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15.
Rouen
August 1096
Etwas war geschehen, das Conn niemals für möglich gehalten hätte. Er hatte England verlassen.
Der Abschied von seiner alten Heimat war so schlicht verlaufen wie das Leben, das er dort geführt hatte. Nach ein paar weiteren Tagen im Hafen von London hatten er, Baldric und dessen Normannenfreunde schließlich ein Schiff bestiegen, das sie den Fluss hinabgebracht hatte. Von Rochester aus waren sie nach Dover marschiert. Über karge, von Ginster und Moos bewachsene Hügel und entlang an steilen Klippen, die die Farbe von gebleichten Knochen hatten und jenseits derer sich die See als stahlblaues Band bis zum Horizont erstreckte.
Nur hin und wieder, wenn der bewölkte Himmel aufriss und die Sicht sich klärte, waren in der Ferne graue Schleier zu erkennen gewesen, die die See und den Himmel teilten, kaum mehr als eine ferne Ahnung. Dies, so hatte man ihm mitgeteilt, war das Festland. Jene Gegend, von der aus der Eroberer vor nunmehr drei Jahrzehnten aufgebrochen war, um England seinem Herrschaftsbereich zu unterwerfen.
Die Normandie.
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Conn nicht geahnt, wie unendlich groß die Welt jenseits der Mauern, Äcker und Wälder von London war. Angesichts der Düsternis, die noch immer in seinem Herzen herrschte und die wie ein dunkler Schatten auf ihm lag, war es ihm jedoch gleichgültig geworden. Mit Nia an seiner Seite wäre er bereit gewesen, die Welt zu erobern – ohne sie war alles trist und leer, und er empfand nichts, als sie am frühen Morgen des vierten September eine normannische Knorr bestiegen, die sie von der Insel weg und aufs Festland brachte.
In dichtem Nebel sah Conn die weißen Klippen von England verschwinden. Dann erfasste die graue See das Langboot und trug es der Normandie entgegen – und einer ungewissen Zukunft.
Während der Überfahrt sprach Conn kaum ein Wort. Da er ihm klar gemacht hatte, dass er keinen Diener wollte, der in Lumpen ging, hatte Baldric ihn noch in London mit neuen, an den Unterschenkeln geschnürten Hosen, einem wildledernen Rock sowie einem wollenen Umhang ausgestattet, auf dessen Schulter er den Schneider das Kreuzsymbol hatte anbringen lassen. In diesen Umhang gehüllt, kauerte Conn hinter der hohen Back des Schiffes und kämpfte gegen die Übelkeit an, die ihn erfasste, als die Knorr auf offener See zum Spielball der Wellen wurde.
Irgendwann – Conn vermochte nicht zu sagen, ob es vom Seegang rührte oder von den schrecklichen Bildern, die ihm Tag und Nacht vor Augen standen – hielt er es nicht mehr aus und entleerte den Inhalt seines Magens geräuschvoll in die See, sehr zur Erheiterung Baldrics und seiner normannischen Gefährten, die sich wie er als Freiwillige der großen Pilgerfahrt anschließen wollten.
Zu den treuesten Begleitern des Einäugigen gehörte dabei ein gewisser Bertrand, ein redseliger Geselle von geringer Körpergröße, dafür aber umso beträchtlicherem Umfang, der sich zu seiner Vorliebe für angelsächsisches Ale bekannte und eine gewisse Tragik darin sah, dass er es nun für lange Zeit nicht mehr zu schmecken bekommen würde; der Name des anderen Getreuen war Remy, ein wahrer Bär von einem Mann, dessen Schädel so kahl und glattpoliert war wie ein Kampfhelm und der, ganz im Gegensatz zu seinem gedrungenen Freund, den Mund nur dann aufmachte, wenn es sich nicht vermeiden ließ.
Von Valmont aus, wo das Schiff wohlbehalten anlandete, ging es weiter nach Rouen, in die alte Hauptstadt der Normandie, von der aus William der Bastard einst zu seinem Eroberungsfeldzug aufgebrochen war.
Der Anblick der Stadt überwältigte Conn.
Bislang hatte er London, die bei Weitem größte und bedeutendste Stadt in ganz Südengland, für das Maß aller Dinge gehalten. Doch als er das mächtige, mit einem Fallgitter versehene Stadttor von Rouen durchschritt, wurde ihm klar, wie einfältig er gewesen war. Und obwohl es ihm zutiefst widerstrebte, begriff er, weshalb die normannischen Herren mit derartigem Hochmut auf England und seine Bewohner blickten.
In London war die Existenz eines mehrstöckigen Gebäudes so außergewöhnlich, dass alle es nur den »Großen Turm« nannten; in Rouen hingegen gab es zahllose Häuser, die mehr als ein Stockwerk besaßen, und anders als zu Hause waren sie nicht aus Holz und Lehm, sondern aus festem Stein errichtet. Nicht nur einzelne Kathedralen reckten hier ihre Türme gen Himmel, sondern unzählige Gebäude, Türme und Hallen, doch sie alle verblassten im Vergleich zu der mächtigen Burg, die die Stadt wie ein großer, schützender Berg überragte.
Gedränge herrschte in den Straßen, die zumeist gepflastert waren und auch bei Regen noch sicheren Tritt boten. Die Läden, die sich in den unteren Stockwerken der Häuser drängten, verkauften Waren in einer Fülle und Auswahl, wie Conn sie nie für möglich gehalten hätte: Stoffe in seltenen Farben und Felle von Tieren, die er nie zuvor gesehen hatte, dazu Töpferwaren, Körbe, Schleifsteine, Werkzeuge und andere Gegenstände des täglichen Gebrauchs; sorgfältig gearbeitete Waren aus Leder und Speckstein sowie Gefäße aus buntem Glas; und schließlich Wein und Gewürze, die eigenartigen Duft verströmten und eine erste Ahnung von jener Fremde verbreiteten, in die die Männer im Begriff waren aufzubrechen.
Wie sich zeigte, waren Baldric und seine Schar bei Weitem nicht die einzigen, die nach Rouen gekommen waren, um sich dem Zug ins Heilige Land anzuschließen. Auch aus anderen englischen Städten waren Freiwillige eingetroffen, dazu kamen Dänen, Flamen, fränkische Söldner und viele mehr – ein unvorstellbares Durcheinander aus verschiedenen Haut- und Haarfarben, Kleidern, Rüstungen und Sprachen. Dennoch gelang es Baldric irgendwie, in einer Taverne im Herzen der Stadt eine Unterkunft zu besorgen, und zum ersten Mal in seinem Leben schlief Conn in einem gemauerten Haus.
Anfangs konnte er kein Auge zutun und kam sich vor wie lebendig begraben, aber schon nach kurzer Zeit hatte er sich daran gewöhnt. Baldric begann damit, ihn in die Pflichten einzuweisen, die ihm als seinem Diener zukommen würden. Dazu gehörte neben dem Besorgen von Proviant und anderen Dingen auch das Reinigen und Instandsetzen seiner Ausrüstung, die sich in einem schlechten Zustand befand. Helm und Kettenhemd hatten Rost angesetzt, Untergewand und Gurtzeug mussten an vielen Stellen ausgebessert werden. Zwar war Conn weder ein Schmied noch ein Sattler, aber er hatte hin und wieder zugesehen, wenn die Handwerker in London ihrer Arbeit nachgegangen waren, und so gab er sein Bestes – wobei es nicht selten vorkam, dass Baldric ihm das Werkzeug abnahm und selbst Hand anlegte. Im Gegenzug zu den Diensten, die er für ihn leistete, unterrichtete Baldric Conn in der französischen Sprache und brachte ihm bei, ein Schwert zu führen, auch wenn es vorerst nur stumpf und aus Holz geschnitzt war.
Da der Normanne nur selten über sich sprach, war Conn auf Vermutungen angewiesen, was seinen neuen Herrn betraf. Aus dem wenigen, das er in Erfahrung gebracht hatte – das meiste hatte er von Bertrand aufgeschnappt –, schloss er, dass Baldric ein normannischer Edler war, wenn auch von geringem Rang und entsprechend schwach begütert. Ein eigenes Lehen schien er nicht zu haben, sein Pferd und sein Sattel waren, von Rüstung und Waffen abgesehen, seine einzigen Besitztümer. In der Tat machte er den Eindruck von jemandem, der den weltlichen Dingen entsagt und sich Höherem zugewandt hatte.
Wenn andere Normannen, allen voran der feiste Bertrand, ihr Geld in den Tavernen für Wein und Bier ausgaben, war Baldric ebenso wenig dabei wie dann, wenn sie es in die Freudenhäuser trugen, um – so nannten sie es – ein letztes Mal zu sündigen, ehe der große Ablass ihnen alles verzieh. Auch schienen die Beweggründe seines Handelns andere zu sein als die der übrigen Freiwilligen, die aus England gekommen waren. Während die meisten von Abenteuerlust getrieben waren und sie die Aussicht auf reiche Beute mindestens ebenso lockte wie jene auf das Himmelreich, ging es Baldric offenbar wirklich darum, sein Seelenheil wiederzufinden, das ihm irgendwo auf der Reise seines Lebens abhanden gekommen war. Was seine Vergangenheit betraf, hüllte sich der Normanne in Schweigen, aber hin und wieder, wenn er sich unbeobachtet glaubte, sah Conn, wie sich düstere Schatten auf seine Züge legten. In solchen Momenten erweckte der Normanne den Anschein, nicht weniger von den Geistern der Vergangenheit gejagt zu werden als Conn selbst.
Mit jedem Tag, den sie länger in Rouen weilten, fanden sich mehr Kreuzfahrer ein. Die Straßen füllten sich ebenso wie die Tavernen, sodass die Stadt schließlich aus allen Nähten zu platzen drohte und die Neuankömmlinge vor den Toren lagern mussten. In den Herbergen hieß es, eng zusammenzurücken, und nicht selten kam es vor, dass sich zwei Kämpfer ein Lager teilten und es abwechselnd während der ersten und zweiten Nachthälfte nutzten.
Viele, die in die Stadt kamen, fassten Proviant und ergänzten ihre Ausrüstung, sodass Pökelfleisch und Rüstzeug schon bald Mangelware waren und zu hohen Preisen gehandelt wurden. Einige der Männer behalfen sich, indem sie ihr Glück beim Würfeln versuchten, sodass an vielen Feuern gespielt wurde, was immer wieder auch zu Streitigkeiten führte und noch zusätzlich zu der fiebrigen Unruhe beitrug, die ohnehin schon über der Stadt lag.
Auch Conn blieb davon nicht unberührt.
Das geschäftige Treiben und der auch bei Nacht nicht endende Lärm erinnerten ihn an einen wimmelnden Bienenstock, und trotz der Düsternis in seinem Herzen ertappte er sich dabei, dass die allgemeine Anspannung auch ihn ergriff.
Was, so fragte er sich, würde die Kreuzfahrer erwarten? Wohin würde die Reise gehen? Welche exotischen, weit entfernten Orte würde er mit eigenen Augen sehen, die er bislang, wenn überhaupt, nur aus Erzählungen gekannt hatte?
»Habt ihr schon gehört?«, fragte Bertrand, als sie wie jeden Abend im Schankraum der Taverne beisammen saßen, Baldric wie immer am Ende des Tisches und in Schweigen versunken, Conn mit irgendeiner Aufgabe befasst, die sein Herr ihm zukommen ließ. An diesem Abend galt es, den hölzernen Schild des Ritters, der die typische Mandelform besaß, zu schleifen und die metallenen Beschläge zu polieren. »Wie es heißt, wird auf dem Weg nach Süden eine weitere Streitmacht zu uns stoßen, die sich mit der unseren vereinen soll. Und der Herzog selbst wird sie anführen!«
»Recht so«, sagte Baldric gelassen. »Je mehr Kämpfer sich dem Heer Christi anschließen, desto besser ist es für unsere Sache.«
»Ein Hoch auf den Herzog.« Bertrand hob den hölzernen Humpen, über dessen Rand weißer Bierschaum quoll. »Es ist zwar kein Ale, aber immerhin.«
Remy, der ihm am Tisch gegenüber saß, brummte eine unverständliche Erwiderung, dann hob auch er seinen Krug, und beide tranken. Kaum hatten sie abgesetzt, verfiel der Hüne wieder in das alte Schweigen, während Bertrand, dessen Schweinsäuglein schon vom Alkohol glänzten, munter weiterplapperte: »Sobald wir uns mit dem Heer des Herzogs vereint haben, meine Freunde, geht es geradewegs nach Süden.«
Aufgrund einer Zeichnung, die Baldric mit einem Stück Kohle für ihn angefertigt hatte, hatte er inzwischen eine ungefähre Vorstellung davon, wo sich diese fernen Länder und Städte befanden, aber noch immer erschienen sie ihm unerreichbar fern. Die Welt, so kam es ihm vor, war innerhalb weniger Wochen um vieles größer geworden – und komplizierter.
Italien.
Griechenland.
Byzanz.
Der Nachhall dieser Namen, die mehr Fremdheit verhießen, als Conn in seinem ganzen Leben erfahren hatte, geisterte wie ein Echo durch seinen Kopf.
»Der Graf von Flandern wird ebenfalls Truppen stellen und den Feldzug begleiten«, fuhr Bertrand beflissen in seinem Vortrag fort, »und wie zu hören ist, hat sich auch der Graf von Blois zur Teilnahme verpflichtet. Allerdings«, fügte er grinsend und mit gedämpfter Stimme hinzu, »ist dies wohl mehr dem Ehrgeiz seiner Gemahlin geschuldet. Wir alle wissen, wessen Blut in ihren Adern fließt.«
Natürlich hatte Conn keine Ahnung, worauf der Normanne anspielte, aber er wollte auch nicht fragen, um nicht schon wieder als Tölpel dazustehen. Bertrand jedoch sah das Unwissen in seinen Augen, und da der Alkohol seine ohnehin redefreudige Zunge noch zusätzlich gelockert hatte, setzte er zu einer Erklärung an. »Unser junger Angelsachse weiß nicht, wovon ich spreche, nicht wahr? Schön, junger Freund, dann werde ich es dir erklären. Die Gemahlin Stephens de Blois ist keine andere als Adele, eine leibliche Tochter des Eroberers – und wie es heißt, hat der alte William ihr nicht nur eine ansehnliche Mitgift vermacht, sondern auch seinen eisernen Willen.« Er kicherte. »In Blois gibt es nicht wenige, die den armen Stephen bedauern, weil in Wahrheit sein Weib das Sagen hat. Und alle sind sich einig, dass sie es gewesen ist, die ihn zur Teilnahme am Feldzug gedrängt hat, um hinter ihrem Bruder Robert nicht zurückzustehen.«
»Robert?« Conn horchte auf.
»Gewiss, des Eroberers ältester noch lebender Sohn und Herzog der Normandie. Sein jüngerer Bruder William, auch Rufus genannt, sitzt auf dem Thron von England, wie sogar ein hergelaufener angelsächsischer Bengel wissen dürfte.«
Conn nickte nachdenklich. Er kannte den dicklichen Normannen inzwischen gut genug, um ihm seine abschätzigen Worte nicht zu verübeln. Auf seine Kenntnisse in Schrift und Sprache bildete sich Bertrand zwar einiges ein, war sich aber auch nie zu schade, um über sich selbst zu lachen.
»Natürlich weiß ich das«, versicherte Conn deshalb mit mattem Grinsen. »Ich habe mich nur gefragt, warum der König von England nicht am Feldzug gegen die Heiden teilnimmt.«
»Oh, sieh an!« Bertrands Überraschung schien echt zu sein. »Unser junger Freund interessiert sich für die große Politik!«
»Das muss dir doch gelegen kommen«, sagte Baldric mit nachsichtigem Lächeln. »Auf diese Weise kannst du getrost weiterreden und hast zumindest einen, der dir zuhört.«
Einige am Tisch lachten, sogar der schweigsame Remy entblößte das lückenhafte Gebiss – wohl die Folge eines Faustschlags oder Keulenhiebs – zu einem Grinsen. Bertrand schaute ein wenig pikiert drein, was ihn aber nicht davon abhielt, zu einer weiteren Erklärung anzusetzen: »Du musst wissen, Conwulf, dass Herzog Robert und unser König Rufus sich nie besonders grün gewesen sind. Noch zu den Lebzeiten seines Vaters hat sich Robert mehrmals gegen diesen gestellt und sogar Kriege gegen ihn geführt, während Rufus dem alten William treu zur Seite gestanden hat. Zum Dank dafür hat der Eroberer ihm die Krone Englands übertragen, während Robert die Normandie geerbt hat. Aber obwohl die beiden inzwischen miteinander ihren Frieden gemacht haben, belauern sie einander noch immer wie hungrige Wölfe, die nur darauf warten, dem anderen die Beute zu entreißen.«
Bertrand grinste angesichts des bildlichen Vergleichs, den er offensichtlich ziemlich gelungen fand – wie zutreffend er tatsächlich war, wurde Conn jedoch erst in diesem Augenblick klar.
Infolge der Ereignisse, die wie ein Sturm über ihn hereingebrochen waren – von Nias Tod über seine Flucht und Verletzung bis hin zu der Tatsache, dass er sich unwillentlich einer Gruppe von Kreuzfahrern angeschlossen und seine angestammte Heimat verlassen hatte –, hatte er bislang weder Zeit noch Interesse gehabt, über das Gespräch nachzudenken, dessen Zeuge er in jener Nacht geworden war. Auch hatte das, was er in der Kapelle gehört hatte, bislang keinen Sinn ergeben – nun jedoch begann Conn die Zusammenhänge zu begreifen. Schlagartig wurde ihm klar, warum man um jeden Preis seinen Tod gewollt hatte: Er war nicht nur zum Mitwisser eines geplanten Mordes geworden, sondern einer Verschwörung!
Der König von England, so lautete die unfassbare Folgerung, plante die Ermordung seines Bruders Robert, des Herzogs der Normandie, um auf diese Weise in den Besitz von dessen Ländereien zu gelangen und die Güter seines Vaters des Eroberers wieder unter einer – seiner – Krone zu vereinen. Und kein anderer als Guillaume de Rein sollte das Werkzeug dieser tödlichen Intrige sein.
Die Erkenntnis traf Conn wie ein Keulenhieb.
Furcht schlich sich in sein Herz, die hässliche Einsicht, in Dinge verwickelt zu sein, denen er nicht gewachsen war. Dann jedoch wurde ihm klar, dass ihm das Schicksal auch eine mächtige Waffe in die Hand gespielt hatte. Ausgerechnet der Mann, der seine geliebte Nia getötet hatte, sollte im Auftrag des Königs zum Mörder an dessen Bruder werden – und er war der Einzige, der davon wusste!
Conns Angst wich jäher Euphorie. Er war nicht länger hilflos, hatte etwas gegen de Rein in der Hand. Schon im nächsten Moment jedoch ließ seine Begeisterung wieder nach. Es gab für das, was er gehört hatte, nicht den geringsten Beweis – wem also würde man glauben, wenn das Wort eines angelsächsischen Diebes gegen das eines normannischen Edlen stand? Noch dazu, wo der König selbst in die Sache verwickelt war?
Conns Hoffnung zerschlug sich so rasch, wie sie aufgekommen war. Er erwog kurz, Baldric und seine Gefährten ins Vertrauen zu ziehen und ihnen von seinen Erlebnissen in London zu berichten, aber er verwarf den Gedanken sofort wieder.
Zugegeben, er kannte sie nun einige Wochen und hatte die Erfahrung gemacht, dass wohl nicht alle Normannen jene eingebildeten, menschenverachtenden Bastarde waren, für die er sie stets gehalten hatte. Aber konnte er ihnen vertrauen? Sicher nicht. Conn zweifelte nicht daran, dass ihre Geduld mit ihm ein rasches Ende nehmen würde, wenn er anfing, den König oder auch nur einen seiner Getreuen eines Mordkomplotts zu bezichtigen, zumal er nicht einen einzigen Beweis in der Hand hatte. Er musste also schweigen und sein Wissen für sich behalten, wenn er sich nicht um Kopf und Kragen bringen wollte.
Guillaume de Rein musste warten.
Vorerst.
»Was hast du?«, erkundigte sich Bertrand grinsend, der die plötzliche Blässe in Conns Gesicht bemerkt hatte. »Ist das fränkische Bier zu stark für dich?«
Conn, der den plötzlichen Drang nach frischer Luft verspürte, nickte knapp, dann stand er auf.
»He«, knurrte Baldric. »Wo willst du hin?«
»Nach draußen.«
»Und der Schild?«
Conn gab ihm das schwere Stück, und der Normanne nahm es mit prüfendem Blick in Augenschein. »Gute Arbeit«, lobte er schließlich. »Wie immer.«
»Also bin ich für heute entlassen?«
»Natürlich«, entgegnete Baldric ein wenig zögernd, so als wäre Conns innerer Aufruhr ihm nicht verborgen geblieben. »Aber entferne dich nicht zu weit, hörst du?«
Baldrics einzelnes Auge musterte ihn, und Conn beschlich wieder einmal das Gefühl, dass der Normanne damit mehr und tiefer sehen konnte als andere mit zweien. »Sieh dich vor, Conwulf, hörst du? Nicht alle Streiter im Heere Christi sind vom gleichen guten Willen beseelt. Wo viel Licht, ist auch Schatten. Zudem bist du das Leben in steinernen Städten nicht gewohnt. Halte dich von dunklen Gassen fern.«
»Ich verstehe, Herr«, versicherte Conn. Er nickte Baldric und den anderen zu und wandte sich zum Ausgang, den zu erreichen alles andere als einfach war. Die Taverne war zum Bersten mit Soldaten und Knappen gefüllt, die sich an den Tischen drängten und ihre Unruhe mit Würfelspielen und schäumendem Bier bekämpften. Die Luft war stickig, sodass Conn froh war, als er endlich die Tür aufstieß und ins Freie trat – obwohl auf der Straße kaum weniger Betriebsamkeit herrschte.
Zwar stand der Mond längst am Himmel, doch das Leben in der Stadt wollte keinen Augenblick lang innehalten. Nicht nur die Tavernen, auch die Läden waren weiterhin geöffnet, und im Licht von Fackeln und Laternen wurde weiter gefeilscht und verhandelt. Zumindest die Schankwirte, Handwerker und Kaufleute von Rouen, dachte Conn, hatten bei diesem Feldzug schon gewonnen.
Im Bemühen, einen ruhigen Platz zu finden, wo er seine Gedanken ordnen konnte, ließ er sich vom Strom der Passanten mitreißen. Im Gefolge einer Gruppe dänischer Söldner, die ihre runden Schilde auf dem Rücken trugen, gelangte er auf einen von hohen Häusern umlagerten Platz, der von Fackelschein beleuchtet wurde und in dessen Mitte es einen erhöhten, von Natursteinen ummauerten Brunnen gab. Kämpfer, die kein Obdach mehr gefunden hatten, aber auch nicht außerhalb der Stadt kampieren wollten, lagerten auf den Stufen, zusammen mit einigen Knechten und Dienern.
Auf der Ummauerung des Brunnens jedoch stand weithin zu sehen ein blasshäutiger Mann mit einer Habichtsnase und kurzem rotblonden Haar, in das eine Tonsur geschoren war. Die schwarze Kutte mit den weiten Ärmeln und der spitz zulaufenden, zurückgeschlagenen Kapuze wies ihn als Angehörigen des Benediktinerordens aus. Helle Erregung sprach aus seinen Augen, seine hohlen Wangen waren von Eifer gerötet, während er mit lauter Stimme rief: »Hört mich an! Ihr alle, die ihr euch auf den Weg begeben wollt, um das Grab Christi aus den Händen der Ungläubigen zu befreien! Hört mich an!«
Seine Stimme, die einen sonderbar harten Akzent aufwies, war laut genug, um auch in den letzten Winkel des Platzes zu dringen, und sie hatte etwas an sich, dem Conn sich nicht entziehen konnte. Vielleicht war es aber auch nur die Begeisterung des Mönchs, die ihn wie viele andere dazu bewog, den Worten des Mannes zu lauschen. Überall auf dem Platz unterbrachen die Leute ihre Tätigkeiten. Gespräche verstummten, Geld hörte auf zu klimpern, Würfel blieben in den Bechern.
»Ihr alle, die ihr euch hier versammelt habt«, fuhr der Ordensmann fort, »seid dem Aufruf seiner Heiligkeit des Papstes gefolgt, der seine vielgeliebten Brüder dazu aufgefordert hat, die Pilgerwege zu sichern und das Heilige Land den Klauen jener zu entreißen, die es widerrechtlich an sich genommen haben!«
Zustimmung wurde hier und dort bekundet, Fäuste reckten sich triumphierend in den sternklaren Himmel.
»Aber wusstet ihr auch, meine Brüder, dass der Herr selbst seine Zeichen geschickt hat?«, fragte der Mönch in die Menge. Beifall heischend ließ er seinen Blick über die Männer und Frauen schweifen, und Conn hatte das Gefühl, dass er auch auf ihm einen Moment lang ruhte. Eine seltsame Stimmung erfasste ihn. Zusammen mit der Unruhe, die ihn seit Tagen erfüllte, und seiner noch immer schwelenden Trauer verband sie sich zu einer eigenartigen Melancholie, die ihn in seinen Gedanken innehalten ließ und ihn dazu zwang, den Worten des Predigers zu lauschen.
»Was für Zeichen?«, fragte jemand aus der Menge.
»Zeichen von großer Macht und noch größerer Bedeutung«, erwiderte der Mönch, wobei er die Fäuste ballte und sie demonstrativ zum Himmel reckte, »nicht nur hier auf dem Festland, sondern auch drüben in England und anderen Teilen der Welt! Vor zwei Jahren gab es in Burgund eine verheerende Hungersnot, weil eine wochenlange Regenflut die Ernte vernichtete. Und während die Menschen in ihrer Not zum Herrn beteten, wurde der Himmel selbst zur Tafel, auf die der Allmächtige seine Botschaft schrieb. Kometen erschienen, sieben an der Zahl, und zogen ihre Bahn am Firmament!«
Ein Raunen ging durch die Menge. Auch Conn war beeindruckt. Ein Komet, das war allgemein bekannt, war stets ein Hinweis auf himmlisches Wirken. Gleich sieben davon jedoch waren in der Tat ein außergewöhnliches Zeichen.
»Und im vergangenen Jahr«, fuhr der Mönch fort, »versank der Himmel über England in einem unirdischen Leuchten, das bis hinauf an die Gestade des Nordmeers zu sehen war!«
Conn nickte. Auch er hatte von dem angeblichen magischen Feuer gehört, von grünen Flammen, die den nördlichen Himmel entzündet haben sollten. Damals hatte er nicht allzu viel darauf gegeben – in diesem Augenblick jedoch, an diesem Ort, in jener eigentümlichen Melancholie, die ihn erfasst hatte, gewann es plötzlich an Bedeutung.
»Weise Männer aus allen Ländern der Christenheit sind zusammengekommen, um über die Bedeutung dieser Zeichen zu beraten. Gelehrte und Kirchenmänner, sie alle kennen nur einen Weg, diese Zeichen zu deuten: Unheil kündigt sich an und wird über uns kommen, zur Strafe dafür, dass wir unsere Pilgerpflichten vernachlässigt und die heiligen Stätten von Heiden haben entweihen lassen! Und es gibt nur einen Weg, dieses Unheil zu verhindern, meine Brüder – nämlich dem Ruf zu folgen, den unser Heiliger Vater ausgesprochen hat. Wir wollen die Wiege unseres Glaubens von frevlerischer Hand säubern und das Reich des Herrn auf Erden errichten. Deus lo vult, meine Brüder – Gott will es!«
Trotz der später Stunde brach lauter Jubel auf dem Platz aus. Angesteckt von der Begeisterung, die der Mönch aus jeder Pore zu verströmen schien, schrien die Männer und Frauen ihre Zustimmung und ihre Entschlossenheit in die Nacht hinaus. Selbst Conn ertappte sich dabei, dass er dem Beispiel der anderen folgte, die Faust ballte und sie empor zum funkelnden Himmel reckte.
»Schon in wenigen Tagen«, fuhr der Ordensmann in seiner Ansprache fort, kaum dass der Beifall ein wenig abgeebbt war, »werdet ihr aufbrechen, meine Brüder. Dann wird sich erweisen, woraus euer Glaube gemacht ist. Ist er stumpf wie ein altes Messer? Oder ist er glänzend und scharf wie eine neu geschmiedete Klinge, die darauf brennt, sich in der Schlacht zu bewähren und die Heiden zurückzustoßen in jenen dunklen Höllenpfuhl, dem sie entstiegen sind?«
Wieder Jubel, auch Conn hörte sich laut schreien. Woran es lag, vermochte er selbst nicht zu sagen, aber in diesem Augenblick, an diesem Ort, hatte er nicht mehr das Gefühl, allein zu sein und von allen verlassen, sondern Teil von etwas Großem und Besonderem zu sein. Sein Herr Baldric sprach gerne und schnell von Dingen wie göttlicher Vorsehung und Bestimmung – in dieser Nacht jedoch, unter dem Eindruck der flammenden Rede, hatte Conn das Gefühl, sie zum ersten Mal am eigenen Leib zu spüren.
»Wir leben in einer bewegten Zeit, meine Brüder. Die Welt ist im Umbruch, eine neue Ära bricht an. Möge der Herr geben, dass ihr euch ihrer würdig erweist, und möge er euch alle segnen, auf dass ihr das Ziel der Fahrt unbeschadet erreichen und einer wie der andere zu tapferen Streitern Christi werdet. Amen.«
Zuletzt hatte er die Hände gefaltet und den Blick zum Himmel gerichtet. Als er schließlich die Rechte hob, um ein Kreuz zu zeichnen und seine Zuhörer zu segnen, ging ein Ruck durch die Menge. Die Versammelten brachen in die Knie und senkten die Häupter, nicht nur die, die vorn am Brunnen lagerten, in seinem unmittelbaren Blickfeld, sondern auch jene, die auf der anderen Seite des Platzes standen, im Schutz der Vordächer und in den Mündungen der Gassen. Immer mehr waren es geworden, während der Mönch gesprochen hatte, und sie alle beugten die Knie – auch Conn.
Gesenkten Hauptes kauerte er da, und während er den Pater von Vergebung reden hörte, von Erfüllung und einem besseren Leben, fühlte er zum ersten Mal etwas wie Trost. Wie Balsam schienen sich die Worte des Mönchs auf seine Seele zu legen, die nach den Tagen und Wochen der Qual nun endlich ein wenig Ruhe fand, und Conn kam nicht umhin, sich zu fragen, ob Baldric womöglich recht hatte.
Diente der Feldzug, auf den sie sich begeben würden, tatsächlich einer heiligen Sache? War jeder Einzelne von ihnen zu Höherem bestimmt? Und würden sie auf diese Weise Befreiung erlangen von den Dämonen, die sie jagten?
Sehnsucht erfüllte Conn.
Er wollte fort, möglichst rasch, wollte den Schmutz der Vergangenheit hinter sich lassen, die Intrigen und feigen Mordpläne, um ein neues, reicheres Leben zu beginnen. Vielleicht, so hoffte er, würde er dabei ja tatsächlich seinen Frieden finden.
Fort vom Schmerz.
Unwillkürlich musste er an Nia denken, und im selben Augenblick, in dem ihre gequälten, entstellten Gesichtszüge wieder vor seinem inneren Auge auftauchten, verschwand auch der Frieden, den er für einen Moment verspürt hatte, und die alten Qualen kehrten zurück.
Der Mönch hatte seine Ansprache beendet und verschwand in der Menge, die sich wieder erhob – während Conn das Gefühl hatte, in denselben dunklen Abgrund zurückzustürzen, aus dem die Worte des Predigers ihn für einen Augenblick gehoben hatten. Wankend kam er wieder auf die Beine und wusste nicht, wohin. Fremde Gesichter umgaben ihn, in denen er weder Trost noch Hoffnung fand. Er ging ruhelos umher, während der Schmerz ständig zunahm – bis er schließlich feststellte, dass die quälende Pein nicht nur seelischer, sondern auch körperlicher Natur war und ihren Ausgangspunkt in seinem linken Arm hatte. Die Stelle, wo der Pfeil ihn getroffen und durchbohrt hatte!
Conn schaute an sich herab und stellte fest, dass der Ärmel seines Hemdes blutdurchtränkt war.
Die Wunde hatte sich wieder geöffnet.