendwann wachte er auf, hörte Geräusche, fühlte unter seinen Fingern Stoff, aber es blieb dunkel um ihn, und er tauchte wieder unter im Nichts. Als es ihm gelang, die Augen aufzureißen und die Erinnerung schlagartig zu ihm zurückkehrte, merkte er, daß er nicht mehr am Waldrand im Schnee lag, auch nicht auf der Ladeklappe eines Lastwagens, sondern in einem Bett, und das Weiß um ihn herum war keine Schneedecke, sondern ein Bettbezug.

Aber Jana war da… ja, ihr Gesicht schwebte wieder über ihm. Sie lächelte ihn an, und er versuchte, zurückzulächeln, und dann hob er den Kopf und erkannte staunend, daß Jana eine andere Uniform trug, nicht mehr die Rote-Kreuz-Tracht, sondern eine grüne weite Bluse, einen langen grünen Rock und an den Füßen derbe Stiefel. Und dann hörte er Leute spre-chen in einer Sprache, die er kannte, die aber nicht hierher gehörte, eine Frauenstimme sprach mit einem Mann russisch, und der Mann antwortete auf russisch: »Sestra, sei gnädig, gib mir noch eine Spritze. So weh tut's mir im Leib…«

Was war das? Was geht um mich herum vor?

«Ja, Töchterchen…«sagte er mühsam mit schwerer, wie verklebter Zunge.»Wo… wo sind wir?«

«In Schneidemühl, Väterchen. Drei Tage hast du geschlafen. Operiert bist du, alles ist gut, nicht steif werden wird dein Arm. Das Schulterblatt wird wieder zusammenwachsen. Ein Geflecht aus Silberdraht haben sie darübergezogen, da wächst der Knochen wieder zusammen. Hast großes Glück gehabt, sagte Dr. Trofim Igorowitsch Fedorenkow. Ein fabelhafter Chirurg ist er.«

«Fedorenkow…«Wachter versuchte, wieder den Kopf etwas zu heben.»Jana, Töchterchen… habe ich einen Fieberwahn? Wo bin ich?«

«Im Lazarett Nr. 3 der sowjetischen 2. Garde-Panzerarmee. Seit zwei Tagen ist Schneidemühl russisch. Väterchen, wir sind bei unseren Brüdern und Schwestern.«

Wachter ließ sich zurück auf das Kissen fallen. Der Schmerz überfiel ihn, nicht vom Rücken her, sondern aus dem Herzen.»Und das Bernsteinzimmer?«fragte er kaum hörbar.

«Ich hoffe, es ist jetzt in Berlin.«

«Ohne… ohne uns…?«

«Väterchen, es ging um dein Leben — «

«Da hättest dabei bleiben müssen, Jana.«

«Väterchen, du warst mir wichtiger.«

«Das Bernsteinzimmer… wir… wir sehen es nicht wieder. Jana… wird haben versagt… nach 226 Jahren hat ein Wachter versagt… Warum habt ihr mich nicht sterben lassen. «Plötzlich weinte er, Tränen rannen über seine zerfurchten Wangen in die Mundwinkel. Mit einem Mulltupfer saugte Jana sie weg.»Wie können wir Nikolaj jemals wieder unter die Augen treten?«

«Bald ist der Krieg zu Ende, Väterchen. «Jana beugte sich über Wachter und trocknete sein Gesicht.»Dann suchen wir es, und wir werden es finden. Wir kennen doch den Weg. Berlin, dann nach Schloß Reinhardsbrunn in Thüringen, von dort in ein Salzbergwerk. Vielleicht sind wir nach dem Krieg die einzigen, die es noch wissen. Väterchen, wir finden das Bernsteinzimmer wieder… und eines Tages steht es wieder im Katharinen-Palast, Nikolaj wird es bewachen und pflegen, und du wirst im Park mit deinen Enkeln spielen und ihnen erzählen, wie Großväterchen von Flugzeugen beschossen wurde, die Narben wirst du ihnen zeigen, und sie werden überall erzählen: Unser Großväterchen ist ein Held der Nation. Stolz werden sie alle auf dich sein.«

«Aber ich schäme mich. «Wachter drehte den Kopf zur Seite.»Geschworen haben wir…«

«Hat Gauleiter Koch nicht auch geschworen: bis zum letzten Mann? Geflohen ist er, schon am 28. Januar, mit allen seinen Leuten, nach Neutief bei Pillau. Dort wartet er jetzt in einem unterirdischen Hauptquartier auf seine weitere Flucht nach Westen. «Jana umfaßte mit beiden Händen Wachters Gesicht und drehte es wieder zu sich herum.»Väterchen, gesprochen habe ich mit dem Genossen Generalleutnant Bogdanow, Kommandeur der 2. Garde-Panzerarmee. Erzählt habe ich ihm alles, habe ihm als Zeugen General Sinowjew genannt. Angerufen hat er Sinowjew, und dann hat Bogdanow gesagt: Das Bernsteinzimmer, hat Lenin gesagt, ist ein Heiligtum der Nation! Verlaßt euch auf Bogdanow. Ich werde euch helfen, wo ich kann…«

«Worte. Worte! Alles nur Worte!«Wachter umklammerte Janas Hände.»Wir hätten bei ihm bleiben müssen. Wo sollen wir es später suchen?«

«Wir kennen seinen Weg, Väterchen. Wir haben seine Spur.«»Eine Spur? Nichts haben wir, Janaschka! Nichts. Du hättest mich auf einer Kiste festbinden müssen!«

«Dann wärst du gestorben…«

«Der einzige Grund, das Bernsteinzimmer zu verlassen, Jana. Der Tod!«

«Klage nicht, Väterchen. Lieg ruhig, sammle Kraft. Wir ziehen weiter mit unseren Soldaten nach Berlin. Der Sieg ist zum

Greifen nahe. Die Spitzen unserer fünften Panzerarmee stehen vor Zehden, nur noch sechzig Kilometer von Berlin entfernt. Wir holen das Bernsteinzimmer ein, Väterchen, wir holen es ein! Nur stark mußt du jetzt wieder werden… Darum bin ich bei dir geblieben.«

Wachter nickte schwach, dann schlief er wieder ein, erschöpft von dem langen Reden und geschwächt von dem großen Blutverlust.

Er träumte, wie er das Bernsteinzimmer betrat. Aufgebaut war es wieder, in seiner ganzen sonnenleuchtenden Pracht. Durch die Fenster flutete das Licht und ließ die Schnitzereien und Wände in allen goldenen Farben funkeln. Schon wollte er an die Wandtafel treten, aus der das Engelsköpfchen für den Zaren Peter gebrochen worden war, um es voll Demut zu küssen, da riß ihn eine Hand brutal zurück, und eine harte Stimme sagte auf englisch: No entry!

Kein Eintritt!? Er, Wachter, durfte nicht das Bernsteinzimmer betreten?! Auf englisch befahl man das?! Und plötzlich löste sich vor seinen Augen das Bernsteinzimmer auf, floß ineinander, zerstob nach allen Seiten, und zurück blieb eine zerstörte schwarze Wand mit Rissen und Löchern, durch die ein Sturm ihm den Hut vom Kopf riß.

Mit einem lauten Stöhnen wachte er auf. Jana war wieder bei ihm, drückte ihn in die Kissen zurück und streichelte sein Gesicht.»Ganz ruhig, ruhig…«sagte sie.

«Töchterchen, Janaschka!«schrie er und wehrte sich gegen ihre Hände.»Laß mich los! Laß mich gehen! Ich habe es gesehen… ich habe mein Bernsteinzimmer verloren.. Jana, das Zimmer gibt es nicht mehr.«

Dann fiel er in Ohnmacht, und es sah aus, als sterbe er jetzt wirklich…

An einem der letzten Januartage 1945 fuhr eine SS-Kolonne mit vier geländegängigen Wagen in den kleinen Ort Nußdorf am Attersee ein und hielt vor dem Gemeindehaus. Über dem See, dem größten von Österreich und beliebt bei den Urlaubern wegen seiner herrlichen Lage zwischen Wiesen und Fels, lag dichter Nebel. Die grauen Schwaden trieben an der schroffen, steilen, zerklüfteten Wand des Höllengebirges am jenseitigen Ufer hoch. Die Straßen waren schneeglatt, zum Teil vereist, und selbst die vierradangetriebenen Wagen der SS hatten Mühe gehabt, am See entlang vorwärts zu kommen. Der Kommandant der kleinen Truppe, ein SS-Untersturmführer, eingehüllt in einen langen, pelzbesetzten Mantel, sprang aus seinem Wagen und betrat das Bürgermeisteramt.

Vom Fenster aus hatte der Gemeindeschreiber mit heruntergezogenen Mundwinkeln die Anfahrt der SS-Fahrzeuge gesehen und trat nun von der Gardine zurück.

«Jetzt kommt er«, sagte der Schreiber,»in seiner ganzen Pracht.«

«Halt bloß das Maul!«sagte der Bürgermeister warnend.»Die SS seh i lieber von hinten…«

Bürgermeister Karl Wiesinger, gleichzeitig Besitzer des Lokals» Bräuwirt «in Nußdorf, war ein aufrechter Mann und Patriot. Jeden Tag verfolgte er anhand der Wehrmachtsberichte auf einer Landkarte die Bewegungen der deutschen und feindlichen Truppen und wunderte sich oft, wie geschickt die Wehrmachtsberichte große Gebietseinbußen verschleierten. Da war von strategischen Rückzügen die Rede, von Frontbegradigungen und Geländeverlegungen. Auf der Karte mitverfolgt, sah das ganz anders aus… da erkannte man, daß die gegnerischen Armeen Deutschland von allen Seiten einschnürten und immer tiefer ins Reich vordrangen. Unaufhaltsam und schnell. Vor allem aber interessierte Wiesinger die Front im Süden, von Ungarn und Bayern. Hier kam der Krieg unmittelbar auf Nußdorf zu, auch wenn nicht zu befürchten war, daß ausgerechnet der Attersee einmal die Hauptkampflinie werden würde. Von München herüber brachte der Wind das Donnern der Bombenangriffe bis nach Nußdorf, ab und zu sah man bei klarem Wetter sogar den roten Widerschein der Brände am Himmel, aber die Angst der Nußdorfer hielt sich in Grenzen. Auf sie marschierte nicht der Russe zu, sondern der Amerikaner, und das waren keine Unmenschen. Nur die Neger bereiteten

Sorgen, vor allem, wenn sie betrunken waren, sollten sie wie die Wilden sein. So erzählte man… Genaueres wußte man nicht. Wer in Nußdorf war schon mal einem Neger begegnet, höchstens im Zirkus, wenn der seine Zelte in St. Georgen, Vöcklabruck, Wels oder Salzburg aufschlug.

Die Tür sprang auf, ohne Anklopfen, und der SS-Unter-sturmführer trat in das Gemeindezimmer. Bürgermeister Wiesinger stand an einen Aktenschrank gelehnt und wartete ab, was da kommen würde.

«Heil Hitler!«sagte der SS-Führer und ließ den Arm hochschnellen.

Wiesinger hob auch den Arm, aber er schwieg.

«Wer ist hier der Bürgermeister?«

«Ich.«

«Aha!«Der SS-Führer musterte kurz den Mann vor sich und kam dann sofort zur Sache.»Das ist ein Sonderkommando des Reichsführers SS in Verbindung mit dem AA.«

Aha, dachte Wiesinger ruhig. Auswärtiges Amt, heißt das. Kann aber auch heißen: Alles Arschlöcher! Suchen wir's uns aus.

«Grüß Gott in Nußdorf-«sagte er freundlich.»Haben Sie einen Wunsch?«Der SS-Untersturmführer holte aus seiner am Koppel hängenden ledernen Kartentasche einen genauen Plan vom Attersee und Umgebung hervor und breitete ihn auf dem Schreibtisch vor Wiesinger aus. Einige Stellen waren mit Rotstift eingekreist. Ein paar dieser Kreise waren dick durchgestrichen. Ob auch Nußdorf umrandet war, konnte Wiesinger von seinem Platz aus nicht sehen. Hat es einen Kreis, dachte er nur, wird auch er durchgestrichen, was auch der Kreis bedeuten mag.

«Haben Sie Höhlen?«fragte der SS-Führer und sah Wiesinger scharf an.

«Höhlen?«Wiesinger wischte sich schnell über das Gesicht und trat einen Schritt näher.»Was für Höhlen?«

«Tiefe, geräumige, bombensichere, trockene, naturbelüftete Höhlen…«

«Naturbelüftete… Na! Haben wir nicht. Wo sollen in Nußdorf naturbelüftete Höhlen sein?«

«In der Umgebung! In Ihren Bergen! 300 Quadratmeter genügen.«

«Wir haben auch keine 300 Quadratmeter naturbelüftete-«

Der SS-Führer winkte energisch ab. Der Gemeindeschreiber zog den Kopf zwischen die Schultern und blinzelte zu Wiesinger hinüber. Karl, sei vorsichtig. Wenn der merkt, daß du ihn verarschst…

«Hier gibt es doch überall Höhlen!«Der SS-Untersturmführer beugte sich wieder über seine Karte.»Überall! Salzbergwerke, Tropfsteinhöhlen…«

«Die sind nicht trocken«, sagte Wiesinger freundlich.»Zwar naturbelüftet, aber…«

«Schon gut!«Zufrieden sah Wiesinger, daß der SS-Führer den roten Kreis, der also doch um Nußdorf gemalt war, durchstrich. Das hätten wir, dachte er. Was nun?» Kennen Sie Höhlen?«

«Genug. «Wiesinger machte eine weite Handbewegung.»Im Dachsteingebiet gibt's genug, drüben im Höllengebirge bestimmt auch, im Salzburgischen sind die Salzbergwerke. Wozu brauchen Sie eine Höhle?«

«Unwichtig.«

«Woll'n Sie was einlagern? Da gibt es doch schon ein Depot… in Alt-Aussee.«

Der Kopf des SS-Führers schnellte hoch.»Was wissen Sie von Alt-Aussee?!«schnarrte er. Wiesinger hörte sofort die Warnung in der Stimme.

«Ich habe das irgendwo gehört…«

«Dann vergessen Sie sofort und gründlich, was Sie gehört haben, Herr Bürgermeister. «Der SS-Untersturmführer faltete seine Karte zusammen und steckte sie zurück in die lederne Tasche am Koppel.»Im Höllengebirge, sagen Sie? Danke. Wie sind dort die Straßenverhältnisse?«

«Straßen?«Wiesinger bezwang sich, nicht zu lächeln.»Um diese Jahreszeit? Da wünsche ich Ihnen viel Glück.«

Der SS-Führer wölbte die Unterlippe vor, warf einen Seitenblick auf den Gemeindeschreiber, sagte stramm:»Heil Hitler «und verließ das Büro. Hinter der Gardine beobachteten Wiesinger und der Sekretär die Abfahrt der SS-Kolonne.

«Die wollen was verstecken«, sagte der Gemeindeschreiber.»Karl, das hat was mit der >Alpenfestung< zu tun! Die rechnen damit, daß hier der Endkampf stattfindet. So eine Scheiße!«»Warten wir's ab. «Bürgermeister Wiesinger starrte auf die schneeglatte Straße.»Das ändert sich jetzt alles von Tag zu Tag…«

Am 3. Mai 1945 warteten, verschanzt an der zu Nußdorf gehörenden Ortschaft Zell, Einheiten der Wehrmacht und SS-Soldaten einer ungarischen Division auf den Vormarsch der Amerikaner. Die 3. und die 7. US-Armee rückte über Rosenheim, Salzburg, Braunau und Linz in Österreich ein. Es gab keinen großen Widerstand, die» Alpenfestung «war ein Phantom.

Am 6. Mai 1945 um 12.30 Uhr erschienen die ersten Panzerkolonnen der 3. US-Armee in Nußdorf. Kampflos ergaben sich die deutschen Truppen in Zell.

Der kleine, schöne Ort am Attersee atmete auf. Der Krieg war für sie vorbei, das Dorf war nicht zerstört, sogar die Neger waren freundlich und schenkten den Kindern Kekse, Fruchtstangen und Schokolade.

Ein schöner Maitag war's. In der Sonne leuchtete der See. Einige Fischerboote waren draußen und fingen Saiblinge und Renken. In den Vorgärten blühten Primeln, Tulpen und Stiefmütterchen. Vom Kirchturm läuteten die Glocken.

Es gab noch keinen Frieden, aber über Nußdorf lag er bereits. Am 9. Mai 1945 um 00.01 Uhr war der Krieg zu Ende.

In einem gewendeten amerikanischen Offiziersmantel, deutschen Kommißstiefeln und einem viel zu weiten Anzug stand Michael Wachter am 10. Mai vor den Zinnentürmen am Eingang von Schloß Reinhardsbrunn. In einem Jeep hinter ihm, neben einem kaugummikauenden GI, saß Jana Petrowna. Ein dünnes, baumwollenes Kleid trug sie, darüber einen großen Schal wegen des Fahrtwindes. Das schwarze Haar hatte sie hochgesteckt und hielt es mit einem roten Band zusammen.

Wachter starrte auf das Schloß, drehte sich dann um und ging zum Jeep zurück. Er verzichtete darauf, das Gittertor zu öffnen und zum Eingang zu gehen.

Der amerikanische Ortskommandant hatte es ihm schon gesagt: Zwanzig große Kisten waren nicht im Schloß gewesen, als man es besetzte. Eine Unmenge Material und andere Dinge, aber zwanzig Kisten… nein!

«Hier hört es auf!«sagte er. Seine linke Schulter hing etwas herab, vor allem, wenn er ging.»Niemand weiß etwas. Das Bernsteinzimmer ist verschwunden.«

«Wir finden es, Väterchen. «Jana beugte sich über ihn und streichelte seine Wange. Sie sprachen russisch, und der am e-rikanische Soldat am Steuer des Jeeps spuckte seinen zerkauten Gummi über die Windschutzscheibe. Man hatte gemeinsam gesiegt, aber man mochte sich nicht.»Sei nicht traurig. Wie Wölfe werden wir sein und die Fährte verfolgen.«»Es gibt hundert verschiedene Spuren, Töchterchen.«

«Und eine ist die richtige. Warte, bis Nikolaj zu uns kommt. Väterchen, das Bernsteinzimmer wird bald wieder in Puschkin sein.«

Wachter nickte.»Laß uns daran glauben, Janaschka. «Er stieg in den Jeep und setzte sich auf den metallenen Rücksitz.»Zum ersten Mal fällt mir das Glauben schwer-«Und zu dem GI sagte er:»Go on.«

Der Jeep ruckte an und fuhr die Schloßstraße hinab.

Wachter senkte den Kopf, stellte den Kragen seines Mantels hoch und schloß die Augen. Wehmut drückte auf sein Herz. Und Trauer.

Gott, der du alles siehst und weißt: Wo ist mein Bernsteinzimmer..?