37675.fb2 Das Bernsteinzimmer - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 6

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Joe

Es war alles so geworden, wie General Walker es vor Jahren vorausgesehen hatte: Bei seiner Rückkehr nach Deutschland war aus dem US-Major Fred Silverman wieder Friedrich Silbermann geworden, der emigrierte Jude, der hoffte, in ein besseres, geläutertes Deutschland zu kommen. Die Dollars, die er mitbrachte, reichten aus, um über Jahre hinweg ein unabhängiges Leben zu führen. Trotzdem bewarb er sich mit einem Empfehlungsschreiben an der Universität von Würzburg als Kunsthistoriker, und der Senat nahm ihn nach langer Beratung als Privatdozent in die Alma mater auf.

Er hatte nur wenige Studenten, aber umso mehr Zeit, die Spur des Bernsteinzimmers wieder aufzunehmen. Vierzehn Jahre lagen nun schon zwischen dem Verschwinden der drei Trucks auf dem Weg nach Frankfurt, und genauso lange waren alle Kunstexperten der Meinung, daß das Bernsteinzimmer für immer verschollen sei. Alle bisherigen Hinweise und Spuren, die von Kunstliebhabern, Museumsdirektoren, staatlichen Kommissionen und den Geheimdiensten verschiedener Länder, vor allem aber der Amerikaner und Russen, verfolgt wurden, liefen ins Nichts. Immer wieder stieß man auf eine Mauer des Unwissens und den immer wiederkehrenden, altbekannten Spruch:»Ob die Kisten das Bernsteinzimmer enthielten, weiß keiner. Sicher ist nur, daß große Kisten im Januar 1943 ankamen und im April wieder weggeschafft wurden.«

Es lagen Berichte aus vierunddreißig verschiedenen Stellen und Lagerstätten vor: Bergwerke, Schlösser, Burgen, unterirdische Bunker, Höhlen, sogar zwei Klöster waren dabei, aber sie waren nur eine Zwischenstation der unübersehbar verschlungenen Wege, welche die Kisten genommen hatten. Selbst die Schweiz wurde nicht mit Aifragen verschont, und die Regierung protestierte heftig. In Österreich forschte man besonders intensiv, nachdem man in Alt-Aussee eines der größten Nazidepots für geraubte Kunst entdeckt hatte. Es war nicht so spektakulär wie Grasleben oder Merkers, aber man vermutete, daß gerade in Österreich noch viele Kunstschätze versteckt waren, die unter den» Führervorbehalt «fielen… für das größte Museum der Welt in Linz an der Donau. Hitlers verheerender Traum.

Silbermann staunte oft über die Phantasie der Sucher und ihre Euphorie, wenn sie eine vermeintliche Spur zu finden glaubten. Sein Wissen nutzte ihm wenig, im Gegenteil, es machte ihn hochgradig verdächtig.

Ein Besuch im Hauptquartier von Frankfurt hätte ihn warnen müssen.

Die Zentrale Kunstsammelstelle der amerikanischen Streitkräfte war längst aufgelöst worden. In den verschiedenen Dienststellen, die Silbermann aufsuchte, starrte man ihn verständnislos an, höhere Offiziere erinnerten sich an gar nichts und bekamen nur einen lauernden Blick. Schließlich landete Silbermann dort, wo zu landen er schon immer vermutet hatte: beim amerikanischen Geheimdienst CIC.

Die ehemaligen Kollegen waren zu Silbermann freundlich, aber bei gezielten Fragen von einer geradezu kindlichen Unwissenheit. Vom Bernsteinzimmer hatten sie überhaupt nur wenig gehört, nur, was in den Zeitungen stand. Im Archiv nach den Listen der gefundenen Kunstschätze nachzusehen erwies sich als sehr mühselig, ganze Aktenstücke waren verschwunden, und ein Colonel des CIC sagte zu Silbermann sogar:»Lieber Freund, warum beschäftigen Sie sich mit solchen Dingen? Das bringt doch nur Ärger. Von mir aus können sie das Bernsteinzimmer auf den Mond schießen, ich weine ihm keine Träne nach.«

Nach sechs Wochen, in denen er sich durch die Akten des Geheimdienstes gewühlt hatte, stieß Silbermann auf die Kopie der Liste von Merkers. Welch ein Erfolg! Hier war endlich der Beweis, daß das Bernsteinzimmer in der Zeche Kaiseroda II/III gelagert gewesen war.

Aber schon nach einem Überfliegen der Listenkopien ließ Silbermann die Blätter sinken und rieb sich die Augen.»Das ist doch nicht möglich«, sagte er betroffen.»Das ist doch meine Liste, von mir unterschrieben. So etwas gibt es doch nicht.«

Es war eine vollständige Liste, die nur einen Schönheitsfehler hatte: Die zwanzig Kisten mit dem Bernsteinzimmer waren nicht enthalten. Die Zeilen waren gelöscht und mit anderen Beschreibungen von Kunstwerken wieder gefüllt worden.

«Sind Sie sich sicher?«fragte der Colonel, als Silbermann ihm die Fälschung zeigte.»Wissen Sie, daß sie den CIC verdächtigen? Sie, ein US-Major und Diplomat?! Haben Sie irgendeinen Beweis für ihre Anklage?!«

«Die Originallisten, Sir.«

«Das sind die Originallisten! Andere gibt es nicht!«

«Meine Liste!«

«Es ist Ihre. Ihre Unterschrift steht ja darunter.«

«Die Liste ist manipuliert worden!«

«Eine ungeheure Behauptung, Mr. Silbermann! Das müssen Sie beweisen!«

«Ich werde nach den Beweisen suchen, Sir. Ich habe einen unbestechlichen Zeugen: Präsident Eisenhower! Er war damals 1945 zusammen mit General Patton und General Bradley im Bergwerk Merkers, und ich habe ihm vom Bernsteinzimmer berichtet und eine Kiste öffnen lassen. Er hat es gesehen und erschüttert >Jesus!< ausgerufen.«

«Sie wollen den Präsidenten als Zeugen benennen?«Der Colonel erstarrte geradezu.»Sie bringen wirklich die Frechheit auf, den Präsidenten der Vereinigten Staaten als Zeugen für einen angeblichen Kunstraub aufzurufen. Mr. Silbermann, ich beginne mich zu schämen, daß so jemand wie Sie einmal US-Offizier gewesen ist. Und dann auch noch beim OSS!«

«Die Wahrheit hängt nicht von Personen und Positionen ab, Sir!«

«Die Wahrheit ist, daß Sie ein übler Nestbeschmutzer sind!«Das Gesicht des Colonel wurde rot.»Die Wahrheit ist, daß Sie nie Amerikaner geworden sind, sondern immer der deutsche Jude geblieben sind. Und die letzte Wahrheit ist, daß Männer wie Sie zum Kotzen sind… für mich! Danke!«

Silbermann wunderte sich nicht über diese Reaktion des CIC. Was nach 1945»wiedergefunden «und» dem rechtmäßigen Besitzer übergeben worden ist«, war nur ein Bruchteil dessen, was die Nazis ausgelagert hatten. Wo die Mehrzahl der

Kunstwerke geblieben war, blieb ein Rätsel, wurde mit einem Achselzucken beantwortet oder mit der lapidaren Antwort: Na ja, es war eben Krieg. Was da nicht alles verschwindet…

Vier Wochen später fand ein Motorradfahrer auf einer Landstraße zwischen München und dem Ammersee, am Straßenrand verkrümmt liegend, einen blutenden Mann und benachrichtigte die Polizei. Ein Rettungswagen brachte den Schwerverletzten in das nächste Krankenhaus, man zog ihn aus und stellte fest, daß er sechs Messerstiche in den Unterleib bekommen hatte. Die Kriminalpolizei übernahm sofort den Fall, aber der Niedergestochene war nicht vernehmungsfähig. Wie durch ein Wunder überlebte er und sagte am vierten Tag nach seiner Einlieferung aus:»Ich heiße Friedrich Silbermann. Ich bin noch amerikanischer Staatsbürger, wohnhaft in Würzburg. Die Verletzungen habe ich mir selbst beigebracht, ich wollte Selbstmord begehen. Das ist alles, was ich sagen kann… und sagen will.«

Was hätte Silbermann auch erzählen sollen? Daß man im Flur seines Hauses plötzlich einen Sack über ihn geworfen und ihn weggeschleppt hatte in ein Auto. Daß das Auto nach Stunden irgendwo hielt, daß man ihn herauszerrte, gegen einen Baum lehnte und eine Stimme sagte:»Heute ist es nur eine Warnung, aber sie soll wirksam sein. Du weißt, wovor wir dich warnen, Fred Silverman. «Und dann hatte man sechsmal zugestochen, ihn zu Boden fallen lassen, den Sack vom Kopf gezogen und war ohne Scheinwerfer abgefahren. Er konnte weder die Autonummer noch die Automarke oder Farbe e-kennen.

Es sind Profis, hatte Silbermann noch gedacht. Dann war er bewußtlos geworden.

Sollte er das erzählen? Ein Protokoll würde es geben, das bald in einem Aktenschrank verstaubte. Ein ungeklärter Überfall mehr; ein unerklärbarer dazu.

Vier Wochen blieb Silbermann im Krankenhaus, dann wurde er entlassen.

Als er aus dem Gebäude kam und in das bestellte Taxi stieg, hatte er das Gefühl im Nacken, daß er beobachtet wurde. Er kannte dieses Gespür von früher, aber er sah keinen Wagen, der ihnen folgte Es waren eben Profis -

Es stellte sich heraus, daß Wassilissa Iwanowna Jablonskaja nicht nur über beste Beziehungen in Moskau und Leningrad verfügte, sondern auch vom sowjetischen Kultusministerium und sogar vom KGB mit weitreichenden Vollmachten ausgestattet war, die es ihr erlaubten, jede sowjetische Dienststelle, sei sie zivil oder militärisch, um volle Unterstützung zu bitten. Das zeigte sich deutlich bei den Kreuz- und Querfahrten, die sie mit Michael Wachter begonnen hatte. Vorher gab es noch eine erregte Diskussion, denn Nikolaj wollte seinen siebzigjährigen Vater nicht allein auf die anstrengenden Reisen schicken, und selbst Jana Petrowna überlegte ernsthaft, ob sie nicht ihr Väterchen begleiten sollte. Die Kinder waren schon selbständig genug, um unter Aufsicht eines im Ruhestand lebenden Lehrers aus Puschkin eine Zeitlang allein gelassen zu werden. Peter war neun, Janina sieben Jahre alt, es waren kluge und vernünftige Kinder, die schon jetzt in ihrer Jugend von der Schönheit ihrer Mutter zeugten. Die Jablonskaja hatte es einmal ausgesprochen, was Großvater Michael im stillen schon gedacht hatte, voller Stolz, wie Großväter nun mal sind:»Peter und Janina hätten früher Modelle für Raffael und Tiepolo abgegeben.«

Nun also wollten Nikolaj und Jana den alten Wachter begleiten und überfielen ihn drei Tage vor der geplanten Abreise aus Puschkin mit der Eröffnung:»Väterchen, alles ist geregelt. Nikolaj ist beurlaubt, die Kinderchen bleiben unter Aufsicht von Arkadij Trofimowitsch, dem alten Lehrer, im Schloß — alles ist gut.«

«Nichts ist gut!«hatte Wachter ärgerlich gerufen.»Was, frage ich, soll da gut sein? Daß ein Wachter seinen Posten als Betreuer des Bernsteinzimmers verläßt? Daß eine Mutter ihre Kinder in Pflege gibt?! Das ist gut?!«

«Soll ich einen leeren Saal bewachen, Vater?«rief Nikolaj zurück.

«Wäre das Zimmer da — ich rührte mich nicht von der Stelle. Das weißt du! Unmöglich aber ist's, dich allein auf die Suche zu schicken.«

«Wassilissa Iwanowna ist bei mir.«

«Genügt das vielleicht? Wenn du krank wirst, wenn du ausrutschst und dir ein Bein brichst, wenn irgend etwas anderes passiert… Janka ist eine gute Krankenschwester geworden. Und vergiß nicht, Väterchen… ein alter Mann bist du.«

«Was bin ich?!«Auf sein Alter hingewiesen zu werden war Wachter ein Greuel. Er war kein Greis, er fühlte sich nicht so, er war nicht im Geringsten klapprig in den Knochen und den Muskeln. Sein Herz schlug kräftig wie vor vierzig Jahren, seine Adern waren nicht verstopft und das Denken war ihm nicht schwerer geworden. Nur die linke Schulter war etwas schief seit dem Feuerüberfall der Tiefflieger, und daß es gerade sowjetische Flieger gewesen waren, die ihn, einen Wachter, die seit 230 Jahren in Rußland lebten, zusammengeschossen hatten und indirekt und unwissend schuld daran waren, daß er das Bernsteinzimmer aus den Augen verloren hatte, ärgerte ihn immer wieder. Aber ein alter Mann, auf den man aufpassen mußte wie auf einen Säugling, nein, das war er keinesfalls.

«Ihr seht mich als einen Tattergreis?!«rief er empört.»Ha, zeigen werde ich's euch! Wer bin ich denn? Soll eine eigene Krankenschwester brauchen? Einen starken Sohn, der mich auf den Schultern herumträgt?«

«Väterchen, so ist das nicht. «Jana Petrowna versuchte, Wachter milde zu stimmen.»Acht Augen sehen mehr als vier Augen, und sechs Ohren hören besser als vier…«

«Jeder auf seinem Platz!«sagte Wachter streng.»Ich fahre und suche mit Wassilissa Iwanowna allein…«

Als sie von Puschkin abfuhren nach Leningrad, um dort ein Flugzeug nach Ost-Berlin zu besteigen, war zwar Jana im Katharinen-Palast bei den Kindern geblieben, aber Nikolaj war mitgekommen und hatte dem Alten allen Wind aus den Segeln genommen, indem er sagte:»Ein Wachter gehört zum Bernsteinzimmer. Bin ich ein Wachter? Ohne Zweifel. Wo ist das

Bernsteinzimmer? Verschollen. Wer hat die Pflicht, es zu suchen? Ein Wachter. Ich wiederhole: Bin ich ein Wachter? Was kannst du dagegen sagen, Väterchen?«

«Du bist ein Dickkopf wie ich. «Michael Wachter stieß mit der Faust gegen die Brust seines Sohnes, und die Kraft des Alten war noch so stark, daß Nikolaj etwas schwankte.»Gut ist's. Keine Diskussion mehr! Froh bin ich, daß Janinka zu Hause bleibt. Wir alle wissen, wie schwer es wird, was wir vorhaben. Sogar gefährlich kann's werden. Es gibt Menschen, die wissen, wo das Bernsteinzimmer geblieben ist, und sie werden unsere Feinde sein und vor nichts zurückschrecken.«

«Und deshalb ist es gut, daß ich bei dir bin«, sagte Nikolaj.

In Berlin blieben sie nur drei Tage, wohnten als Gäste des sowjetischen Stadtkommandanten im Gästehaus der Roten Armee in Karlshorst und studierten die Detailpläne, die man in Moskau erstellt hatte und mit denen die Jablonskaja jahrelang beschäftigt gewesen war. Drei wichtige Spuren gab es, auf denen man dem Bernsteinzimmer folgen wollte: nach Grasleben, nach Merkers und nach Österreich im Raum Alt-Aussee, Dachstein, Höllengebirge… aber in elf Jahren war viel Gras über das Land und die Erinnerung gewachsen.

«Suchen wir in Thüringen«, sagte Wachter, nachdem er alle Karten, Aussagen, Berichte und Mutmaßungen durchgelesen hatte.»Merkers… da muß es gewesen sein. Im Bergwerk Kaiseroda II/III. Wenn man nur wüßte, wo dieser Captain Silverman lebt! Er hat's gesehen, sagt er. Er hat den Transport nach Frankfurt zusammengestellt. Und auf diesem Transport sind drei Lastwagen mit zwanzig Kisten angeblich vom deutschen >Werwolf< überfallen und geraubt worden. Zwanzig Kisten… das könnte genau das Bernsteinzimmer sein! Silverman behauptet das auch… Meine Lieben, wir müssen in Merkers anfangen mit der Suche. Noch einmal! Wozu nach Österreich fahren? Nach Grasleben? Das alles sind nur falsche Spuren. «Mit dem Zug fuhren sie von Berlin nach Weimar, und hier zeigte sich die Macht des Ausweises von Wassilissa Iwanowna. Sofort bekam sie vom sowjetischen Militärkommandanten e-nen Wagen, keinen mit Armeenummer und braungrau gestrichen, sondern einen unauffälligen Privatwagen, dessen wahre Identität nur die Tankwarte kennenlernten, denn Benzin bekamen die Wachters und die Jablonskaja kostenlos gegen Vorlage der sowjetischen Bescheinigungen.

In Merkers hatte sich wenig verändert. Das Salzbergwerk arbeitete nur mit halber Kapazität, Grubendirektor Eberhard Mo-schik war vor zwei Jahren gestorben, und Grubeninspektor Johannes Platow, der 1945 Eisenhower, Patton und Bradley in die riesige Salzhalle geführt und ihnen die Schätze gezeigt hatte, konnte sich an nichts mehr erinnern. Vor ebenfalls zwei Jahren war er abends nach seinem Stammtisch im» Grünen Baum «von einem unbekannten Auto angefahren und durch die Luft geschleudert worden. Er hatte überlebt, aber der Schädelbruch, den er erlitten hatte, machte ihn zum Invaliden, der sich an nichts mehr erinnern konnte.

Die neue Grubendirektion zeigte sich sehr hilfsbereit. Mit e-nem Obersteiger fuhr man die» Kommission«, wie die Jablonskaja sie vorstellte, 450 Meter tief in den Berg hinunter und zeigte ihnen die Hallen, in denen 1945 die wertvollsten Schätze der Berliner Museen, fast das gesamte Reichsvermögen in Gold — und das Bernsteinzimmer — versteckt gewesen waren. Eine bedrückende Leere dehnte sich vor ihnen aus, geblieben war nur das Gleis der Schmalspurbahn, das die riesige Haupthalle durchzog.

«Hier also war es…«, sagte Wachter leise, genau wie damals Eisenhower, der ergriffen vor den Kunstschätzen gestanden hatte.

«Man nimmt es an. «Der Obersteiger zuckte mit den Schultern.»Ich war damals fünfzehn Jahre alt, mein Vater hat mir erzählt, daß Wehrmacht und SS waggonweise Kisten, Kartons und Säcke in den Schacht gebracht hätten. Aber keiner von uns, das schwöre ich, hat gewußt, was es ist. Die meisten wußten überhaupt nichts. Sie wußten nicht mal, daß hier in der Nähe das neue Hauptquartier von Hitler gebaut wurde und daß bei Saalfeld der Gauleiter Koch unterkriechen wollte. Daß unter der Erde viel gebaut wurde, das haben wir gesehen… aber wozu, danach hat keiner gefragt. Wir hätten ja auch keine Antwort bekommen.«

«Könnte es sein, daß in den unterirdischen Bunkern und Gängen des geplanten Hitler-Hauptquartiers auch zwanzig Kisten versteckt worden sind?«

«Warum nicht? Platz war genug da. Eine ganze Bunkerstadt unter der Erde.«

«Ich habe die Pläne hier. «Die Jablonskaja klopfte auf ihre lederne Umhängetasche.»Ich wollte sowieso in diese Unterwelt steigen.«

Sie sprach russisch, Nikolaj übersetzte es, aber der junge Obersteiger schüttelte den Kopf.»Das können Sie sich sparen«, sagte er.»Da unten ist alles leer. Wenn was drin gewesen war, dann hat das der Amerikaner mitgenommen. «Er machte eine weite Handbewegung durch die Salzhalle.»Sie haben ja auch hier alles mitgenommen. Zurückgelassen haben sie aufgerissene Kisten, Koffer, Kartons, Schatullen und Säcke.«

«Es ist und bleibt die einzige wichtige Spur«, sagte Wachter, als sie wieder über Tage waren und mit dem Grubendirektor und dem Obersteiger in der Kantine zusammensaßen und ein Pilsener Bier tranken.»Von hier gingen die zwanzig Kisten aus Königsberg mit einem US-Konvoi nach Westen. Und die drei Lastwagen mit den zwanzig Kisten verschwanden spurlos und wurden erst später leer wiedergefunden.«

«Mit einem toten Fahrer. Einem Neger«, fügte der Grubendirektor hinzu.»Wenn ich mich daran erinnere, mein Gott, war das damals ein Rummel! Ein Fahrer tot, zwei Fahrer vermißt, die Ladung gestohlen… die Amis müssen eine halbe Armee auf Suche geschickt haben. Es wimmelte nur so von Panzern, Infanterie, Hubschraubern und Geschützen. «Er sah zu Wachter hinüber, der stumm in sein Bierglas starrte.»Glauben Sie, in den zwanzig Kisten könnte das Bernsteinzimmer gewesen sein?«

«Es war in den Kisten!«Wachter umklammerte sein Bierglas.»Wie kommen wir nur an diesen ehemaligen Captain Silverman heran? Er muß doch zu finden sein.«

«Nicht in Amerika. «Die Jablonskaja blätterte in ihren Unterlagen.»Wir haben in Moskau alles versucht… ohne Ergebnis. Die US-Botschaft kann überhaupt nichts feststellen, da alle Anfragen in Washington mit No beantwortet werden. Briefe an den Geheimdienst OSS sind völlig sinnlos, man weiß nicht, ob sie ankommen, man erfährt keine Reaktion, man setzt uns vielleicht sogar auf die Liste der Personen, die besonders überwacht werden müssen. Man umgibt diesen Silverman mit einer Mauer des Schweigens.«

«Ein Beweis, daß er mehr weiß als alle anderen. «Nikolaj blickte hinüber zu seinem Vater.»Wir sollten eine Anzeige aufgeben. In der New York Times — das ist Amerikas größte Zeitung.«

«Und wenn er in Kalifornien oder Alaska lebt… da liest er vielleicht nicht diese Zeitung. Das müßte schon ein Zufall sein.«»Der General Zufall hat schon manche Schlacht gewonnen«, sagte die Jablonskaja.»Nikolajs Rat ist gut. Eine Suchanzeige in der New York Times — versuchen sollten wir's.«

«Und welche Adresse geben wir an?«Wachter trank sein Glas Pils leer.

«Puschkin? Da wird nie ein Brief ankommen. Berlin-Ost? Ein ungutes Gefühl habe ich. Nennen wir eine westdeutsche Adresse.«

«Vielleicht in Frankfurt. «Nikolaj sah, wie sein Vater nachdenklich nickte.»Silverman war in Frankfurt als OSS-Offizier. Liest er die Anzeige mit der Frankfurter Adresse, kann er ahnen, wer ihn sucht.«

Bevor sie aber diese Anzeige an die New York Times schickten, fuhren sie nach Wassilissas Plänen alle Orte ab, wo man das Bernsteinzimmer, genauer, wo man große Kisten gesehen hatte, transportiert von Wehrmacht, SS und sogar der Luftwaffe.

Sie besuchten fünfunddreißig Schlösser und Burgen, unterirdische Stollen und Klöster, Bergwerke und Höhlen, krochen durch Kellergewölbe und Felsengänge, sprachen mit Bürgermeistern, Verwaltern, Äbten, Pfarrern und Schloßangestellten… überall wollte man die großen Kisten gesehen haben, die dann Mitte April wieder weggebracht worden waren. Von deutschen Fahrzeugen mit unbekanntem Ziel.

«Die Daten stimmen«, sagte die Jablonskaja, während sie erneut vor ihrem Aktenstapel saß. Sie hatten in Frankfurt eine Wohnung gemietet und hatten von hier aus auch Grasleben und die Fundorte im Raum Göttingen besucht. Im Gegensatz zu Thüringen und Sachsen zeigten sich die westdeutschen Behörden äußerst abweisend, ja sogar aggressiv, vor allem, wenn Wassilissa Iwanowna ihre sowjetischen Vollmachten vorlegte.

«Das haben wir gern«, wurde ihr von einer Stadtratssitzung erzählt.»Kommen die Russen und wollen schnüffeln! Nach gestohlenen Kunstwerken! Eine Frechheit! Und was haben die geklaut! Halb Ostpreußen! Königsberg heißt jetzt Kaliningrad! Man sollte ihnen sagen, daß sie uns kreuzweise… Ritze rauf und Ritze runter!«

Über ein halbes Jahr war jetzt vergangen. Hunderte von Spuren gab es, aber keine war die richtige.»Wenn man das alles zusammennimmt, die Daten und die Beobachtungen«, sagte die Jablonskaja,»dann war das Bernsteinzimmer zu gleicher Zeit an vierzehn verschiedenen Orten. Wo aber war's wirklich?«

«Das kann nur Silverman wissen. «Michael Wachter schob die vor ihm liegenden Listen von sich.»Die Anzeige in der New York Times ist wirklich die einzige Möglichkeit, ihn zu finden. «Kurz vor Weihnachten erschien in Amerikas meistgelesener Tageszeitung die Anzeige:

Wir bitten Mr. Fred Silverman, ehemaliger Captain der US-Army in Deutschland, 1945 im Räume Merkers stationiert, um ein Lebenszeichen. Es wäre schön, uns wiederzusehen. Fred, melden Sie sich und schreiben Sie an folgende Adresse…

Sie gaben keinen Namen an, nur die Straße, die Hausnummer und das Stockwerk. Eine teure Anzeige war's, aber die Rechnung bezahlte die sowjetische Botschaft in Rolandseck am Rhein, gegenüber dem Drachenfels und Bad Honnef.

«Jetzt können wir nur warten«, sagte Nikolaj. Weihnachten war nicht weit. Schweren Herzens dachte e daran, daß er dieses Jahr nicht mit den Kindern unter einem nach deutscher Art geschmückten Weihnachtsbaum sitzen und deutsche Weihnachtslieder singen würde und auch das sowjetische Fest von Väterchen Frost versäumte. Traurig dachte er an Jana Petrowna, die er in diesem halben Jahr nur zweimal telefonisch hatte sprechen können und deren Briefe, die sie nach Frankfurt schickte, so fröhlich klangen und doch voller versteckter Sehnsucht waren. Immer wieder fragte er sich deshalb in Sorge: Wozu das alles? Wir finden das

Bernsteinzimmer doch nie!

Der alte Wachter war es dann, der ihm neuen Mut gab.»Es ist noch da!«sagte er voll fester Überzeugung.»Es ist nicht vernichtet worden. Irgendwo ist es versteckt, und da es das Zimmer noch gibt, hört nie die Hoffnung auf, die richtige Spur zu ihm zu finden. Man muß nur immer von ihm sprechen, nicht lockerlassen, die Menschen anregen, die Augen offenzuhalten und genau zu beobachten… ja, meine Lieben, die Menschen, nicht die Behörden. Von den staatlichen Stellen haben wir nichts zu erwarten, da sind wir nur die unbequemen, bohrenden, frechen, kommunistischen Russen, denen man jede h-formation verwehrt, jede Einsicht in Archive, jede Aufzeichnung der Vergangenheit. Allein stehen wir, ganz a-lein… hoffen können wir nur auf einen Zufall, auf einen Wink aus der Bevölkerung, der uns den richtigen Weg weist. Und darum dürfen wir nie Ruhe geben, müssen immer in die Lande rufen: Was wißt ihr über das Bernsteinzimmer? Was habt ihr 1945 oder heute gesehen? Was habt ihr flüstern hören? Sagt es uns. Jeder Hinweis ist wichtig.«

Es wurde Weihnachten. Wassilissa Iwanowna und die Wachters feierten in ihrer Wohnung mit einem geschmückten Bäumchen, mit Gänsebraten, Rotwein, Plätzchen, Stollen und Lebkuchen. Für die Jablonskaja war es das erste deutsche Weihnachten. Sie war als gute Kommunistin erzogen worden, und in ihrem Elternhaus hatte es kein Weihnachten gegeben: Bei den Komsomolzen lachte man sogar über den christlichen

Feiertag und sagte, die Geburt Lenins sei wichtiger als die Geburt dieses Jesus. Was hatte er schon geleistet? Nur Unruhe unter die Völker hatte er getragen, nur Glaubenskriege, wahnsinnige Inquisitionen und einen unnachahmbaren Kapitalismus. Lenin aber hatte einen Staat geschaffen, ein neues Rußland, ein Land der Sowjets, eine völlig neue Gesellschaft, einen Fels des Sozialismus in einer kapitalistisch verseuchten Welt.

Nun saß die Jablonskaja vor dem Bäumchen, an dem die Kerzen flackerten, hörte im Radio die deutschen Weihnachtslieder und spürte etwas von der Ergriffenheit, die alle befällt, wenn die Stille und Besinnlichkeit des Heiligen Abends ins Zimmer tritt. Nikolaj hatte einen langen Brief nach Puschkin zu Jana und den Kindern geschickt und für Peter einen großen ferngesteuerten Kran und für Janina eine sprechende Puppe mit Schlafaugen gekauft. Ob die Geschenke angekommen waren, konnte man nur hoffen. Ein Paket von Frankfurt bis Leningrad geht durch viele Hände -

Am zweiten Weihnachtstag verließen Wassilissa, Nikolaj und Michael Wachter ihre Wohnung. Sie wollten sich einmal verwöhnen lassen in einem feinen Lokal, wo der Oberkellner noch einen Frack trug und jeden Gast mit einer Verbeugung begrüßte. Es war kalt an diesem Abend, das Schneewasser auf den Straßen war zu Eis gefroren, vorsichtig mußte man gehen, am besten, man hielt sich gegenseitig fest und tastete sich Schritt für Schritt langsam vorwärts.

«Wenn ich das Essen nicht schon in der Nase hätte«, sagte Wachter fröhlich,»bliebe ich im warmen Sessel hocken! Aber ich rieche schon den Duft! Meine Lieben, fassen wir uns unter… kann Eis uns erschrecken? Denkt an die Winter in Puschkin. Aufgewachsen sind wir mit — «

Weiter kam er nicht mit seinen Worten. Irgendwoher, aus der Dunkelheit vor oder neben ihnen, aus einem Eingang oder einem Fenster oder von einer Straßenecke aus bellte ein Schuß auf. Durch Zufall rutschte Nikolaj ein wenig aus, aber diese Bewegung rettete ihm das Leben. Die Kugel zischte an seinem Kopf vorbei, schlug an die Hauswand und irrte dann als Querschläger an dem alten Wachter vorbei die Straße hinunter.

Es war auch der Alte, der sofort und richtig reagierte. Er ließ sich fallen, und da sie sich untergehakt hatten, fielen die anderen mit ihm auf die Straße, streckten sich und lagen flach, als der zweite Schuß in halber Höhe über sie hinwegzischte. Stehend hätte er einen von ihnen in den Bauch getroffen.

Eine ganze lange Minute blieben sie auf der vereisten Straße liegen. Dann hob der alte Wachter der Kopf, sicherte wie ein gejagter Wolf nach allen Seiten, schob sich auf die Knie und legte links und rechts seine Hand auf den Rücken von Nikolaj und Wassilissa.

«Am richtigen Platz sind wir!«sagte er auf russisch.»Vor uns liegt die richtige Spur. Wie nahe sind wir dem Bernsteinzimmer, wenn man versucht, uns zu töten. «Er stand auf, lehnte sich gegen die Hauswand und wartete, bis die Jablonskaja und sein Sohn auch wieder auf den Füßen waren.»Welch ein wundervolles Weihnachten, meine Lieben! Man schenkt uns das Bernsteinzimmer… nur abholen am richtigen Ort müssen wir es. Auch ihn werden wir finden mit Ausdauer, Mut und Gottes Hilfe..«

Die zwanzig Kisten auf der Lukretia waren zusammen mit den Landmaschinen wohlbehalten angekommen. Der griechische Kapitän hatte zunächst einen kleinen, unwichtigen Hafen angesteuert — Agiaba hieß er, lag im Golf von Kalifornien und war ein Nest, hinter dem ein Sumpfgebiet mit einem See lag, das von Moskitos und Parasiten nur so wimmelte. Joe Williams hatte keinerlei Mühe, den Alkalden des Dorfes mit fünftausend Dollar zu bewegen, zwei flache Boote zu der vor der Küste ankernden Lukretia zu schicken und zwanzig große Kisten abzuholen und an Land zu bringen. Seit drei Wochen hielt sich Joe in Mexiko-City auf, war dann nach Chihuahua geflogen und von dort nach Navojoa gefahren, wo ihn das Funktelegramm der Lukretia erreichte. Mit dem zweiten Boot landete auch der griechische Kapitän in Agiaba und hielt die Hand auf. Ohne Zögern zahlte ihm Williams die restliche Summe aus.

«Sie sind ein Gentleman, Mister«, sagte der Kapitän.»Sie hätten auch sagen können: Hau ab! Verdufte dich, ehe ich deinen Gestank wegwedele.«

«Und was hätten Sie dann getan?«

«Die nächste Polizeistation angerufen.«

«Sehen Sie, mein Freund, und deshalb bekommen Sie Ihr Geld. «Joes Stimme wurde plötzlich hart und kalt.»Auch wenn ich Sie nicht bezahlt hätte, würden Sie mich nicht verraten haben. «Er zeigte auf den sandigen Boden.»Dann lägen Sie dort mit einem Loch im Körper.«

«Ich sagte es ja, Sie sind ein Gentleman. «Der Kapitän steckte die Dollarscheine ein und grüßte mit der Hand an der Mütze.»Leben Sie wohl, Mister. Hoffentlich sehe ich Sie nie wieder.«»Damit können Sie rechnen, Kapitän. Gute Fahrt.«

«Werden Sie glücklich mit Ihren Kisten! Was ist denn wirklich drin?«

«Eingefangene Sonnenstrahlen…«

«Aha!«Der Kapitän grinste, tippte sich an die Stirn und ließ sich zurück zu seiner Lukretia bringen. Ein verrückter Amerikaner mehr, dachte er. Das Geld muß denen tatsächlich das Gehirn aufweichen.

Er griff an seine Uniformjacke, fühlte das Bündel Dollarscheine in der Tasche und war voll Freude, daß gerade er solch einem Verrückten begegnet war. Joe Williams hatte eins gelernt, was sonst einem Amerikaner nicht gegeben ist: Er hatte Zeit. Ihn steckte keine Hektik an, er jagte nicht nach Geschäften, er ließ sich auf keinen Wettlauf ein, um die Konkurrenz zu überholen… er hatte das alles nicht nötig. Die zwanzig Kisten ließ er von Agiaba nach Ciudad Juarez, direkt an die Grenze zu New Mexico bringen, gleich gegenüber von El Paso. Hier mietete er einen Lagerraum, stellte die alten Kisten unter, schloß das Tor ab und fuhr hinüber nach El Paso, um gut zu essen, sich ein Hotel zu nehmen, ein Mädchen mit langen, schwarzen Locken zu mieten und somit heimlich seinen Triumph zu feiern. Das Bernsteinzimmer war in Amerika. Niemand würde es mehr finden. Es gab keine Spuren mehr. Auch ein Captain Silverman mußte bei Alsfeld stehenbleiben, bei dem Überfall des deutschen» Werwolfs«, der drei GIs getötet hatte, von denen man dann nur einen, den armen Noah Rawlings, fand. Und außerdem… das war nun über elf Jahre her. Wer weiß, was aus Captain Silverman geworden war.

Von El Paso rief er nochmals seinen Vater in Whitesands an.»Daddy…«, sagte er,»… ich weiß, daß ich für dich tot bin. Gut, ich akzeptiere es. Hat ja auch keinen Sinn, in Whitesands aufzutauchen und das Ehrenmal umzustürzen. Sie sollen ihren Helden haben, und du auch. Aber eine Frage: Wer erbt deinen ganzen Gangsterschatz?«

«Ich habe eine Stiftung für Krebskranke gegründet. Da hinein kommt alles. Alles!«

«Sehr edel, Dad. Sie werden dich nie vergessen, vielleicht bekommst du sogar ein Denkmal. Aus Whitesands wird vielleicht Williamsburgh! Du tust wirklich viel für die Unsterblichkeit. Anders als Al Capone. Der ging in die Geschichte als größter Gangster ein… du wirst es als großer Wohltäter schaffen. Das ist genial, Dad — sie haben dich nie geschnappt!«»Was willst du?«fragte der alte Williams. Es klang, als wollte er nach einer Ratte treten.

«Für mein Alter zehn Millionen Dollar auf ein Konto.«

«Arbeite«, sagte der Alte.

«Auf deine Art? Dad, das kann doch nicht dein Ernst sein. «Joe lachte laut.»Was sind zehn Millionen Dollar für dich? Ich habe mal in einer stillen Stunde ausgerechnet, wieviel du in vierzig Jahren Mädchenhandel verdient hast. Allein nur damit… die anderen Geschäfte gar nicht mitgerechnet. Dad, dieses Weiberfleisch hat dir nicht nur die Nase, sondern den ganzen Körper bis zum Arsch vergoldet.«

«Wohin?«fragte der alte Williams knapp.

«Was wohin?«

«Wohin sollen die zehn Millionen Dollar überwiesen werden, du Saukerl?!«

«Das gebe ich dir noch bekannt. Danke, Dad.«

«Und wann?«

«Damit du siehst, daß ich deine Großzügigkeit geerbt habe, erst nach deinem Tod. Eine Anweisung im Testament.«»Und wenn ich das vergesse? Wenn nichts drinsteht nach meinem Tod?«

«Es wäre das erste Mal, daß der große Williams nicht sein Wort hält. Aber nehmen wir an, dieses mal hält er es nicht. Was dann, Dad? Dann bricht in Whitesands Feuer aus, explodieren die Heizöltanks, und deine Krebsstiftung wird monatlich einmal auf irgendeine Weise heimgesucht, bis sie die zehn Millionen Dollar in ein Köfferchen stecken, um endlich Ruhe zu haben.«

«Du bist ein Schwein!«sagte der Alte. Seiner Stimme hörte man den Ekel an.

«Ich bin dein Sohn, Dad!«Joe lachte wieder ins Telefon.»Eigentlich solltest du auf mich stolz sein.«

Er legte auf, ehe der alte Williams ihm noch mehr Grobes an den Kopf werfen konnte.

Kurz vor Weihnachten saß Joe wieder in einer Maschine, die nach Frankfurt flog. In der 1. Klasse wurde Champagner serviert, Williams streckte die Beine von sich, prostete der blonden Stewardeß augenzwinkernd zu, nahm einen Schluck und faltete dann die New York Times auseinander, die mit dem Champagner gebracht worden war. Sie war dick wie immer, eine Lektüre für Stunden, wenn nicht für einen ganzen Tag, wenn man jede Seite genau lesen wollte, und Joe machte sich daran, erst die Politik und dann den Sport zu lesen. Beim Umblättern der Anzeigenseiten fiel ihm eine umrandete Anzeige auf, die er aber nicht las, sondern nur flüchtig wahrnahm, bis er plötzlich stutzte und die Augenbrauen zusammenzog.

Hatte da nicht der Name Silverman gestanden? Verrückt — aber sein Hirn hatte es registriert. Er blätterte schnell zurück, fand die umrandete Anzeige sofort und las sie mit zusammengepreßten Lippen.

Captain Fred Silverman — das war er. Den gab es nur einmal. Und jemand suchte ihn… in Frankfurt, ausgerechnet in Frankfurt, und so wichtig mußte es sein, daß eine auffällige Anzeige in der New York Times erschien.

Joe riß das Blatt aus der Zeitung, faltete es zusammen, steckte es in seine Brusttasche und dachte dann nach. Einen Fred Silverman sucht man nicht ohne Grund. Vor allem sucht man ihn nicht, um ihm bloß die Hand zu drücken, ihn zu umarmen, auf die Schulter zu klopfen und zu sagen:»Gut, daß du noch da bist. Jetzt gehen wir mal gut essen!«Wer so nach einem Silverman sucht, hat einen gewichtigen Grund. Und wofür kann Silverman wichtig sein? Für die Suche nach dem verschwundenen Bernsteinzimmer.

Eine große Unruhe erfaßte Joe Williams. Der Flug bis nach Frankfurt kam ihm jetzt doppelt so lang vor wie der Hinflug nach Mexiko. Vom Flughafen ließ er sich sofort zu seinem Puff in der Moselstraße fahren und stand plötzlich vor dem völlig verwirrten jugoslawischen Geschäftsführer.

«Hallo, Boy!«sagte Williams freundlich.»Das sind Joes kleine Überraschungen. Laß die Koffer aus dem Taxi holen, und dann legst du mir die Buchführung vor.«

«Ist Mr. Brooks auch da?«fragte der Jugoslawe.

«Nein, der gute Larry bleibt drüben in den Staaten. Er hat ein Mädchen kennengelernt, ist seitdem geistig verwirrt und will sich auszahlen lassen.«

Er ging die Treppe hinauf in seine Privaträume, von denen aus er mit versteckten Kameras und Mikrofonen in allen Zimmern kontrollieren konnte, was dort geschah und gesprochen wurde, holte einen Stadtplan aus der Schublade und suchte die Straße, die in der Anzeige aufgegeben worden war. Sie lag in der Nähe des Zoos, eine stille Straße mit Häusern um die Jahrhundertwende, eine gute Gegend, um angenehm zu wohnen.

Schon am nächsten Tag fuhr Joe mit einem Volkswagen unauffällig durch die Straße, hielt gegenüber dem angegebenen Haus an, beobachtete es und hatte gleich das Glück, Wassilissa Iwanowna zu sehen. Sie kam aus der Tür, hielt einen Brief in der Hand und ging zu einem Briefkasten, der drei Straßen weiter an einer Hauswand hing. Joe fuhr an, überholte sie, war vor ihr an dem Briefkasten, stieg aus und tat so, als werfe auch er einen Brief ein. Dann, als er die Frau hinter sich spürte, drehte er sich ungeschickt um, rempelte sie an, machte ein schuldbewußtes Gesicht und verbeugte sich.

«Verzeihung!«sagte er.»Ich habe Sie nicht gesehen! Wie ungeschickt von mir. Wirklich, es ist mir peinlich. Habe ich Ihnen weh getan?«

«Nix passiert…«Wassilissas Deutsch war hart und bestand nur aus wenigen Worten.»Nix weh…«Sie lächelte verzeihend.»Schonnn gutt…«

Joe blieb am Briefkasten stehen, nachdem Wassilissa den Brief eingeworfen und weggegangen war. Eine Russin, dachte er. Ja, das ist eine Russin. Und bestimmt ist sie nicht allein! Was wollen die Russen von einem Captain Silverman? Da braucht man nicht dreimal zu fragen, die Antwort liegt auf der Hand. Die Russen suchen das Bernsteinzimmer. Die Russen wissen, daß Silverman es zuletzt gesehen hat. Die Russen haben eine Spur, und jetzt werden sie wie Wölfe sein, die ihre Beute jagen. Die Russen sind hinter mir her… Joe, wehre dich. Sollen elf Jahre Warten umsonst gewesen sein?! Joe, du kennst sie jetzt, aber sie haben keine Ahnung von dir. Du hast die bessere Position… mach sie klein!

Noch zwei Tage lang beobachtete Joe das Haus in der stillen Straße. Er sah auch Michael Wachter und Nikolaj… allein, zu zweit, zu dritt mit der Frau. Nur drei sind es, dachte Joe zufrieden. Drei gegen mich, den Unbekannten! Das ist nun kein Problem mehr… aus einer guten Deckung heraus braucht man nur dreimal abzudrücken.

Am zweiten Weihnachtstag war er wieder in der stillen Straße am Zoo und lauerte auf eine Gelegenheit. Wieder benutzte er die alte deutsche 08-Pistole, mit der Larry den Kunsthändler getötet hatte… fand man die Kugeln in den Leichen der drei Russen, aus denselben Lauf abgeschossen wie bei dem Händler, würde die Polizei zu kühnen Schlüssen kommen: Es gab noch eine Nazi-Organisation, die aus irgendwelchen Gründen alle liquidierte, die mit ehemals geraubten Kunstschätzen zu tun hatten. Der große Unbekannte… ein Alptraum für jeden Kriminalbeamten!

Joe hatte Glück… die drei kamen zusammen aus dem Haus. Er hockte auf der anderen Straßenseite im Gebüsch eines Vorgartens, zielte sorgfältig und wußte, daß er treffen würde.

Und dann geschah es, daß der Anvisierte rutschte, genau in dem Augenblick, als Joe den Finger krümmte. Die Kugel schlug in die Mauer, im gleichen Moment lagen die drei auf der Straße, noch bevor der zweite Schuß sie treffen konnte, und Joe Williams blieb nichts anderes übrig, als sich geduckt durch den Vorgarten zu entfernen. Im Haus hinter ihm gingen die Lichter über der Haustür an.

Das sind Profis, dachte Joe, als er wieder in seinem Wagen saß. Verdammt gut ausgebildet. Sssst… und weg waren sie. Das ist beste Schule. Das sind drei, die sich nicht einschüchtern lassen. Für die ist eine 08 zu langsam… zu denen muß man mit einer Gun kommen, mit einer Maschinenpistole und Rrrrrr ein Sieb aus ihnen machen. Joe, du mußt dir zwischen Weihnachten und Neujahr eine Gun besorgen, sonst bist du gewaltig im Nachteil.

Er fuhr an, zockelte — es war ja Glatteis — die stille Straße hinunter und sah gerade noch, wie die drei rasch in ihr Haus zurückschlüpften.

Ob Silverman die Anzeige gelesen hat und sich meldet, dachte er auf der Fahrt ins Bahnhofsviertel. Ob er wirklich nach Frankfurt kommt und sich mit den Russen trifft? Joe Williams, das wäre das Beste, was dir passieren könnte. Dann brauchst du dich nur um einen zu kümmern und kannst die Russen ziehen lassen. Dann gibt es nur einen, der dir gefährlich werden kann: Fred Silverman.

Und mit ihm, Joe, das ist dir doch klar, wirst du fertig.

In der Wohnung zogen sie die dicken Mäntel aus und setzten sich in das Wohnzimmer. Auf einem runden Tischchen glänzte der Samowar aus Messing. Er war das erste Einrichtungsstück, das Wassilissa Iwanowna gekauft hatte, und die sowjetische Botschaft, die alles bezahlte und deshalb auch alle Rechnungen verlangte, reklamierte nicht, das sei eine unnötige Ausgabe. Ein Samowar und ein Schachbrett gehören zur Grundausstattung eines echten Russen.

«Nun haben sie uns«, sagte Wachter, streckte beide Hände aus, nahm die heiße Teetasse und schlürfte vorsichtig einen

Schluck.»Meine Lieben, ich hab es geahnt, nein, gewußt habe ich es, daß wir auf der richtigen Spur sind. Sie wollen uns töten, weil wir ihnen zu nahe sind.«

«Und wo ist das Ende der Spur?«Die Jablonskaja tauchte einen Löffel in ein Honigglas und süßte damit ihren Tee.

«Auch das werden wir noch finden. Wie dumm sie sind! Machen auf sich aufmerksam.«

«Du solltest zurück nach Puschkin fahren, Vater«, sagte Nikolaj.

«Jetzt? Gerade jetzt? Wo denkst du hin, Söhnchen?!«Wachter schlürfte wieder einen Schluck Tee.»Ha! Sag es, sprich dich aus: Angst hast du…«

«Ja, Vater, um dich. Wenn sie dich erschießen…«

«Und wenn sie dich erschießen? Größere Angst müßte ich haben! Eine Frau hast du, zwei Kinderchen …du solltest nach Hause fahren. Ein alter Mann bin ich. Ja, jetzt sag ich's selbst! — und mein Leben liegt hinter mir. Was kann man noch verlieren? Wenn es nützt, Söhnchen, das Bernsteinzimmer zu finden… erschießen sollen sie mich, und du wirst sie verfolgen, Nikolaj, wirst sie zwingen, das Versteck zu verraten, und dann wird es wieder aufgebaut im Katharinen-Palast und alle Welt wird die Hände falten vor soviel Schönheit. Dann hat das Sterben doch einen Sinn gehabt, nicht wahr, Söhnchen? Für einen Wolf ist eine Blutspur immer die beste — «

«Schöne Worte, schöne Reden…«Nikolaj schlug mit der Faust auf den Tisch.»Zurück nach Leningrad fliegst du!«»Nein!«»Sei nicht so störrisch, Väterchen.«

«Mich stellt man nicht in eine Ecke!«

«Verdammt! Willst du unbedingt ein Bernsteinzimmer-Märtyrer werden?«

«Hör dir das an, Wassilissa, hör dir das an! So beleidigt ein Sohn seinen Vater! So erhebt er seine Stimme gegen ihn! Was soll man tun? Traurig sein oder ihn schlagen? Will mich entfernen, jetzt, wo ich das Zimmer fast greifen kann! Jetzt bekommt er Angst, am Ende, am Ziel… sieh nur seine Augen an! Wie ein Ochse im Gewitter schaut er drein! Nikolaj Michaj-lowitsch, nicht ein Wörtchen mehr will ich davon hören. Wassi-lissa, was sagst du dazu?«

«Du solltest auf Nikolaj hören, ist meine Meinung.«

«Wegfliegen nach Leningrad?«

«Ja… so schnell wie möglich.«

Mit einem langen Blick betrachtete Wachter seinen Sohn und die so kluge Jablonskaja, schüttelte wie in großer Wehmut den Kopf, stand auf und verließ das Zimmer. In seinem Schlafraum setzte er sich aufs Bett, holte seine alte Reise-Ikone vom Bord, stellte das geöffnete Triptychon auf seine Knie und fuhr mit dem Zeigefinger über die Figur des segnenden Christus.»Herr, laß mich jetzt nicht allein«, sagte er leise.»Vor der Erfüllung meines Lebens stehe ich. Laß sie mich noch erleben.«

Es war wirklich ein Zufall, daß Friedrich Silbermann nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus die New York Times des Tages zu lesen bekam, an dem die Suchanzeige darin erschien. Seit einer Stunde erst zurückgekehrt in seine Wohnung in Würzburg, klingelte es an seiner Tür, und als er öffnete, standen ein Major und ein Captain der US-Army vor ihm.»Kommen Sie rein!«sagte Silbermann und machte die Tür frei. Auf den ersten Blick erkannte er, daß es Männer vom Geheimdienst waren. Zu lange war er selbst dabeigewesen, um nicht sofort zu erkennen, wen er vor sich hatte.

Der Major und der Captain betraten die Wohnung, ohne sich vorzustellen, und hätten sie es getan, wären es falsche Namen gewesen.

«Es freut mich, daß Sie gekommen sind«, sagte Silbermann freundlich.»Whiskey? Nein? Es ist echter Bourbon, Gentleman. Nicht? Bitte, setzen Sie sich. Lassen Sie mich raten, warum Sie gekommen sind: Sie wollen sich für Ihren Verein entschuldigen. Stimmt's? Ich weiß nur nicht, wer's war… das OSS oder das CIC? Und ich fragte mich immer wieder in diesen Wochen: Warum nur Stichverletzungen! Warum nicht einen sicheren Stich ins Herz oder eine Kugel zwischen die Augen? Zu meiner Zeit hat man da sauberer gearbeitet.«

«Ich weiß nicht, Fred, wovon Sie reden«, sagte der Major ungerührt. Silbermanns Worte zeigten keine Wirkung.»Wir ha-ben von diesem Überfall auf Sie gehört, und wir sind hier, weil wir Sie noch immer als einen der Unseren betrachten. Wir wollen Ihnen helfen.«

«Die Fürsorge des OSS ist rührend. «Silbermann goß sich einen Bourbon ein.»Wie soll mir geholfen werden?«

«Zunächst mit einem Rat: Kehren Sie in die Staaten zurück.«»Ich bin Dozent in Würzburg und fühle mich hier wohl.«»Warum reden wir so dumm herum, Fred. «Der Captain, ein forscher junger Mann, beugte sich im Sitzen vor.»Was Sie hier in Deutschland tun, wissen wir genau.«

«Natürlich, das ist ja auch Ihre Aufgabe.«

«Muß das sein?«

«Ja. Oder wissen Sie, wo das Bernsteinzimmer geblieben ist?«

«Es geht hier nicht um dieses dumme Zimmer, Fred!«sagte der Major ärgerlich.»Die Regierung möchte, daß endlich das Gerede aufhört, unsere Truppen hätten 1945 Kunstschätze geklaut wie die Elstern. Immer wieder kommt das in der deutschen und internationalen Presse hoch. Wir stehen schlechter da als die Russen! Hier, lesen Sie nachher mal durch, was man so alles über den Nazischatz schreibt, den wir mitgenommen haben sollen!«Der Major warf eine New York Times auf den Tisch, beugte sich nach vorn, nahm Silbermann das Glas aus der Hand und trank den Bourbon aus.»Wenn jetzt auch Sie, Fred, noch einen großen Rummel um dieses Bernsteinzimmer machen, hört das Gerede nie auf.«

«Es wird keinen Rummel geben… ich werde lautlos suchen.«»Angenommen, Sie entdecken das Bernsteinzimmer.«

«Das wäre der Triumph meines Lebens.«

«Was dann? Dann stoßen Sie aber in die Posaune, damit wie damals die Mauern von Jericho einstürzen. Nur ist's nicht mehr Jericho, sondern Washington! Fred, wir haben Ihre Berichte von 1945 studiert. Danach sind die zwanzig Kisten zusammen mit drei Trucks und drei GIs verschwunden. Verantwortlich waren also wir.«

«Das stimmt. Ich habe das damals als eine persönliche Niederlage empfunden, und die will ich nun aus meinem Leben streichen. Das kann doch jeder verstehen.«

«Natürlich, Fred… aber die Zeiten und die Politik haben sich seitdem gründlich verändert. Der Osten ist der große schwarze Mann, und wir müssen sauber sein, ganz sauber. Dieser häßliche Fleck durch den Kunstraub muß weg, Fred. Machen Sie ihn nicht noch größer… das ist unsere Bitte. «Der Major lehnte sich zurück in den Sessel.»Fred, Sie sind Dozent in Würzburg. Reizt Sie nicht eine Professur in Princeton?!«

«Nein. Ich heiße auch nicht mehr Fred Silverman, sondern Friedrich Silbermann. Ich werde wieder Deutscher sein. Meine Familie hat man in den KZs vernichtet, ich konnte noch flüchten… jetzt bin ich zurückgekehrt, weil ich trotz allem Heimweh hatte. Lassen Sie mich in Ruhe, Gentlemen… verfolgen Sie mich nicht. Wir sind genug verfolgt worden als deutsche Juden… jetzt sollen Sie mich in Ruhe lassen als einen endlich Heimgekehrten.«

Es gab keine Diskussion mehr, kein Thema, das man noch besprechen konnte. Der Major und der Captain erhoben sich, setzten ihre Mützen auf und verließen nach einem freundlichen»Überlegen Sie sich's, Fred!«die Wohnung.

Silbermann kehrte ins Zimmer zurück, goß sich einen neuen Whiskey ein, den anderen hatte ja der Major ausgetrunken, faltete die New York Times auseinander und suchte den Artikel über den Kunstraub der Amerikaner. Beim Durchblättern sah er aus den Augenwinkeln auch die umrandete Anzeige, stutzte, weil er meinte, seinen Namen gelesen zu haben, blätterte zurück und las den Text.

Das bin ich, dachte er, teils verwundert, teils erschrocken. Ja, das bin ich! Jemand sucht mich… ein Informant, oder ist es eine Falle? Entscheide dich, Fred — fährst du hin oder vergißt du die Anzeige?

Noch am selben Abend erreichte er Frankfurt mit dem D-Zug München-Köln, fuhr mit dem Taxi zum Hotel» Frankfurter Hof «und bekam sogar noch ein Zimmer. Die Halle war mit einem großen Tannenbaum und vielen Tannenzweigen geschmückt, und jetzt erst kam Silbermann voll zu Bewußtsein, daß morgen Heiligabend war, ein Abend, der jedes Jahr seiner Kindheit bestimmt hatte. Es gab dann immer Honigkuchen und Pfeffernüsse, alles im Haus roch nach Lebkuchen und Vanille, und Manna gab es, ja Manna, das Festbrot der Juden. Er hatte es nie gemocht, aber immer tapfer gegessen, um auch Stollen und Schokoladenprinten zu bekommen.

Tapfer, dachte er. Bin ich jetzt tapfer? Wage ich das Leben, um das Bernsteinzimmer zu bekommen? Wohin soll mich diese Anzeige locken? Wieso setzt man voraus, daß ich in den USA die New York Times lese? Wer kennt mich in Frankfurt? Den Heiligen Abend feierte er allein im Restaurant des Hotels. Am 1. Weihnachtstag ließ er sich mit einem Taxi durch die in der Anzeige angegebene stille Straße in der Nähe des Zoos fahren und musterte im Vorbeifahren das Haus, in dem er erwartet wurde. Wer ist es, fragte er sich, verdammt, wer ist es? Das Taxi fuhr an einem parkenden VW vorbei, und Silbermann achtete ebensowenig darauf, wie Joe Williams das Taxi nicht interessierte.

Warten wir es ab, dachte Silbermann. Beobachten wir erst mal das Haus. Ihr könnt euch doch denken, Jungs, daß ein alter Fuchs des Geheimdienstes nicht so ohne weiteres in eine Falle tappt! Ein paar Tage Zeit haben wir alle…

Er beschloß, im neuen Jahr, vielleicht am 3. Januar 1957, das Haus zu betreten, mit einer Smith & Wesson im Gürtel. Im Hotel übte er dann drei Tage lang das blitzschnelle Ziehen, stand vor dem Spiegel, rief hopp und riß die Waffe aus dem Gürtel.

«Du wirst nie ein Gary Cooper!«lachte er einmal sein Spiegelbild an.»Und der alte Wayne kann's auch besser! Aber für Frankfurt muß es reichen. Man muß nur immer eine Sekunde schneller sein…«

Zwischen Weihnachten und Neujahr beobachtete er das Haus. Er hatte sich ein Auto geliehen, und ein paar Mal begegnete er einem VW, aber keiner achtete auf den anderen.

Das ist ein Scheißspiel, dachte Joe Williams in diesen Tagen. Kommt er, oder kommt er nicht?! Hat er die Anzeige gelesen? Wie lange soll ich hier auf der Lauer liegen? Wochenlang? Ihr verdammten Russkis, fahrt doch endlich zurück nach Moskau -

Am 3. Januar, wie er es sich vorgenommen hatte, wagte es Silbermann, vor dem Haus anzuhalten und aus dem Wagen zu steigen. Wie ein Schlag traf es Joes Herz. Er parkte an der Straßenecke und beobachtete das Haus mit einem Fernglas. Er ist es! Wirklich, er ist es. Captain Fred Silverman. Der einzige, der nie an einen Überfall des» Werwolfs «geglaubt hatte. Der einzige, der ahnte, daß das Bernsteinzimmer nicht für immer verschollen war.

Fast körperlich spürte Joe die Gefahr.

Er sah, wie Silverman das Haus betrat, und wußte, daß Zögern eine Art von Selbstmord geworden war. Er spreizte die Finger, umklammerte dann das Lenkrad und wurde so kalt, von den Zehen bis zur Hirnschale, als sei heute eine Neumondnacht.

Nikolaj öffnete die Tür, als die Klingel schrillte. In der Hand hielt er eine russische Pistole, eine 9-mm-Makarow. Im Durchgang zum Wohnzimmer hatte sich die Jablonskaja an die Wand gedrückt und hatte die Finger am Abzug einer kleineren, aber mit zwanzig Schuß im Magazin schnelleren Stechkin. Wie es auch kommen würde… die eine Sekunde Vorsprung hatte Silbermann nicht mehr.

«Ja?«fragte Nikolaj und musterte den ihm fremden Mann.»Sie wünschen?«

Er sprach deutsch, und Silbermann antwortete ihm auf deutsch.

«Sie haben mich eingeladen«, sagte er und blickte auf die Makarow.»Der Text der Anzeige klang so freundlich… um so unfreundlicher ist der Empfang.«

«Captain Fred Silverman?«

«Zuletzt Major. Und heute Friedrich Silbermann.«

«Kommen Sie herein. «Nikolaj hob die Pistole, als Silbermann in die Diele trat. Rasch stieß er die Tür zu.»Haben Sie eine Waffe?«

«Ja. Sie doch auch.«

Nikolaj streckte die linke Hand aus.»Geben Sie her…«»Nein! Warum? Warum sollte ich schießen? Sie wären immer im Vorteil.«

«Das stimmt. «Nikolaj zeigte auf die Tür zum Wohnzimmer.»Gehen Sie weiter.«

Silbermann nickte, setzte sich in Bewegung, trat in das Wohnzimmer, sah aus dem Augenwinkel Wassilissa mit ihrer Stech-kin stehen und vor sich einen Mann aus dem Sessel springen.»Silverman! Sie sind es wirklich!«rief der alte Mann und streckte beide Arme nach ihm aus.»Erkennen Sie mich noch? 1945… Salzburg, Schloß Kiessheim…«

«Wachter! Ja, Sie sind Wachter… der Mann vom Bernsteinzimmer.«

Sie stürzten aufeinander zu, umarmten sich, klopften sich auf den Rücken, betrachteten sich dann mit ausgestreckten Armen, und Wachter sagte:

«Sie haben sich kaum verändert, Herr Silbermann.«

«Auch Sie nicht, Herr Wachter. Ein bißchen älter sind wir geworden, faltiger und um die Hüften dicker. Aber Kraft haben wir noch genug, nicht wahr?«

Es wurde ein wundervoller Abend. Sie tranken Rheinwein, Wassilissa buk Pelmeni und servierte nach russischer Art Lauchzwiebeln und eingelegte Gurken.

Silbermann erzählte von seinen diplomatischen Diensten in Neuseeland und China, Wachter berichtete stolz von seinen Enkeln Peter und Janina und den vielen Ehrungen, die er zum 70. Geburtstag empfangen hatte, bis die Jablonskaja eine Flasche Wodka auf den Tisch stellte und sagte:

«Genug mit der Vergangenheit. Sprechen wir von Gegenwart und Zukunft: Mr. Silverman, wie war das damals mit dem Bernsteinzimmer? War es wirklich im Salzbergwerk von Merkers?«

«Ja. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen und eine große Wandtafel dem damaligen General Eisenhower gezeigt. Ein Irrtum ist ausgeschlossen. Es war keine andere Bernsteinarbeit.«

«Und jetzt rekonstruieren wir mal alles«, sagte die Jablonskaja und holte einen Bogen Papier heran.»Ein Mosaik besteht aus vielen kleinen Steinchen. Suchen wir sie uns zusammen…«

Bis zwei Uhr morgens blieb Silbermann im Haus. Geduldig wartete Joe Williams am Ende der Straße.

Er sah Silbermann herauskommen, begleitet von dem älteren Russen, der seinem Gast auf die Schulter klopfte. Aber er konnte nicht hören, was Wachter sagte:»Jetzt machen wir das alles gemeinsam, Friedrich. Ich bin wie du davon überzeugt, daß das Bernsteinzimmer jetzt in Amerika ist. Wenn wir seinen Weg nachvollziehen, finden wir es. Zwanzig große Kisten kann man nicht über den Atlantik blasen… Sei vorsichtig, Friedrich, die Schüsse auf uns beweisen, daß wir den Räubern dicht auf den Fersen sind.«

Silbermann nickte, stieg in seinen Wagen und fuhr davon. War's der Wein, oder war er wirklich unaufmerksam… zwei Ecken weiter, als er in die Hauptstraße einbiegen wollte, stieß er mit einem VW zusammen. Kein großer Knall, kein großer Schaden, nur verbogenes Blech, beim Einbiegen fährt man ja langsam.

Er stieg aus, der Fahrer des VW stürzte wie ein wütender Stier aus seinem Auto und schrie sofort:»Sind Sie blind? Ich komme von rechts! Wohl besoffen, was? Auf Hurentrip?!«Ehe es Silbermann begriff oder antworten konnte, bekam er einen wohlgezielten Schlag gegen das Kinn, genau auf den Punkt, ein klassischer K.-O.-Schlag. Silbermann fiel sofort um, der Fahrer des VW zerrte ihn zu seinem Wagen, zog den Ohnmächtigen auf den Hintersitz und raste davon.

Er fuhr aus Frankfurt hinaus in Richtung Kronberg im Taunus, hielt am ersten Waldstück an, fesselte Silbermann mit unzerreißbaren Nylonschnüren und setzte dann seinen. Weg fort. Als er hörte, daß sich hinter ihm der Gefesselte bewegte, hob er die Hand, winkte und sagte fröhlich:

«Hallo, Sir. Wie geht's? Ich bitte um Verzeihung, Captain, aber dieser kleine Trick mußte sein. Nicht nur in den Staaten gibt es Kidnapping.«

«Wer sind Sie?«fragte Silbermann mit ruhiger Stimme.»Brooks oder Williams?«»Joe Williams, Sir. Erstaunlich, Sie kennen unsere Namen noch?«

«Die habe ich mir gemerkt wie einmal zwei gleich zwei ist! Das mit dem >Werwolf< war eine gute Idee, gerade um diese Zeit… aber ich habe es nie geglaubt. Nur Noah hättet ihr nicht umbringen sollen.«

«Er war zu dämlich für die weiteren Aktionen, Sir. Er liebte die blonden, weißhäutigen Mädchen zu sehr und hätte ihnen im Bett stolz seine Heldentaten erzählt. Ein zu großes Risiko für uns.«

«Ihr habt also das Bernsteinzimmer?«fragte Silbermann d-rekt.

Und ebenso direkt und ohne Zögern antwortete Joe:»Ja, Sir. Ich fahre Sie hin, Captain.«

Joe hörte, wie Silbermann an seinen Fesseln zerrte, aber gegen Nylonschnüre war nichts zu machen. Jetzt ahnt er, wohin wir fahren, dachte Joe kalt. Jetzt hat er ein Gefühl im Leib, als müsse er scheißen. So ist das Leben, Sir, und so wird's immer sein: Es gibt Sieger und Besiegte. Sie sind ein harter Bursche, das weiß jeder… verlieren Sie mit Anstand, Captain.

«Was du auch vorhast«, sagte Silbermann, ruhig wie bisher,»es nützt dir gar nichts. Ich habe mit den Leuten aus Leningrad gesprochen, sie wissen alles.«

«Sie wissen ebensowenig wie Sie, Sir. Nur Sie kennen mich… für alle anderen bleibt das Verschwinden des Bernsteinzimmers ein Rätsel. Nur über mich kann man an das Zimmer heran. Aber wer weiß das?! Amtlich bin ich tot, den Namen habe ich gewechselt, man kann mich nur bekommen, wenn man mein Gesicht kennt. Und an das erinnert sich nur noch einer: Sie, Captain. Sehen Sie bitte ein, daß ich mich schützen muß. Der Selbsterhaltungstrieb des Menschen ist fast so groß wie der Geschlechtstrieb. Er beherrscht den Menschen. Sir, Sie hätten in den USA bleiben sollen, statt einem Phantom nachzujagen. Denn ich bin ein Phantom geworden und werde immer eins bleiben.«

«Verrückt sind Sie, Joe, verrückt. Weiter nichts! Was wollen Sie mit dem Bernsteinzimmer. Einen solchen internationalen

Kunstschatz werden Sie nie verkaufen können! Und in Einzelteile zerbrochen, ist er nichts wert! Nur als Ganzes! Joe, sagen Sie mir, wo das Bernsteinzimmer ist… und ich vergesse Sie. Ist das ein Wort?«

«Ein sinnloses Wort, Sir. Ich habe nicht die Absicht gehabt, das Bernsteinzimmer zu verkaufen. Ich habe Geld genug. Millionen Dollar, Captain. Geerbt von meinem lieben GangsterDaddy. Und jetzt verhandeln Sie nicht weiter… ich höre Ihnen nicht mehr zu.«

Am 7. Januar fanden Skiläufer in einer Burgruine im Taunus eine nackte, steifgefrorene Leiche. Der Körper war von Messerstichen durchbohrt, ein langes, dolchähnliches Messer und ein Skalpell lagen neben ihm. Der Tote war verblutet… um ihn herum war das Blut zu einem Eissee erstarrt. Am schrecklichsten aber war die Wunde in der Körpermitte: man hatte ihm den Bauch aufgeschlitzt. Ein wahnsinniger Blutrausch mußte den Mörder erfaßt haben.

Der Tote hatte keine Papiere bei sich, seine Kleidung wurde gefunden, aber auf einem Foto, das alle Zeitungen veröffentlichten, erkannte Wachter den Ermordeten sofort.

«Das ist das Ende — «, sagte er. Jetzt war er ein gebrochener, alter, zittriger Mann.»Jetzt werden wir das Bernsteinzimmer nie wiedersehen. Wer auch dahintersteckt… er war stärker und schneller als wir. Nun gibt es keinen Weg mehr zu ihm. Mit Silbermann ist alle Hoffnung gestorben.«

Sie riefen die Polizei an, fuhren in das Gerichtsmedizinische Institut und identifizierten die Leiche. Wassilissa hatte eine langstielige rote Rose mitgebracht und legte sie Silbermann auf die nackte Brust, Wachter streichelte ihm die vereisten Hände, und Nikolaj hielt seinen Vater von hinten fest, als er zu weinen begann und unsicher auf den Beinen wurde.

Sie warteten noch das Begräbnis ab, standen dann am zugeschaufelten Grab zusammen mit zwei Kriminalbeamten, einem Grab, das sie mit den Dollars bezahlt hatten, die sie in der Würzburger Wohnung gefunden und dann bei der Polizei abgeliefert hatten. 163 000 Dollar waren es, ein riesiges Vermögen, und Wachter fragte:»Was wird damit?«»Wir werden in den USA nach Erben suchen.«

«Und wenn er keine Erben hat? Wäre es nicht sinnvoll, die 163 000 Dollar dem Unterstützungsfonds der deutschen Juden zu überweisen?«fragte Nikolaj.

«Das geht nicht. «Der Beamte sah Nikolaj erstaunt an.»Es liegt ja kein Testament vor. Wir können das Geld nur einziehen.«

«Und so beerbt ein Staat, der eine ganze Familie ausrottete, auch noch den letzten Überlebenden.«

«Ich glaube, Sie sehen das falsch!«Der Beamte bekam einen steifen Rücken und wurde etwas verkniffen.»Sie können das nicht verstehen… Sie sind Russe!«

«Gehen wir. «Wachter faßte seinen Sohn unter und verließ die Behörde. Und draußen — es war ein sonniger Wintertag mit einem klaren blauen Himmel wie über Leningrad — sagte er mit fester Stimme:»Laß uns zurück nach Puschkin fahren, Söhnchen. Hier haben wir nichts mehr zu suchen. Das Bernsteinzimmer ist verloren… für alle Zeit… und voll Blut ist es jetzt auch. Gott war uns nicht gnädig… und ich weiß nicht, warum. «Die Gnade Gottes aber ließ ihn vierundneunzig Jahre alt werden.

An einem Junitag im Jahre 1980 fanden Nikolaj und sein Sohn Peter den Alten wie immer im Bernsteinzimmer auf dem Stuhl sitzend, auf dem er vierundsechzig Jahre als Wachter und Betreuer gesessen hatte. Er hatte den Kopf nach hinten an die kahle Wand gelehnt, blickte in den Himmel, in das Deckengemälde mit den allegorischen Darstellungen, hatte die Augen weit geöffnet und atmete nicht mehr.

Nikolaj, nun auch schon ein Mann von zweiundsechzig Jahren, und der Enkel Peter, ein hübscher Bursche von dreiunddreißig Jahren, trugen ihn auf seinem Stuhl sitzend aus dem leeren Bernsteinzimmer hinüber in die Wohnung. Und als sie ihn auf das geliebte alte geschnitzte Sofa legten, sagte Jana Petrowna leise:»Wie glücklich er aussieht. Geträumt hat er von seinem Zimmer und hat es mitgenommen in die Ewigkeit. Nun bist du zufrieden, Väterchen, nicht wahr? Erfahren hast du noch, daß man es nachbauen will. Es wird das Zimmer wieder geben, dein Bernsteinzimmer… und ein Wachter wird es wieder pflegen, dein Sohn Nikolaj oder dein Enkel Peter. Väterchen, ruhe dich aus im Himmel.«

«Das war die schönste Grabrede, die er bekommen konnte«, sagte Nikolaj und legte den Arm um Jana Petrowna.»Wir sollten nicht um ihn weinen… wir sollten ihn bewundern. Was ist Treue, sollten wir immer fragen. Was ist Liebe? Und wir werden immer antworten: Sieh dir Michail Igorowitsch an, dort an der Wand hängt sein Bild, sieh ihm in die Augen und du weißt, was Liebe und Treue ist.«

Sie setzten sich alle um den Toten, Nikolaj, Jana, Peter und Janina. Jana steckte eine Kerze an und stellte sie an den Kopf des Alten, und so wurde es Abend, das flackernde Licht der Kerze war der einzige Schein, und die langen Jahre kehrten zurück und brachten Dankbarkeit mit… Dankbarkeit für ein schönes, wildes, umkämpftes und erfülltes Leben.

Ein Mensch sollte immer dankbar sein, für jeden Tag, jede Stunde, denn das Leben verrinnt und wäre umsonst gelebt ohne Dankbarkeit -