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14.

Köln

2. Juni 1096

Die Wasseroberfläche war spiegelglatt.

Im Schein der Fackel, die in der Wandhalterung steckte und flackerndes Licht spendete, betrachtete Isaac sein Ebenbild – eine sehnige, ausgemergelte Gestalt, deren Rückgrat gebeugt war, nicht nur von den Jahren, sondern auch von der Last der Verantwortung, die ihm übertragen worden war.

Wie das Ritual es verlangte, hatte er sich aller Kleider entledigt. Nackt, wie er in die Welt gekommen war, würde er sich der reinigenden Wirkung des Wassers aussetzen, würde ganz darin eintauchen, um als geläuterter Mensch emporzusteigen und so der Ehre würdig zu sein, die ihm zuteil geworden war. Es gab viel, das er von sich abzuwaschen, das er hinter sich zu lassen hatte, ehe er jene heilige Mission antrat, auf die Bar Levi ihn schicken wollte.

Die Trauer um sein Weib Miriam.

Den Schmerz über ihren Verlust.

Die Furcht, die ihn seither plagte.

Die Zweifel, sein eigenes Handeln betreffend.

Die Schuldgefühle gegenüber Chaya, seiner Tochter.

All dies lastete zentnerschwer auf ihm. Ihm war klar, dass er die Reise nicht würde antreten können, wenn er solche Bürden noch zusätzlich zu tragen hatte. Im innigen Wunsch, der Herr möge ihm seine Versäumnisse nachsehen und ihn reinwaschen von Schuld, stieg er die Stufen hinab in das Becken der Mikwe.

Das Wasser war so kalt, dass es ihm den Atem raubte. Je tiefer er hinabstieg, desto weiter kroch es an ihm empor, sorgte dafür, dass seine alten Knochen schmerzten und sein müdes Fleisch sich verkrampfte. Dennoch ging er unbeirrt weiter, so als wollte er sich selbst dafür bestrafen, dass er, unwürdig wie er war, dazu ausgewählt worden war, den kostbaren Schatz zu verwahren.

Endlich hatte er den Grund des Beckens erreicht.

Das Wasser reichte ihm jetzt bis zu den Hüften, und er fror so erbärmlich, dass er die wenigen Zähne klappern hörte, die das gnädige Alter ihm gelassen hatte. Dennoch zwang er sich dazu, die Knie zu beugen, und indem er die Augen schloss und die Luft anhielt, tauchte er ganz in das eiskalte Nass ein. Schlagartig war es still um ihn herum.

Fern waren alle Ängste und Zweifel, und als würde das Wasser sich schützend um ihn türmen wie einst die Fluten des Roten Meeres um das Volk Israel, verblasste selbst die Bedrohung durch den herannahenden Feind. Für einen Moment, den der alte Kaufmann in sich aufsog, als wollte er ihn in alle Ewigkeit bewahren, schien alles in vollkommenem Gleichgewicht, Wasser und Luft, Fleisch und Blut.

Dann jedoch kam unweigerlich der Augenblick, in dem seine schwachen Lungen ihn verrieten. Die Stille endete, und indem er sich vom Grund des Beckens erhob, kehrte Isaac Ben Salomon zurück an die Oberfläche und zu der Pflicht, die ihn dort erwartete.

Noch einen Moment verharrte er, am ganzen Leib zitternd. Dann strich er das nasse weiße Haar zurück und machte kehrt, stieg aus dem kalten Wasser, wobei er seine Glieder mit aller Macht dazu zwingen musste, ihm zu gehorchen. Er hatte nicht geglaubt, das Land der Väter noch einmal zu erblicken, aber die Geschehnisse dieser Tage erforderten, dass er sich noch ein letztes Mal auf große Fahrt begab. Ob er sein Ziel jemals erreichen würde, lag in Gottes Hand, aber er wollte zumindest nichts unversucht lassen, um das Versprechen zu erfüllen, das er einst gegeben hatte, so wie sein Vater vor ihm.

Ein Leinentuch, das auf den Stiegen bereitlag, diente ihm dazu, sich abzutrocknen. Sodann schlüpfte er wieder in seine Kleider, aber weder das Untergewand noch die Kaufmannsrobe noch der weite Mantel, den er darüber trug, vermochten die Kälte aus seinen Gliedern zu vertreiben. Isaac betrachtete dies als Teil der reinigenden Buße, und es bestärkte ihn in seinem Willen, das Begonnene zu vollenden.

Entschlossen stieg er die restlichen Stufen hinauf und verließ das Bad, das sich zwischen der Synagoge und der Bäckerei Elija Rabbans erstreckte. Vorbei am Gotteshaus, das seit jenem Vorfall von einer Schar Freiwilliger bewacht wurde, die sich mit Prügeln und Dolchen bewaffnet hatten und einer Meute gepanzerter Soldaten gleichwohl nur wenig entgegenzusetzen gehabt hätten, passierte er den öffentlichen Brunnen und bog in den Torweg ein, wo sich das Haus Daniel Bar Levis befand.

Inzwischen hatte sich der Tag fast dem Ende geneigt. Viele hatten ihre Häuser bereits verlassen, die Läden waren verschlossen und die Eingänge standen leer. Allenthalben waren Gestalten zu sehen, die Handkarren hinter sich herzogen oder hölzerne Lastgestelle trugen, dazu verschleierte Frauen, die ihre Kinder an den Händen führten. So, dachte Isaac bekümmert, musste es gewesen sein, als sich Israel auf die vierzigjährige Wanderschaft durch die Wüste begeben hatte. Damals allerdings hatte das Volk das Unrecht der Knechtschaft hinter sich gelassen und dabei Gott auf seiner Seite gewusst – diesmal kam es dem Kaufmann eher so vor, als würde die Zeit der Erniedrigung erst beginnen, was ihn mit tiefer Sorge erfüllte, zumal er sich unsicher war, was den Schutz des Höchsten betraf.

Bar Levis Haus befand sich am äußersten Rand der Judengasse. Aus diesem Grund hatte der Parnes hölzerne Verschläge an den zur Straße gewandten Fenstern anbringen lassen, um sich und seine Familie vor Feindseligkeiten zu schützen. Ein Ochsenkarren stand vor der Tür, den die beiden Diener des Vorstehers mit Kisten beluden. Ester, Bar Levis Ehefrau, stand dabei und erteilte ihnen Anweisungen. In dem Augenpaar, das unter dem Schleier hervorblickte, war Furcht zu lesen wie in so vielen Gesichtern an diesem Tag.

»Friede mit Euch«, grüßte Isaac und neigte leicht das Haupt.

»Friede auch mit Euch, Isaac Ben Salomon«, erwiderte die Frau des Parnes. »Geht nur ins Haus. Mein Mann erwartet Euch bereits.«

Isaac bedankte sich mit einem Nicken, dann trat er unter dem niedrigen Türsturz hindurch ins Innere. Infolge der verschlossenen Fenster, die das späte Tageslicht aussperrten, waren Kerzen entzündet worden. Strenger Geruch erfüllte die Luft, der von Bitterkräutern rührte. Diese waren als Zeichen der Demut und wohl auch als Bitte für eine sichere Rückkehr in jenes Heim verbrannt worden, das Bar Levis Familie fast über ein ganzes Jahrhundert hinweg Schutz und Zuflucht gewährt hatte. In einer Zeit zu leben, in der sich all dies änderte, bedrückte Isaac auf eine Weise, die er nicht in Worte zu fassen vermochte. Es war das Gefühl, dem Sturmwind der Geschichte ohnmächtig ausgeliefert zu sein und nichts dagegen unternehmen zu können – mit einer Ausnahme, auch wenn sie auf altersschwachen Schultern lastete …

Isaac kannte Bar Levis Haus.

Oft hatten sie dort zusammengesessen, hatten koscheren Wein getrunken und Sabbatbrot gegessen. Isaac hatte das Heim des Vorstehers als einen Ort des Glücks und der Zufriedenheit erlebt, dessen Ordnung und Sauberkeit die innere Ausgeglichenheit seines Besitzers widerspiegelten. An diesem Tag jedoch war alles anders. Kisten standen umher, die Schränke waren geöffnet und nach Dingen durchsucht worden, die man den Plünderern nicht überlassen wollte, Wertgegenstände natürlich, aber auch solche, deren Bedeutung nicht auf den ersten Blick ersichtlich, sondern persönlicher Natur war und die man ebenfalls nicht blindwütiger Zerstörungswut preisgeben wollte.

Bar Levis Kinder, acht an der Zahl, tobten aufgeregt durch die Unordnung. Für die jüngeren, die noch nicht fähig waren, den Ernst der Lage zu begreifen, stellten die eingetretenen Veränderungen ein großes Abenteuer dar. Die älteren freilich, unter ihnen Daniels Erstgeborener Rehabeam, trugen die Sorge der Erwachsenen mit. In ihren Gesichtern stand dieselbe Todesangst, die auch die Älteren in diesen Tagen erfasst hatte.

Trotz der herrschenden Unordnung und der bevorstehenden Abreise begrüßte Rehabeam den Gast in aller Höflichkeit. Der Junge, dessen Bar Mitzwah nunmehr fünf Jahre zurücklag, verbeugte sich tief vor dem Gast und reichte ihm eine tönerne Schüssel mit Wasser, in der er sich die Hände waschen konnte. Dann führte er ihn zu seinem Vater.

Daniel Bar Levi saß in seinem Arbeitszimmer. Der größte Teil der Bücher und Aufzeichnungen, die der Parnes sein Eigen nannte, war bereits entfernt und in Kisten verpackt worden. Der Blick, mit dem er die Eintretenden bedachte, machte Isaac klar, dass der Vorsteher ihn bereits erwartet hatte.

»Friede mit Euch, Isaac.«

»Friede auch mit Euch, Daniel.«

»Wisst Ihr, dass ein Teil von mir fürchtete, Ihr würdet nicht kommen?«

»Diesen Teil gab es auch in mir«, gestand Isaac offen. Er war zu alt, und es stand zu viel auf dem Spiel, um sich etwas vorzumachen. »Aber er hat sich als der schwächere erwiesen. Hätte es Gott gefallen, mir einen Sohn zu schenken, so hätte ich ihm die Bürde übertragen, wie es mein Vater einst bei mir tat. So wie die Dinge liegen, bin ich jedoch mit keinem männlichen Nachkommen gesegnet, und auch ein Schwiegersohn blieb mir verwehrt.«

Bar Levi nickte. »Bislang. Aber wie zu hören ist, soll sich dies bald ändern.«

»Mordechai Ben Neri ist gewiss nicht meine erste Wahl«, gab Isaac zu, der sich nicht weiter darüber wunderte, dass der Vorsteher der Gemeinde bereits von der geplanten Hochzeit wusste. Mordechai war nie sehr zurückhaltend gewesen, wenn es darum ging, Neuigkeiten zu verbreiten, die ihn in einem guten Licht erscheinen ließen. »Aber er vermag meiner Tochter das zu geben, was mir in diesen Tagen wichtiger erscheint als alles andere, nämlich Schutz und Sicherheit.«

»Er hat viel für unsere Gemeinde getan. Mehr als ich für möglich gehalten hätte. Dennoch bin ich froh darüber, dass Ihr geht, mein Freund, und nicht er.«

»Jeder dient dort, wo er es am besten kann«, entgegnete Isaac ausweichend. Natürlich hatte er darüber nachgedacht, Mordechai als seinen designierten Schwiegersohn in das Geheimnis einzuweihen und ihm die Aufgabe zu übertragen, die er selbst in jungen Jahren übernommen hatte. Aber ein Gefühl – und er vermochte nicht zu sagen, ob es ein Fingerzeig Gottes war oder aus seiner tiefsten Seele drang – sagte ihm, dass Mordechais Platz hier war, bei seiner Familie und seiner Gemeinde, und dass er kein Recht hatte, ihm diesen Platz zu nehmen. Auch dann nicht, wenn es bedeutete, das Liebste, das ihm auf Erden geblieben war, zurückzulassen und in die Obhut seines einstigen Gegners geben zu müssen.

»Eine kluge Entscheidung«, sagte der Parnes, als könnte er Isaacs Gedanken lesen. »Ihr habt recht gehandelt.«

»Eine Entscheidung voller Schmerz. Selbst das lebendige Wasser konnte ihn nicht abwaschen.«

»Das war auch nicht zu erwarten, mein Freund«, meinte der andere mit nachsichtigem Lächeln. »Aber die Läuterung durch das Bad der Mikwe wird Euch helfen, zurückzulassen, was Euch bindet, und Euren Geist ganz auf die Aufgabe zu konzentrieren, die vor Euch liegt. Die Schrift muss unversehrt nach Antiochia gelangen und ihre Bestimmung erfüllen. Nur zu diesem Zweck wurde sie uns überlassen.«

»Ich weiß.«

»Auf diesen Moment wurdet Ihr vorbereitet, alter Freund, für diesen Augenblick habt Ihr gelebt. Fast beneide ich Euch um die Mission, die Euch übertragen wurde.«

»Es steht Euch frei, mich zu begleiten«, sagte Isaac und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.

»Wie Ihr schon sagtet – jeder dient dort, wo er es am besten kann«, entgegnete der Parnes ohne Zögern und wechselte das Thema. »Wisst Ihr schon, auf welcher Route Ihr reisen werdet?«

»Auf der westlichen. Mein Ziel wird Genua sein, wo ich ein Schiff nach Judäa besteigen werde. Mit Gottes Hilfe werde ich das Land unserer Väter noch vor dem Winter erreichen.«

»Dann möge Euch diese Hilfe in reichem Maße beschieden sein, mein Freund«, erwiderte Bar Levi und verließ seinen Platz am Stehpult, wo er noch einige Notizen gemacht hatte. Mit bedachten Schritten durchmaß er den Raum und trat an eine große Truhe aus Akazienholz, die mit reichen, orientalisch anmutenden Schnitzereien versehen war. »Kommt«, verlangte er.

Isaac leistete der Aufforderung Folge und fühlte sich weder wie ein alter Mann noch wie jemand, der im Begriff war, eine große Bürde auf sich zu nehmen. Vielmehr kam es ihm vor, als wäre er wieder jener zwölfjährige Junge, der den Worten seines sterbenden Vaters lauschte, vor undenklich vielen Jahren. Und fast kam es ihm vor, als könnte er in der Stille von Bar Levis Arbeitszimmer die vertraute Stimme hören.

Ihr werdet euer Leben leben, so wie ich das meine gelebt habe, hatte sie gesagt, werdet Familien gründen und Kinder haben. Über den Geschäften und Sorgen des Alltags werdet ihr bisweilen vergessen, was einst gewesen ist, und womöglich, wenn es dem Herrn gefällt, wird euer Leben zu Ende gehen, so wie das meine nun zu Ende geht, ohne dass er diese große Pflicht von euch gefordert hat. Vielleicht aber werden einst auch Zeiten kommen, die alles verändern, und auf diese Zeiten müsst ihr vorbereitet sein.

Mit pochendem Herzen trat auch Isaac an die Truhe. Er wusste, dass es sein Schicksal war, das hier auf ihn wartete. Bar Levi, der die Anspannung des Freundes spürte, hob rasch den Deckel.

Die Truhe war leer.

»Was habt Ihr?«, erkundigte sich der Parnes lächelnd, als Isaac zusammenzuckte. »Habt Ihr erwartet, etwas in dieser Truhe zu erblicken?«

»Offen gestanden, ja«, gab Isaac zu.

»Dann seht noch einmal genauer hin, alter Freund. Eure Augen mögen Euch täuschen, aber nicht Euer Glaube.« Damit griff der Vorsteher der Kölner Gemeinde in die Truhe, steckte den Zeigefinger in etwas, das wie ein harmloses Astloch aussah, und zog daran – und Isaac begriff, dass die Kiste einen doppelten Boden hatte.

Der Grund der Truhe klappte empor, und das Licht der Kerzen fiel auf den Gegenstand, der im Sockel verborgen gewesen war, schlank und zylindrisch, etwa eine Elle lang und eine halbe Handspanne breit, genauso, wie Isaac ihn trotz all der Jahre in Erinnerung hatte.

Obwohl er wusste, dass dies nur das Behältnis war, das das eigentliche Artefakt enthielt, wurde er von Ehrfurcht ergriffen. Denn in das hart gegerbte Leder war das Zeichen eingebrannt, das jenem König zugeschrieben wurde, der das noch junge Reich Israel einst zur Blüte geführt und den Ersten Tempel errichtet hatte: zwei gleichseitige, in ihrer Form vollendete Dreiecke, die ineinander verschränkt waren und zusammen einen sechszackigen Stern ergaben.

Das Siegel Salomons.

Auf dem Weg zu seinem Haus schalt sich Isaac für den eitlen Stolz, den er empfand, während er den Köcher unter seinem Mantel trug. »Behaltet ihn stets bei Euch, bei Tag und bei Nacht«, hatte Bar Levi ihm eingeschärft, »und lasst ihn niemals aus den Augen. Nach allem, was geschehen ist, bedarf unser Volk seines Inhalts mehr als je zuvor in seiner langen Geschichte.«

Dann hatten die beiden Freunde sich voneinander verabschiedet, wissend, dass sie einander in diesem Leben wohl nicht mehr begegnen würden. Andere Mächte hielten nun ihr Schicksal in den Händen.

In Gedanken versunken, ging Isaac durch die verlassenen Straßen. Wie genau er zum Kontor zurückgelangte, wusste er später nicht mehr zu sagen. Eindrücke von verbarrikadierten Eingängen und in Dunkelheit liegenden Gassen begleiteten ihn, aber er nahm sie nicht wirklich wahr. Den Behälter fest an sich gepresst, passierte er die Eingangstür und stieg die Stufen zur Wohnung hinauf, wohl zum letzten Mal in seinem Leben. Die wenige Habe, die er auf die lange Reise mitnehmen wollte, hatte er bereits gepackt. Er durfte nicht länger säumen. Nur noch eines gab es zu tun, eine letzte Aufgabe, die ihm schwerer fallen würde als alle anderen.

Gott um Verzeihung bittend, dass er so kurz nach dem Besuch der Mikwe die Last des Verzweiflung schon wieder spürte, betrat er Chayas Kammer – um entsetzt zurückzufahren, als er statt seiner geliebten Tochter einen fremden Mann darin erblickte.

Der Kerl wandte ihm den Rücken zu. Er trug ein weites Gewand und eine Kippa auf dem Haupt und war damit beschäftigt, eine Schranktruhe zu durchwühlen. An der Schnelle und Leichtigkeit seiner Bewegungen und der Art, wie er sich bückte, erkannte Isaac, dass es sich um einen jungen Burschen handeln musste, vielleicht sechzehn oder siebzehn Winter alt. Sein erster Gedanke war, dass Rehabeam ihm gefolgt sein könnte. Natürlich war das Unsinn, und der Kaufmann fühlte, wie ihm heißer Zorn in die Adern schoss.

»Bursche!«, rief er laut und sprang vor, um sich ungeachtet seines Alters und seiner klammen Glieder auf den Eindringling zu stürzen. »Reicht es denn nicht, dass in diesen Tagen alle Welt unser Feind geworden ist? Musst du dich auch noch am Elend deines eigenes Volkes bereichern?«

Der Angesprochene fuhr herum, noch ehe Isaac ihn erreichte. Dabei löste sich die Kippa, rutschte von seinem Kopf und entblößte ein kahlgeschorenes Haupt. Die Rasur war erst vor kurzem durchgeführt worden und offenbar in aller Eile, denn an einigen Stellen war die Kopfhaut blutig und wund. Die erbleichten Züge darunter starrten den Kaufmann voller Erschrecken an – und er stieß einen lauten Schrei aus, als ihm klar wurde, dass er dieses Gesicht kannte.

»Chaya! Was bei allen Propheten …?«

Isaacs Bestürzung war abgrundtief. Seine Blicke zuckten in hilfloser Unruhe umher, suchten nach Sinn und Erklärung.

Er sah ihr Kleid achtlos hingeworfen auf dem Bett liegen.

Die langen Strähnen schwarzen Haars auf dem Boden.

Abgeschnitten.

»Was … was hast du getan?«, stieß er keuchend hervor, kopfschüttelnd wie jemand, der sich weigerte, das Offensichtliche zu begreifen.

»Ich habe gehandelt, Vater«, erwiderte Chaya. Ihre gebeugte Körperhaltung, in der sie sich bis zur Wand zurückzog, verriet Demut. In ihren dunklen Augen jedoch schwelte die Flamme des Widerstands.

»Sag, bist du von Sinnen?« Noch einmal betrachtete Isaac das wunderschöne Haar auf den Dielen. Noch vor kurzem hatte es die Anmut ihrer Züge umrahmt, nun lag es dort wie Abfall.

»Nein, Vater«, widersprach sie leise. Ihre Stimme bebte, aber es war nicht der hysterische Tonfall von jemandem, der den Verstand verloren hatte oder noch dabei war, ihn zu verlieren. »Ich sehe die Dinge sehr viel klarer als zuvor. Ich habe getan, was du mich immer gelehrt hast – ich habe nachgedacht und eine Entscheidung getroffen.«

»Eine Entscheidung?« Er sah sie verständnislos an, noch immer zu entsetzt, um sich einen Reim auf all dies zu machen. »Eine Entscheidung worüber?«

»Über mein Leben. Ich weiß, dass ich es nicht an der Seite von Mordechai Ben Neri verbringen möchte, und ich hoffe und bete, dass du mich nicht dazu zwingen wirst.«

»Aber was willst du dann tun?«

»Ich werde dich begleiten«, erklärte sie mit jener sanften Endgültigkeit, die auch aus dem Munde ihrer Mutter hätte kommen können.

»Mich begleiten?«

»Ins Land der Väter. Als kleines Mädchen hast du mir versprochen, dass du mich einmal dorthin mitnehmen würdest. Nun ist es so weit.«

»Das … das ist nicht möglich.« Isaac schüttelte den Kopf, während er sich gleichzeitig an den Behälter klammerte, den er unter seinem Mantel verborgen hielt, wie ein Ertrinkender an ein Wrackteil, als einen letzten Rest vermeintlicher Sicherheit, der ihm inmitten einer tosenden See geblieben war.

»Warum nicht, Vater?« Erstmals schwang ein Anflug von Trotz in ihrer Stimme mit. »Wegen der Gefahren, die einer Frau auf einer solchen Reise drohen?« Sie lachte freudlos auf. »Sie können kaum verderblicher sein als hier.«

»Mordechai«, ächzte Isaac tonlos. »Er wird sich um dich kümmern, dich beschützen. Ich habe alles geplant …«

»Aber ich will den Schutz Mordechais nicht! Ebenso wenig wie seine Zuneigung. Und ich danke dir für deine Voraussicht und Fürsorge, Vater. Aber das Leben geht oft andere Wege, als wir sie planen, oder hast du das schon vergessen?«

»Nein, das habe ich nicht, aber ich …«

Er verstummte, um den Gedanken zu lauschen, die ihn lärmend umkreisten. So sehr ein Teil von ihm geneigt war, jenen inneren Stimmen Gehör zu schenken, die ihm zuriefen, er solle dem Ansinnen seiner Tochter entsprechen und sich glücklich schätzen, dass ihm der schmerzliche Abschied von ihr erspart blieb, so sehr mahnten ihn andere dazu, seiner Pflicht zu gehorchen und seine alleinige Aufmerksamkeit der Bürde zu widmen, die ihm übertragen worden war. Immer lauter schienen sie zu rufen, sodass er einen lauten Schrei ausstoßen musste, um sich ihrer zu entledigen.

»Genug!«

Chaya, die diesen Ausbruch missdeutete, zuckte erschrocken zusammen. Als jedoch keine weiteren Rügen folgten, wurde ihr klar, dass es nicht Zorn war, der ihren alten Vater die Fassung verlieren ließ, sondern pure Ratlosigkeit.

»Lass mich dir zwei Fragen stellen, Vater«, sagte sie deshalb ruhig in die entstandene Stille.

Isaac, der reglos vor ihr stand, die Arme um den hageren Körper geschlungen, betrachtete ihr bleiches, haarloses Antlitz mit trübem Blick. »Was für Fragen?«, wollte er dann wissen. Es klang müde.

Chaya nahm einen tiefen Atemzug, ehe sie antwortete. Dabei schaute sie ihrem Vater tief in die traurigen Augen. »Nicht einmal du als mein leiblicher Vater hast mich erkannt, als du in diese Kammer tratst. Wie also sollen andere erkennen, was ich in Wahrheit bin, wenn ich in dieser Verkleidung reise?«

»Und die zweite Frage?«

»Was«, entgegnete Chaya und deutete auf ihr kahles und blutiges Haupt, »wird Mordechai Ben Neri sagen, wenn er seine zukünftige Ehefrau so erblickt?«