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10.
Köln
29. Mai 1096
»Setzt euch, meine Freunde! Setzt euch und hört, was unser hoher Gast zu berichten hat!«
Eine neue Sitzung des Gemeinderats war einberufen worden, in aller Eile und zu nächtlicher Stunde, was darauf schließen ließ, dass etwas Ernstes vorgefallen sein musste. Und keines der anwesenden Ratsmitglieder, noch nicht einmal Mordechai Ben Neri, konnte sich der Unruhe entziehen, die in der Synagoge um sich griff. Ein Tuscheln und Wispern erfüllte das ehrwürdige Gotteshaus und drang hinauf bis in die Kuppel. Unbestimmte Furcht lag in der Luft, die durch den unerwarteten Besuch noch zusätzlich genährt wurde.
Der Mann, der neben Parnes Bar Levi auf einem Schemel saß und darauf wartete, dass die elf Mitglieder des Rates ihre Plätze einnahmen, mochte an die fünfzig Jahre alt sein. Er hatte graues Haar, und seine Haltung war ähnlich gebückt wie die des Vorstehers – allerdings wohl nicht infolge seines Alters, sondern der Strapazen wegen, die hinter ihm lagen. Seine Kleidung, die aus einem gestreiften Mantel und schäbigen Sandalen bestand, war zerschlissen, seine Züge ausgemergelt und schmutzig wie bei jemandem, der eine lange und beschwerliche Wanderschaft hinter sich hatte. Seine Augen jedoch verrieten nicht nur Erschöpfung, sondern starrten in stillem Entsetzen.
Auch wenn er sich seit ihrer letzten Begegnung sehr verändert hatte – Isaac kannte den Mann.
Es war Kalonymos Ben Meschullam, der Oberrabbiner von Mainz – und Isaac war klar, dass es nichts Gutes zu bedeuten hatte, wenn der oberste Lehrer einer anderen Gemeinde nächtens nach Köln kam und deswegen eine Sitzung einberufen wurde.
»Was gibt es?«, fragte Mordechai ungeduldig. »Warum bringt Ihr uns um unseren verdienten Schlaf, ehrwürdiger Parnes?«
»Weil es Dinge gibt, von denen ihr umgehend erfahren müsst, meine Freunde«, entgegnete Bar Levi mit tonloser Stimme. Überhaupt wirkte der Vorsteher der Kölner Gemeinde, als wäre er einem fürchterlichen Dämon begegnet, so kreidebleich waren seine Züge und so verstört sein Blick. »Den meisten von euch dürfte Kalonymos, der Oberrabbiner von Mainz, bekannt sein. Schon zu früheren Gelegenheiten hat er uns besucht, um an den Beratungen der Gelehrten teilzunehmen. Diesmal jedoch ist er aus einem anderen Grund zu uns gekommen. Kalonymos, ich bitte Euch, berichtet dem Rat, was Ihr mir berichtet habt.«
Der andere nickte. Er schien nicht fähig, den Ratsmitgliedern in die Augen zu sehen, und so starrte er zu Boden, während er nach passenden Worten suchte. Dabei atmete er schwer und wankte auf seinem Hocker wie jemand, der eine schwere körperliche Anstrengung bewältigt hatte. Akiba, der Rabbiner, der links von ihm saß, ergriff schließlich seinen Arm und flüsterte ihm einige beruhigende Worte zu. Daraufhin nickte der Besucher und begann mit heiserer Stimme zu berichten.
»Vor wenigen Tagen ist es in unserer Stadt zu einem grässlichen Blutbad gekommen. Der Graf Emicho und die Seinen sind nach Mainz gelangt, und was sie unter unseren Leuten angerichtet haben, ist … ist kaum zu …« Er stockte. Tränen traten ihm in die Augen, die an seinen hohlen Wangen herabrannen und im grauen Staub, der sein Gesicht bedeckte, gezackte Spuren hinterließen.
Die Ratsmitglieder tauschten Blicke, einige davon furchtsam, andere verwirrt, wieder andere in trotzigem Zweifel. Isaac schloss die Augen, ahnend, dass sich nun bewahrheiten würde, was er schon seit geraumer Zeit befürchtet hatte.
»Ich bin gekommen«, fuhr der Rabbiner aus Mainz fort, »um euch zu warnen, meine Freunde. Schreckliches ist geschehen. Blut ist geflossen und grausame Verbrechen wurden verübt. So viele von uns sind tot, erschlagen von Emichos Schergen.«
»Dann ist es also wahr? Die Christen führen wirklich Krieg gegen uns?«, fragte Elija, der Bäcker.
»Nein.« Kalonymos schüttelte traurig das Haupt. »Kriege, mein Freund, werden auf dem Schlachtfeld ausgetragen, im offenen Kampf Mann gegen Mann. Emicho und seine Schlächter hingegen haben auch Frauen und Alte ermordet. Und sogar die Kinder …« Er hielt erneut inne. Seine vom Kerzenschein beleuchteten Züge verzerrten sich, und Krämpfe schüttelten ihn, aber es kamen keine Tränen mehr aus seinen Augen, so als hätte er sie bereits alle vergossen und wäre innerlich verdorrt angesichts der durchlebten Schrecken.
»Berichtet von Anfang an, Rabbi«, bat Bar Levi sanft. »Wir schätzen es überaus, dass Ihr zu uns gekommen seid. Aber um entscheiden zu können, was zu tun ist, müssen wir alles erfahren.«
Kalonymos nickte, und sein Blick, der nach wie vor auf den Boden gerichtet war, nahm einen entrückten Ausdruck an. Eine endlos scheinende Weile verging, in der der Rabbiner offenbar die Wirrnis seiner Gedanken zu ordnen suchte, und den Schatten nach zu urteilen, die dabei über seine ausgezehrten Züge huschten, begegnete er dabei namenlosem Grauen. In der Synagoge wurde es so still, dass man eine Nadel fallen gehört hätte.
»Es begann vor vier Tagen«, begann der Rabbiner mit festerer Stimme als zuvor. »Sicher haben auch euch die beunruhigenden Nachrichten über jene Vorfälle erreicht, die sich in Worms zugetragen haben sollen. Auch wenn sie noch unbestätigt waren, wollten wir dennoch Vorsicht walten lassen und haben uns in den Schutz des Erzbischofs begeben, den wir alle als milde und gerecht kennen.«
»Eine weise Entscheidung«, anerkannte Mordechai und schaute Beifall heischend reihum, doch keines der Ratsmitglieder erwiderte seinen Blick. Aller Augen waren wie gebannt auf den Oberrabbiner gerichtet, der mit gepresster Stimme fortfuhr.
»Angesichts der herannahenden Gefahr durch den Grafen Emicho und die Seinen haben wir Erzbischof Ruthard dreihundert Silberstücke übergeben, auf dass er uns seinem Schutz unterstelle. Er versprach, sich jeder Gefahr entgegenzustellen und uns nötigenfalls in seinem Hause Zuflucht zu gewähren.«
»Und dann? Was ist dann geschehen?«, wollte Usija, der Gehilfe des Kölner Rabbiners, wissen.
»Graf Emicho und seine Horde gelangten vor die Tore der Stadt. Die Hetzreden, die die Wanderprediger seit einiger Zeit gegen all jene führen, die nicht christlichen Glaubens sind, hat viele hervorgebracht, die das Haus Jakob abgrundtief hassen. Er jedoch ist der schrecklichste von allen. Zwei Tage lang lagerten seine Truppen vor der Stadt, und noch immer gab ich mich der Täuschung hin, ihre Zerstörungswut und ihr grundloser Zorn könnten mit materiellen Gütern besänftigt werden. Auf meine Empfehlung hin entrichtete die Gemeinde eine Zahlung von sieben Pfund reinen Goldes an den Grafen, worauf uns Sicherheit und freies Geleit zugesichert wurde. Als die Stadttore jedoch geöffnet wurden, zogen die meisten von uns es dennoch vor, sich in den Schutz der Bischofssitzes zurückzuziehen – und das aus gutem Grund.«
Die Augen des Oberrabbiners wurden glasig, als die Gräuel der Vergangenheit erneut vor ihnen Gestalt annahmen. »Kaum dass sie ihren Fuß in die Stadt gesetzt hatten, fing es an«, berichtete er mit tonloser, fast flüsternder Stimme. »Diejenigen von uns, die sich entschlossen hatten, in ihren Häusern zu verbleiben, wurden an den Haaren auf die Straßen geschleift und durch Kot und Schmutz gezerrt, ehe sie schließlich grausam ermordet wurden. Ihre Häuser wurden gestürmt und ihre Habe geplündert. Sodann zogen der Graf und seine Männer vor die Mauern des Bischofssitzes und verlangten unsere sofortige Herausgabe.«
»Und der Bischof? Was hat er getan?«, wollte Mordechai wissen.
Der Rabbiner schnaubte voller Verachtung. »Die Schulden, die wir ihm erlassen, und die weiteren zweihundert Silberstücke, die wir ihm bezahlt hatten, hatte er bereitwillig angenommen. Als des Grafen Horde jedoch die Stadt betrat, da flüchteten Ruthard und seine Soldaten und ließen uns schutzlos zurück.«
»Er … er ist geflohen?« Verzweifelter Unglaube schwang in Mordechais Frage mit.
»Hatten wir ernsthaft erwartet, dass ein Christ das Schwert gegen einen Christen erheben würde, um einen Juden zu verteidigen?« Kalonymos schüttelte den Kopf. »Wie töricht wir waren.«
»Und dann? Was ist dann geschehen?«, fragte ein anderer Vornehmer bange.
»Wir alle, die wir uns in den bischöflichen Palast geflüchtet hatten, bewaffneten uns, so gut wir es vermochten – doch gegen die Wut, mit der Emichos Schergen gegen die Mauern anrannten, konnten wir nichts ausrichten. Nach wenigen Stunden fiel das Tor, und der Graf und seine Schlächter fielen über uns her. Ein schreckliches Morden entbrannte, dem unzählige unserer Schwestern und Brüder zum Opfer fielen. Auch Josua, mein geliebter Sohn, ist unter den Toten«, fügte der Oberrabbiner leise hinzu. »Er stellte sich zwei Soldaten entgegen, die sich seiner Frau und seiner beiden Söhne bemächtigen wollten, aber sie schlugen ihn nieder. Der eine durchbohrte ihn mit dem Schwert, der andere zerrte ihm die Kleidung herab und beraubte ihn seiner Männlichkeit. Jetzt, brüllte er, sei er rechtmäßig beschnitten. Dann durchstießen sie seinen Söhnen die Kehlen und vergingen sich an seiner Frau.«
»Und Ihr?«, erkundigte sich Mordechai, dessen Züge inzwischen rot vor Zorn und Empörung waren. »Was habt Ihr getan?«
»Ich fiel nieder, wo ich stand. Was hätte ich auch tun sollen als Greis, der ich bin? Den grausamen Kriegern Widerstand leisten, denen unsere jüngsten und kräftigsten Männer nicht widerstehen konnten? Nach allem, was ich gesehen hatte, wollte ich nicht mehr leben, und ich wartete nur darauf, dass blutgetränkter Stahl mich treffen und durchstoßen würde. Aber aus einem Grund, den ich nicht zu durchschauen vermag, hielt Gott seine schützende Hand über mich. Jemand zog mich auf die Beine und riss mich mit fort. An das, was dann geschehen ist, erinnere ich mich nicht. Aber als ich wieder zu mir kam, war ich in der bischöflichen Sakristei, in die sich rund fünfzig von uns geflüchtet hatten. Einen Tag und eine Nacht lang harrten wir dort aus, umgeben vom Geschrei der Sterbenden und vom Gebrüll der Mordbrenner, und rechneten jeden Augenblick damit, entdeckt und ebenfalls getötet zu werden. Aber dann zogen sie schließlich ab.«
Jakob, der Gabbai, der einmal mehr über das Gesprochene Buch geführt und es in kurzen Worten festgehalten hatte, schaute von seinem Pergament auf. Die Feder in seiner Hand bebte. »Wollt Ihr damit sagen, dass … dass nur jene fünfzig, die sich in der Sakristei verbargen, den Überfall überlebt haben?«
»Ich will damit sagen«, entgegnete Kalonymos düster, »dass jene fünfzig – zumeist Alte, Kinder und Schwache – zunächst entkommen sind. Doch blieben sie weiterhin den Nachstellungen des Feindes ausgesetzt, und viele von ihnen starben in den darauffolgenden Tagen, als Emichos Schergen in den Wäldern eine gnadenlose Jagd eröffneten, geradeso, als gelte es, Vieh zu erlegen und Trophäen zu sammeln. Während einer nächtlichen Attacke wurde ich von den anderen getrennt. Ich lief, so weit ich nur konnte, während ihre Schreie durch die Dunkelheit gellten, immer und immer wieder, jedes Mal, wenn einer von ihnen gefangen wurde …« Er presste die Hände auf die Ohren, als könne er sich so vor den furchtbaren Lauten schützen, die er noch immer zu vernehmen schien. »Irgendwann endeten die Schreie, aber ich lief immer noch weiter. Schließlich stieß ich auf den Fluss, und ein Schiffer erbarmte sich meiner, nachdem ich ihm mein letztes Geld gegeben hatte. Auf diese Weise gelangte ich hierher, um euch zu warnen, meine Brüder. Ich weiß nicht, welcher Gunst ich es zu verdanken habe, dass ich den Schlächtern entronnen bin. Aber vielleicht«, fügte er nach einer kurzen Pause leise hinzu, »ist das Überleben ja auch keine Gunst, sondern eine Strafe.«
Erstmals schaute er auf. Nachdem er all das Schreckliche ausgesprochen hatte, das auf seiner Seele lastete, schien er sich stark genug zu fühlen, reihum zu blicken, in bleiche Mienen, die ihn mit einer Mischung aus Unglauben und Entsetzen anstarrten. »Ich wünsche niemandem von euch, jemals erleben zu müssen, was mir widerfahren ist. Über eintausend von unseren Leuten sind tot, dahingemordet in nur zwei Tagen. Das ist die traurige Nachricht, die ich euch bringe. Gott kann bezeugen, dass jedes einzelne Wort davon wahr ist.«
Das Schweigen, das sich über die Versammelten gebreitet hatte, war allumfassend. Mehr noch, die Zeit schien stillzustehen in diesem Augenblick, in dem auch dem letzten Ratsmitglied klar werden musste, dass die Regeln der alten Welt nicht mehr galten. Eine radikale Veränderung war vor sich gegangen und mit ungeheurer Grausamkeit über die Gemeinde von Mainz hereingebrochen.
Plötzlich bestand auch nicht mehr der geringste Zweifel daran, dass die Gerüchte aus Worms der Wahrheit entsprochen hatten, aber die Mehrheit der Ratsmitglieder war zu gefangen in ihrem eigenen Entsetzen, als dass sie zu logischen Schlussfolgerungen oder gar zu Selbstkritik fähig gewesen wären. Der unfassbare, jedoch durch einen Oberrabbiner verbürgte und daher glaubwürdige Mord an über eintausend Juden der Mainzer Gemeinde stand ihnen drohend vor Augen, und noch nicht einmal Mordechai Ben Neri konnte daran Zweifel haben. Und mit jedem Herzschlag, der seit dem ersten Schock verstrich, wandelte sich die Bestürzung der Ratsmitglieder in nackte Furcht und ließ die Ereignisse von Mainz zum grässlichen Menetekel werden.
»Emicho und seine Schergen, wo sind sie jetzt?«, fragte jemand zaghaft in die Stille.
»In Trier, soweit wir gehört haben«, antwortete Bar Levi, »und ihr nächstes erklärtes Ziel soll Köln sein. Die Kunde ihrer Bluttaten wird ihnen jedoch fraglos vorauseilen und womöglich auch jene ermutigen, die bereits innerhalb der Stadtmauern weilen.«
Unter den Ratsmitgliedern brach Unruhe aus. »Dann müssen wir fliehen!«, rief Daniel Mintz laut aus und sprach damit wohl den meisten aus dem Herzen. »Wir müssen die anderen Gemeinden um Hilfe ersuchen und uns und unsere Habe in Sicherheit bringen!«
Zustimmung wurde laut, vor allem die Vornehmen schienen dies für einen hervorragenden Einfall zu halten. Nicht einmal Mordechai widersprach. Bar Levi jedoch konnte ob solcher Einfalt nicht länger an sich halten und verlor die Beherrschung.
»Ihr Narren!«, rief er. »War es nicht genau das, was Ben Salomon und ich euch vorgeschlagen haben? Was ihr noch vor wenigen Tagen in aller Entschiedenheit abgelehnt und weswegen ihr ihn gar des unlauteren Wettbewerbs bezichtigt habt?«
Einige Ratsmitglieder fühlten sich ertappt und wichen den tadelnden Blicken des Vorstehers aus, andere begegneten ihnen in unverhohlenem Trotz. Auch Mordechai, obwohl ihm die Falschheit seines Handelns inzwischen aufgegangen sein musste, war offenbar nicht gewillt, dies einzugestehen.
»Was wollt Ihr uns unterstellen, Parnes?«, rief er laut. »Dass wir nicht in bester Absicht gehandelt hätten?«
»Keineswegs«, konterte Bar Levi, aus dessen kleinen, zu Schlitzen verengten Augen Verachtung sprach. »Aber Eure Absichten galten mehr Eurem Besitz und Eurem eigenen Wohl denn dem der Gemeinde!«
»Das wollt Ihr mir unterstellen? Nachdem ich für den Großteil der Zahlung aufgekommen bin, die wir zum Schutz der Gemeinde an den Erzbischof entrichtet haben? Nach den weitreichenden Garantien, die Hermann uns dafür gegeben hat?«
»Habt ihr denn nicht zugehört?«, fragte der Vorsteher unwirsch dagegen, auf den Gast deutend, der wieder in die alte Lethargie zurückgefallen war. »Auch unsere Brüder in Mainz haben sich der Obhut des dortigen Erzbischofs anvertraut, und es ist ihnen schlecht vergolten worden. Womöglich, Ben Neri, hat Eure Selbstsucht uns alle in den Untergang geführt!«
Isaac fühlte, dass er eingreifen musste. Bislang hatte er geschwiegen und sich nicht an der Versammlung beteiligt, war vielmehr damit beschäftigt gewesen, die Folgen abzuwägen, die diese jüngsten Entwicklungen haben mochten. Nun jedoch sah er sich genötigt, das Wort zu ergreifen, denn der Rat war auf dem besten Weg dazu, auseinanderzubrechen. Wenn das geschah, gab es niemanden mehr, der sich für das Wohl der Gemeinde einsetzte und mit einer Stimme für sie sprach – und dazu durfte es in Zeiten wie diesen keinesfalls kommen. Auch Isaac war wütend, allerdings nicht so sehr auf den Grafen Emicho und seine Mordbrenner oder auf Mordechai und seine Anhänger, die sich jedem vernünftigen Argument verschlossen hatten und sich erst jetzt dem Druck der Notwendigkeit beugten; es war die menschliche Natur selbst, die dem alten Kaufmann zu schaffen machte und für die er bisweilen nur noch Abscheu empfand.
»Ich glaube nicht, meine Freunde«, rief er in die Runde, noch ehe Mordechai auf Bar Levis Vorwurf reagieren konnte, »dass wir uns darüber streiten sollten, wer Schuld an dieser Katastrophe trägt, zumal sie eindeutig bei denen zu suchen ist, die das Blutvergießen begonnen haben und brandschatzend durch die Lande ziehen. Was unser Volk jetzt mehr als alles andere braucht, ist Einigkeit und kluger Ratschluss.«
»Und das sagt ausgerechnet Ihr, Ben Salomon?« Mordechais Verblüffung war echt.
»Natürlich. Denn ich bin älter als Ihr und Euch um eine wesentliche Erfahrung voraus.«
»Was für eine Erfahrung?«
»Dass der Schrecken, der bisweilen unvorhergesehen in unser Leben eindringt, uns zu Veränderungen zwingt. Inzwischen habt offensichtlich auch Ihr dies erkannt, mein Freund, doch so sehr ich Eure Einsicht schätze, so sehr fürchte ich, dass sie zu spät kommt. Die Möglichkeit, andere Gemeinden um Zuflucht zu bitten, ist bereits verstrichen, denn bis die Boten, die wir entsenden, zurückgekehrt sind, wird der mörderische Feind die Stadt längst erreicht haben. Und wir sollten nicht …«
Er verstummte, als von draußen plötzlich Lärm zu hören war.
Das heisere Gelächter mehrerer Männer.
Der schrille Schrei einer Frau.
Das Klirren von Glas.
»Was ist da los?«, wollte Samuel, der Goldschmied, wissen.
Einen schrecklichen Augenblick lang starrten die Ratsmitglieder einander fragend an. Wieder war es still geworden in der Synagoge, nur die Laute von draußen waren weiter zu hören.
Derbes Gelächter.
Entsetzte Schreie.
»Es beginnt«, sagte jemand mit furchtbarer Endgültigkeit. Entsetzen ergriff von Isaac und den anderen Ratsmitgliedern Besitz, als sie erkannten, dass es kein anderer als Kalonymos Ben Meschullam war, der dies gesagt hatte.
»Was beginnt, Rabbi?«, fragte Elija, der Brotbäcker, einfältig.
»Sie haben Kunde von den Ereignissen in Mainz erhalten«, erklärte der andere mit erschreckendem Gleichmut. »Von den Nachrichten beflügelt, ahmen sie nach, was dort geschehen ist. Euch wird das gleiche Verderben ereilen, das auch uns getroffen hat.«
Einen Augenblick lang waren aller Augen auf Kalonymos gerichtet, während die schreckliche Erkenntnis wie ein Lauffeuer um sich griff.
Es war zu spät, um noch zu fliehen.
Das Verhängnis nahm bereits seinen Lauf.
In diesem Moment war erneut ein lauter Schrei zu hören, und etwas prallte mit derartiger Wucht gegen das Tor der Synagoge, dass die Ratsmitglieder zusammenzuckten. Wieder lachte jemand, und eine Frau rief mit tränenerstickter Stimme einen Namen.
Dann erneut ein Krachen – und das Eingangstor des Gotteshauses brach aus den Angeln. Trampelnde Schritte waren zu vernehmen, und im nächsten Moment wurde der Vorhang zum Innenraum der Synagoge aufgerissen und eine wilde Meute drängte herein.
Es waren zehn, vielleicht auch mehr.
Brutal aussehende, schmutzige Gestalten in derber Kleidung, die teils an Brust und Schulter mit Eisenringen verstärkt war. Einige von ihnen hielten blanke Klingen in den Händen, andere kurze Spieße, wie sie bei der Jagd verwendet wurden. Wieder andere schwenkten primitive Totschläger aus Holz, durch das lange Nägel getrieben worden waren. Ihre Gesichter waren rot vom Wein und vom Bier, das sie getrunken hatten, ihre Stimmen laut und grölend. Fraglos gehörten sie dem rohen Pöbel an, der sich seit geraumer Zeit in der Stadt versammelte. Und die Bosheit, die aus ihren Augen sprach, verhieß nichts Gutes.
»Seht euch das an!«, rief einer von ihnen, der sich offenbar zum Anführer ernannt hatte. »Da sitzen sie beisammen und zittern! Feiglinge sind sie, einer wie der andere, sonst würden sie sich nicht hier verkriechen wie die Ratten in ihrem Loch!«
Isaacs Innerstes verkrampfte sich, weniger der Beleidigungen wegen, die der Kerl von sich gab, sondern weil er den Hass der Schläger beinahe körperlich fühlen konnte. Selten zuvor hatte er mehr sinnlose Aggression vorgefunden, und ihm war klar, dass nur blanker Fanatismus der Grund dafür sein konnte.
Den anderen Ratsmitgliedern erging es nicht anders. Eben mochten die Schrecken, von denen der Mainzer Rabbiner berichtet hatte, noch fern gewesen sein – in diesem Moment wurden sie zur greifbaren Realität. Furcht verbreitete sich und zeigte unterschiedliche Gesichter: Erschrecken und Bestürzung, unverhohlene Ablehnung und heillose Panik. Es war unstrittig, dass zusammen mit den Fremden die nackte Todesangst in die Synagoge eingedrungen war.
Einige der Gemeinderäte sprangen entsetzt von ihren Sitzen auf, die daraufhin geräuschvoll umfielen. Andere zogen die Köpfe ein, als könnten sie so vermeiden, gesehen zu werden. Kalonymos Ben Meschullam jedoch deutete mit furchtgeweiteten Augen auf die Eindringlinge und schrie so laut, dass es von der hohen Kuppel widerhallte: »Es beginnt! Es beginnt von Neuem!«
Weder kannten ihn die Eindringlinge, noch konnten sie wissen, woher er kam und was er durchlitten hatte. Aber sie sahen die Verzweiflung in seinen Augen, und das gefiel ihnen. Einige von ihnen lachten derb, während der Anführer des Trupps seinen Spieß hob und damit quer über die mit Malereien verzierte Wand fuhr. Der Putz, der sich dabei löste, hinterließ eine hässliche Narbe in der Abbildung eines Adlers, der mit weit ausgebreiteten Schwingen dargestellt war und dem nun die Flügel gestutzt worden waren.
Isaac spürte, wie sich der erste Schrecken in Zorn verwandelte. Seine Hände, die sich so fest um die seitlichen Lehnen des Hockers geklammert hatten, dass das Weiße an den Knöcheln hervorgetreten war, begannen zu zittern, und er wollte sich erheben, um der mutwilligen Zerstörungswut Einhalt zu gebieten – doch Usija, der Gehilfe des Rabbiners, kam ihm zuvor.
»Nein!«, rief der junge Mann laut, der dem Rat erst seit kurzem angehörte. Die Kippa auf dem Haupt und die Arme beschwörend erhoben, trat er den Schlägern mutig entgegen.
»Was hast du, Heide?«, fragte der Wortführer, der schon dabei gewesen war, sich unter dem begeisterten Gegröle seiner Kumpane auf das nächste Gemälde zu stürzen. »Willst du dich beschweren?«
»Brüder«, entgegnete Usija mit vor Aufregung bebender Stimme, »ich weiß nicht, was euer Eindringen in das Haus Gottes zu bedeuten hat, aber ich bitte euch …«
»Habt ihr gehört, Leute?«, fiel ihm der Anführer mit hämischem Grinsen ins Wort. »Er hat uns gerade ›Brüder‹ genannt.«
»Mir wird gleich schlecht«, behauptete ein anderer.
»… aber ich bitte euch, den Frieden im Hause des Herrn zu respektieren«, fuhr der Gehilfe des Rabbiners tapfer fort. »Die Synagoge ist ein Ort des Gebets und der Lehre. Natürlich steht es euch frei, ihn zu betreten, aber wenn ihr dies tut, dann ohne Waffen und in der Demut, die ihm gebührt.«
Das Geschrei der Eindringlinge war verstummt.
Aller Blicke hatten sich auf ihren Anführer gerichtet, gespannt, was dieser unternehmen würde.
Zunächst geschah nichts. Der Unruhestifter und der Gehilfe des Rabbiners standen einander gegenüber, und für einen Moment hatte es den Anschein, als wüsste der Schläger nicht, wie er reagieren sollte. Seine Augen, blutunterlaufen von zahllosen durchzechten Nächten, weiteten sich in schierem Unglauben, sein Mund, der ein fauliges Gebiss entblößte, klappte auf. Verstohlen schaute er nach seinen Leuten, die wiederum voller Erwartung auf ihn starrten. Nach all den großen Worten wollten sie von ihm Taten sehen – und er musste handeln, wenn er nicht als Maulheld dastehen wollte.
»Habt ihr das gehört, Leute?«, rief er deshalb effektheischend in die Runde. »Dieses elende Heidenschwein will uns vorschreiben, was wir zu tun haben! Als ob es nicht genügen würde, dass sie sich das Heilige Land unter den Nagel gerissen haben und kein Christenmensch mehr dort sicher ist, wollen sie uns jetzt auch noch sagen, was wir auf unserem eigenen Grund und Boden zu tun und zu lassen haben!«
Seine Leute bekundeten heiser ihre Empörung, und die Augen des Anführers wurden plötzlich kalt und dunkel wie die eines Raubtiers. Drohend trat er auf Usija zu, den Speer halb erhoben.
»Keineswegs«, versuchte der Gehilfe des Rabbiners sich zu rechtfertigen, während er unwillkürlich zurückwich, »ich möchte nur …«
Er verstummte jäh. Sein Mund blieb offen, seine Augen wurden glasig, und seine Robe färbte sich dunkel. Aber erst, als er nach vorn gekrümmt zu Boden fiel und die Ratsmitglieder die blutige Waffe in den Händen seines Mörders erblickten, begriffen sie, was geschehen war.
Entsetzen packte sie nun alle, selbst Isaac, der geglaubt hatte, auf alle Schrecken gefasst zu sein. Panisch sprangen auch noch die letzten von ihren Sitzen auf, wichen zur Wand zurück und drängten sich Schutz suchend aneinander, einer Herde verschreckten Viehs nicht unähnlich.
Ihre Peiniger freilich wurden dadurch noch ermutigt. Hohnlachend und mit erhobenen Waffen rückten sie vor, sprangen auf die Bima und entweihten das Podium, auf dem die Thora verlesen wurde, indem sie mit ihren schmutzigen Stiefeln darüberstampften.
»Schluss mit diesem Unfug!«, riefen sie dabei.
»Nieder mit den Heiden!«
»Die längste Zeit habt ihr unsere Städte verseucht und unsere Brunnen vergiftet!«
Und noch ehe Akiba, der Rabbiner, Bar Levi oder irgendjemand sonst begriff, welchen Frevel die Eindringlinge planten, hatten sie auch schon den Thoraschrein erreicht. Ein Aufschrei des Entsetzens gellte durch den Innenraum der Synagoge, zu mehr waren die eingeschüchterten Ratsmitglieder nicht mehr fähig. Hilflos schauten sie zu, wie der Anführer des Trupps und zwei seiner Kumpane die samtene Schutzhaube entfernten, ihre ruchlosen Hände an die Schriftrollen legten und sie unter hellem Gelächter herausrissen. Dann entrollten sie sie, warfen sie auf den Boden und trampelten darauf herum.
Rabbi Akiba verfiel in lautes Wehgeschrei, und es bedurfte der vereinten Kräfte Jakob Lachischs und Daniel Mintz’, ihn daran zu hindern, sich mit bloßen Fäusten auf die Frevler zu stürzen.
Auch Isaac Ben Salomon konnte sich nicht länger beherrschen – und anders als der Rabbiner wurde er von niemandem zurückgehalten.
»Mörder! Diebe!«, rief er. »Feinde des Herrn!«
»Was war das?« Der Anführer der Bande fuhr herum. Seine Raubtieraugen blitzten Isaac gefährlich an. »Hast du etwas gesagt, Alter?«
»Ich sagte, dass ihr Mörder und Diebe seid und Feinde des Allmächtigen«, wiederholte Isaac. Die anderen Ratsmitglieder warfen ihm warnende Blicke zu, aber es war zu spät. Seine blutige Waffe in den Händen, die Zähne gefletscht wie ein Wolf, kam der Rädelsführer auf ihn zu.
»Offenbar«, knurrte er lauernd, »ist noch nicht genug Blut geflossen heute Nacht. Hier scheint es jemanden zu geben, der seine Lektion noch nicht gelernt hat.«
»Was für eine Lektion? Dass Christen ohne Reue einen Unschuldigen töten können?«, fragte Isaac ungerührt.
Der andere stand jetzt dich vor ihm, musterte ihn aus seinen hasslodernden Augen. »Keineswegs – sondern dass unser Glaube dem euren weit überlegen ist.«
»Abgesehen von einer Meute Bewaffneter, die eine Gruppe wehrloser Männer bedrohen, kann ich keine Überlegenheit erkennen«, konterte Isaac mit einer Ruhe, die ihn selbst verwunderte. Zu seiner eigenen Überraschung empfand er kaum Furcht, was wohl daran lag, dass ihm so viel genommen worden war. Womöglich sehnte ein Teil von ihm sogar das Ende herbei, wartete nur darauf, dass der andere zustoßen und seiner Trauer ein Ende setzen würde.
»Sei vorsichtig, was du sagst, Alter«, riet ihm der andere, »oder willst du ebenfalls mit durchbohrter Brust enden?« Er senkte den Speer und richtete ihn auf Isaac, doch dieser machte keine Anstalten, zurückzutreten oder dem Stoß auszuweichen. Womöglich hätte im nächsten Moment auch ihn das spitze Eisen durchbohrt, wäre nicht jemand beherzt dazwischengetreten.
»Haltet ein und bedenkt, was Ihr tut!«
Der Judenhasser, dessen tumber Geist darauf ausgerichtet gewesen war, zum zweiten Mal in dieser Nacht zu töten, schaute den Mann, der unvermittelt hinzugetreten war, verständnislos an.
Es war Mordechai Ben Neri.
»Haltet ein«, sagte der Kaufmann aus der Enggasse noch einmal. »Ich bin sicher, dass wir diese Angelegenheit bereinigen können.«
»Wie meinst du das?«, fragte der Mörder.
»Natürlich könntet Ihr den Alten mit Leichtigkeit töten, was einen Krieger Eurer Kraft und Größe keinerlei Anstrengung kosten würde«, fuhr Mordechai fort, die Furcht, die er fraglos empfand, geschickt hinter der Fassade seiner undurchschaubaren Züge verbergend. »Einbringen würde es Euch allerdings wohl auch nichts. Lasst Ihr ihn hingegen am Leben, so will ich Euch zehn Silberstücke geben, gleich hier und jetzt.«
Isaac stand wie erstarrt vor Verblüffung. Zum einen, weil er niemals erwartet hätte, dass Mordechai Ben Neri sich für ihn einsetzen würde. Zum anderen, weil der Anführer der Schläger tatsächlich ins Grübeln geriet. Wieder schielte er nach seinen Leuten, während er offenbar abzuwägen schien, was ihm größeres Ansehen eintragen würde – klingende Münze oder der Mord an einem weiteren Juden …
»Zehn Silberstücke?«, fragte er.
»Ganz recht.«
Der Mund des Judenhassers verzog sich zu einem grausamen Grinsen.
»Was sollte mich daran hindern, Euch einfach niederzustechen und mir das Geld zu nehmen?«
»Euer Verstand. Heute Nacht trage ich nicht mehr als jene zehn Silberstücke bei mir, die ich Euch in Aussicht gestellt habe. Schon morgen jedoch bin ich womöglich bereit, das Doppelte zu bezahlen, wenn es um mein eigenes Leben geht.«
Mit einer Mischung aus Abscheu und Spott schaute der Mordbrenner ihn an. Dann ließ er unvermittelt den Speer sinken, und sein Grinsen wurde so breit, dass sein Gesicht fast auseinanderzufallen schien. Er hielt die Hand auf, und Mordechai legte ohne zu zögern die zehn Silberstücke hinein, die er in einem Beutel bei sich trug.
Dann brüllte der Anführer einen heiseren Befehl, und seine Leute und er verließen das Gotteshaus so plötzlich, wie sie eingedrungen waren. Die Thora jedoch nahmen sie mit, um weiter Schindluder damit zu treiben. Wie eine Beute hielten sie die hölzernen Rollen hoch und schleiften das handbeschriebene Pergament hinter sich her, das bereits an vielen Stellen gebrochen und eingerissen war. Wie erstarrt wohnten die Ratsmitglieder der Entweihung bei, während ihr Verstand noch immer zu begreifen suchte, was soeben geschehen war.
»Das war erst der Anfang. Wartet nur, bis Graf Emicho hier ist«, prophezeite ihnen der Anführer der Judenhasser, der als Letzter die Synagoge verließ, sein blutiges Mordwerkzeug in der einen und das Geld in der anderen Hand.
Dann zogen sie ab, einer Meute Raubtiere gleich, die sich an ihrer Beute gelabt und gesättigt hatten. Und in diesem Moment wurde auch dem letzten Ratsmitglied bewusst, dass die Dinge sich tatsächlich unwiderruflich verändert hatten.
Eine neue, finstere Zeit war angebrochen.