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16.

Caen

Ende August 1096

Guillaume de Rein wusste nicht, was er empfinden sollte.

So froh er einerseits darüber war, dass seine Mutter an höchster Stelle gegen seinen Vater intrigiert und ihm damit die Möglichkeit verschafft hatte, sich zu bewähren, so peinlich berührte es ihn andererseits, dass sie ihn nun auf Schritt und Tritt begleitete. Von dem Augenblick an, da sie London verlassen hatten – zusammen mit einem Tross von Streitern, die Ranulf Flambard persönlich ausgewählt hatte –, war sie kaum noch von seiner Seite gewichen.

Nach Northumbria zurückzukehren hatte man ihnen nicht mehr gestattet. Ein Schreiben, in dem er seinem Verwalter Fitzpatrick mitteilte, dass der päpstliche Ruf ihn ereilt und er für sich keine andere Wahl gesehen hätte, als sich dem Feldzug der Streiter Christi anzuschließen, war alles, was Renald de Rein zugestanden wurde, um seinen Besitzstand zu sichern. Was während ihrer Abwesenheit tatsächlich damit geschehen, ob es Fitzpatrick auch weiterhin gelingen würde, die Pikten abzuwehren und dem kargen Land Erträge abzuringen, wusste niemand zu sagen. Guillaume war dies gleichgültig. Sein Interesse galt den Besitzungen auf dem Festland, die Flambard ihm in Aussicht gestellt hatte für den Fall, dass er seine Mission erfolgreich beendete. Sollte sein Vater ruhig den alten Zeiten nachtrauern – ihm, Guillaume, gehörte die Zukunft.

Mit drei Langschiffen waren sie von England nach der Normandie übergesetzt, und es hatte Guillaume in Hochstimmung gebracht, nach so langer Zeit endlich wieder den Boden seiner Väter zu betreten. Zwar war er noch ein Junge gewesen, als seine Familie die alte Heimat verlassen hatte, um dem König im fernen Northumbria zu dienen, doch er hatte sich nie an die Kälte, den Nebel und den Schmutz der Insel gewöhnen können und war nicht gewillt, jemals wieder dorthin zurückzukehren.

Was das Verhältnis zwischen Renald de Rein und seiner Gemahlin betraf, so hatte es sich seit jener Nacht im Turm von London nicht gebessert. Guillaume konnte dies nur recht sein.

Schon als Junge hatte er seinen Nutzen daraus gezogen, wenn seine Eltern uneins waren, und er hatte es stets verstanden, sich des Wohlwollens seiner Mutter zu versichern und sie auf seine Seite zu ziehen. Auch diesmal war es ihm gelungen, auch wenn der Preis dafür hoch und seine Mutter zu seinem zweiten Schatten geworden war.

Der einzige Trost war, dass Eleanor bei Weitem nicht die einzige Frau war, die Mann und Sohn auf dem Feldzug begleitete, der weiter und wohl auch länger wegführen würde als jede andere militärische Unternehmung zuvor. Selbst der Eroberer hatte seine Hand im Grunde nur auszustrecken brauchen, um über den Kanal nach Hastings zu gelangen und den Lügenkönig Harold Godwinson zu entmachten. Der Zug ins Heilige Land hingegen stellte eine Unternehmung dar, wie sie seit Jahrhunderten nicht unternommen worden war, und wenn Guillaume den religiösen Zielen des Feldzugs auch zweifelnd gegenüberstand, konnte er den politischen doch eine Menge abgewinnen. Sollten all diese Narren, die sich in Clermont versammelt hatten, ruhig glauben, dass ihr Schöpfer sie zu Höherem ausersehen hätte. Sollten sie getrost für ihr Seelenheil kämpfen und sterben – er, Guillaume de Rein, würde für sich selbst sorgen, nun, da er endlich die Chance dazu erhalten hatte …

»Wo sind wir hier?«, wollte er in energischem Tonfall von seiner Mutter wissen. Eine endlos scheinende Weile war er ihr durch unterirdische Korridore gefolgt, die vor langer Zeit in den Fels getrieben worden waren, auf dem die trutzigen Mauern von Burg Caen sich erhoben. Welchem Zweck sie einst gedient haben mochten – ob als Behausung, als Kerker oder als Grabstätte –, war nicht mehr zu erkennen. Im Grunde war es Guillaume auch gleichgültig. Er wollte nur wissen, woran er war.

»Warte es ab, Sohn«, antwortete Eleanor mit ruhiger Stimme. Ein Sklave namens Manus ging ihr auf dem Stollen voraus, ein Pikte, der bei einem Zusammenstoß mit den Barbaren in Gefangenschaft geraten war und seither als Leibeigener diente. Anders als die übrigen Sklaven des Hauses de Rein hatte Manus eine vorteilhafte Eigenschaft: Er besaß keine Zunge mehr. Renald de Rein hatte sie ihm herausschneiden lassen, nachdem er ihn bespuckt und beschimpft hatte. Seither war Manus die erste Wahl, wenn es um einen verschwiegenen Helfer ging.

Die Fackel, die der Pikte in seinen schwieligen Händen trug, verbreitete blakenden Schein, dennoch war ein Ende des Stollens nicht abzusehen, und mit jedem Schritt, den es weiter in die Tiefe ging, nahm der ekelerregende Geruch von Moder und Fäulnis zu.

»Ich will aber nicht mehr länger warten, Mutter«, sagte Guillaume. »Ich will endlich wissen, wohin du mich führst.«

»Wozu?«, fragte Eleanor über die Schulter zurück.

»Damit ich mich nicht fühlen muss wie ein unmündiges Kind, sondern selbst entscheiden kann, was ich tun möchte und was nicht«, entgegnete Guillaume in beleidigtem Stolz.

Mit einem knappen Befehl wies seine Mutter Manus an zu verharren. Auch sie selbst blieb stehen und wandte sich zu ihrem Sohn um. Das Gegenlicht der Fackel ließ ihre hagere Gestalt mit dem unförmigen Gebende um den Kopf furchteinflößend wirken. »Du möchtest also frei entscheiden? So wie damals, als du entschieden hast, zur Jagd auszureiten, und um ein Haar im Moor versunken wärst?«

»Damals war ich noch ein Knabe, Mutter, noch keine zehn Jahre alt.«

»Oder wie in London, als du in deinem Zorn beschlossen hast, deinen Trieben freien Lauf zu lassen und dich an einer Sklavin zu vergreifen?«

»A-an einer Sklavin?« Guillaume glaubte, nicht recht zu hören. »Mutter, wie kommt Ihr darauf, mir dies zu unterstellen?«

»Ich habe es an deinen Augen gesehen. Sie ist dir schon im Burghof aufgefallen, nicht wahr? Schon bei unserer Ankunft.«

»Aber ich …«

»Versuche nicht, es zu leugnen. Ich habe dich in die Welt gebracht, Sohn, und ich kenne dich besser als jeder andere. Und selbst, wenn es nicht so wäre – man brauchte dich in jener Nacht nur anzusehen, um zu wissen, dass du dich wie ein Schwein im Dreck gesuhlt hattest. Du kannst von Glück sagen, dass der König junge Männer zu schätzen weiß und an deinem Antlitz größeres Interesse fand als an deiner übrigen Erscheinung. Andernfalls wären wir wohl jetzt nicht hier.«

»Ich … ich …« Guillaume suchte nach Ausflüchten, aber ihm fielen keine ein. Es hatte den Anschein, als könnte seine Mutter geradewegs in seine Gedanken blicken, entsprechend fühlte er sich.

Entblößt.

Machtlos.

Anstelle einer Erwiderung ließ er den Kopf sinken, worauf Eleanors knochige Rechte ihm sanft über den Scheitel strich. »Guillaume«, sagte sie leise, »du bist mein Fleisch und Blut, und ich will nur das Beste für dich. Aber zumindest in dieser einen Hinsicht hat der Baron recht: Du musst erwachsen werden und lernen, Verantwortung zu übernehmen.«

Guillaume nickte, zögernd und gegen seinen Willen. Er hatte es satt, unablässig gemaßregelt zu werden und sich für das, was er war und tat, verantworten zu müssen. Aber sein Verstand sagte ihm, dass Gehorsam eine Notwendigkeit war, der er sich wohl oder übel beugen musste. Noch.

»Das werde ich, Mutter«, versprach er deshalb. »Aber wie soll ich das, wenn ich noch nicht einmal weiß, wohin wir gehen?«

»Zu Freunden«, erwiderte Eleanor rätselhaft. Dann wandte sie sich um und setzte den Weg durch den Stollen fort, Manus hinterher, der wieder mit der Fackel vorausging.

»Freunde?«, hakte Guillaume nach. »Was für Freunde treffen sich an einem Ort wie diesem?«

»Mächtige Freunde.«

»Ach ja? Wenn sie so großen Einfluss besitzen, warum verstecken sie sich dann in einem miefigen Loch wie diesem?«

»Sehr einfach, Guillaume – weil große Macht auch große Gefahren birgt. Und weil umwälzende Ereignisse oftmals im Verborgenen ihren Anfang nehmen. Du solltest nicht denselben Fehler begehen wie der Baron und mich unterschätzen.«

»Das tue ich nicht, Mutter«, beeilte Guillaume sich zu versichern.

»Oder glaubst du, dass es dein Verdienst sei, vom König mit dieser heiklen Mission betraut worden zu sein?«

»Nun, ich …«

Erneut blieb sie stehen und drehte sich zu ihm um. »Ich hatte alles geplant«, eröffnete sie ihm, wobei sie jedes einzelne Wort betonte und mit ihrem Augenspiel Nachdruck verlieh.

»Ihr hattet es geplant, Mutter?«

Eleanors Mundwinkel verzogen sich in nachsichtigem Spott. »Ich wusste von Anfang an, dass sich der Baron niemals auf Ranulfs Vorschlag einlassen würde, sei es aus falschem Stolz oder aus Unfähigkeit, das Notwendige zu begreifen. Du hingegen warst meine Hoffnung, Guillaume – und du hast sie nicht enttäuscht.« Sie trat auf ihn zu und legte eine Hand auf seine Wange, so wie sie es getan hatte, als er noch ein Knabe gewesen war. »Ich vertraue darauf«, fügte sie hinzu, wobei ihre grünen Augen ihn erneut durchdringend musterten, »dass du sie auch weiterhin rechtfertigst. Daran denke, wenn du diese Pforte durchschreitest.«

Erst jetzt merkte Guillaume, dass der Stollen zu Ende war. Im Halbdunkel, das jenseits des Fackelscheins herrschte, war eine schwere, metallbeschlagene Tür aus Eichenholz zu erkennen, die den Gang versiegelte.

Guillaume fühlte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten. Ein Schauder befiel ihn, dessen er sich nicht zu entledigen vermochte, gepaart mit leiser Furcht. Doch Eleanor schien noch immer nicht gewillt, ihm den Grund seines Hierseins zu erläutern.

»Geh nun hinein, Junge«, flüsterte sie, »und tue, was das Schicksal von dir verlangt.«

Als wisperndes Echo schwirrte ihre Stimme um Guillaumes Ohren, ehe sie sich in der Tiefe des Stollens verlor. Er machte einen unsicheren Schritt in Richtung der Tür. Als seine Mutter jedoch keine Anstalten machte, ihm zu folgen, hielt er inne.

»Werdet Ihr nicht mit mir kommen?«, fragte er.

»Nicht dieses Mal.« Wieder lächelte sie, und wie zuvor war unverhohlener Spott darin zu erkennen. »Mein Einfluss hat ausgereicht, um dir jene Tür dort zu öffnen, Guillaume. Aber als Frau ist es mir nicht gestattet, sie zu durchschreiten.«

Guillaume nickte. Der Gedanke, zu etwas privilegiert zu sein, schmeichelte ihm und beruhigte ihn ein wenig. Er unterdrückte seinen Wunsch, sofort zu erfahren, was sich auf der anderen Seite befand. Stattdessen atmete er tief ein und straffte seine hagere Gestalt. Dann trat er auf die Tür zu und klopfte dagegen.

Das dicke Holz schluckte das Geräusch, und einen Augenblick hatte es den Anschein, als wollte niemand öffnen. Dann waren leise, schlurfende Schritte zu hören, und eine dumpfe Stimme fragte: »Wie lautet die Losung?«

»Missi fato«, antwortete Eleanor, noch ehe Guillaume etwas erwidern konnte, und zu seiner Verblüffung konnte man im nächsten Moment hören, wie der Riegel auf der anderen Seite zurückgezogen wurde. Von einem metallischen Ächzen begleitet, schwang die Tür auf. Nachdem er seiner Mutter, die im Schein von Manus’ Fackel zurückblieb, einen letzten zweifelnden Blick zugeworfen hatte, trat er in das dahinterliegende Dunkel.

Er war noch keine fünf Schritte gegangen, als die Tür sich bereits wieder schloss. Dumpf und schwer fiel sie zu und sperrte den Fackelschein aus, sodass Guillaume schlagartig von Finsternis umgeben war. Panik wollte ihn überkommen, und er griff unwillkürlich zum Schwert, obwohl es ihm in der Dunkelheit kaum von Nutzen gewesen wäre.

»Tretet näher«, forderte ihn eine fremde Stimme auf, die sich seltsam dumpf anhörte.

Guillaumes Fäuste ballten sich in stillem Zorn, den er einerseits auf seine Mutter hegte, weil sie ihn in diese Situation gebracht hatte, andererseits aber auch auf die Veranstalter dieser sonderbaren Darbietung. Sie schien nur darauf ausgerichtet, arglose Besucher einzuschüchtern – und erfüllte diesen Zweck zu Guillaumes Ärgernis voll und ganz.

»Ich kann nichts sehen«, erklärte er, die Furcht in seiner Stimme durch Empörung vertuschend.

»Beati qui non viderunt et crediderunt«, sagte die Stimme. »Tretet näher, Guillaume de Rein.«

Guillaumes Verdruss steigerte sich noch. Nicht weil der geheimnisvolle Sprecher die Bibel zu zitieren wusste, sondern weil er ihn beim Namen genannt hatte und ihm damit ganz offenbar um einige Informationen voraus war.

Des Versteckspielens müde, fasste sich Guillaume ein Herz und trat vor, die eine Hand am Schwertgriff, die andere vor sich ausgestreckt wie ein Schlafwandler, um sich in der Finsternis voranzutasten.

Unvermittelt – er war noch keine drei Schritte gegangen – war ein Rauschen wie von schwerem Stoff zu vernehmen, und von einem Augenblick zum anderen lichtete sich die Dunkelheit.

Ein Vorhang, der das Gewölbe teilte, wurde von unsichtbarer Hand beiseitegezogen und gab den Blick auf den von Fackelschein beleuchteten Rest der Kammer frei.

Unter der niedrigen Decke, die von hölzernen, rußgeschwärzten Rippen getragen wurde, hatten sich acht Männer versammelt. Die Tatsache, dass sie alle in voller Rüstung waren, war überraschend und furchteinflößend zugleich.

Die Art ihrer Helme, die nicht spitz, sondern haubenförmig waren, und ihrer Kettenhemden, die bis zu den Knien reichten, jedoch unter wollenen Mänteln getragen wurden, ließ vermuten, dass es sich nicht um Normannen handelte, was die Situation noch bedrohlicher machte. Schon eher, vermutete Guillaume, handelte es sich um Lothringer oder Provenzalen. Den Kinnschutz ihrer Kettenhauben hatten die fremden Ritter hochgeschlagen, sodass von ihren Gesichtern nur die Augen zu sehen waren, die Guillaume musterten. Auf die Schulterpartien ihrer Umhänge waren Kreuze genäht, die sie als Teilnehmer des Feldzugs auswiesen. Ihre Schwerter trugen sie nicht am Gürtel, sondern hielten sie in den Armbeugen, wohl weniger, um ihre Verteidigungsbereitschaft zu signalisieren, als vielmehr als Symbol von Macht und Würde.

Guillaume fühlte sich gleichermaßen überrumpelt wie eingeschüchtert, aber er war bemüht, sich weder das eine noch das andere anmerken zu lassen. Der Worte seiner Mutter eingedenk, denen zufolge sie ihre ganze Hoffnung auf ihn setzte, kämpfte er die aufkommenden Fluchtgedanken mit aller Macht nieder.

»Guillaume de Rein«, sagte einer der Ritter, der wohl der Wortführer war. Sein Französisch wies einen südlichen Akzent auf und untermauerte Guillaumes Vermutung, was die Herkunft der Vermummten betraf. »Wie wir erfahren haben, begehrt Ihr Aufnahme in diesen erlauchten Kreis.«

»Das ist wahr«, bestätigte Guillaume vorsichtig. Was hätte er auch sonst erwidern sollen?

»Mit welchem Recht tut Ihr dies?«, wollte der Wortführer wissen – und Guillaume beschloss, sich ganz auf das Spiel einzulassen, das diese Leute offenbar mit ihm treiben wollten.

»Mit dem Recht der Geburt«, antwortete er so laut, dass es von der Gewölbedecke widerhallte. »In meinen Adern fließt vornehmes Blut, meine Herkunft ist ohne Tadel.«

»Das trifft auf alle zu, die sich an diesem Ort versammeln. Allein von nobler Herkunft zu sein genügt nicht, um Aufnahme in die Bruderschaft zu finden. Wichtig ist, sich unserer Sache zu verschreiben, mit ganzer Seele und ganzem Herzen.«

Bruderschaft?

Unsere Sache?

Fragen umkreisten Guillaume wie ein Schwarm lästiger Fliegen, ohne dass er eine Antwort fand. Wohin, in aller Welt, hatte seine Mutter ihn geschickt? Wer waren diese Ritter?

»Niemand, der diese Pforte durchschreitet«, fuhr der Vermummte fort, nun ein wenig versöhnlicher als zuvor, »tut dies leichtfertig oder ohne darauf vorbereitet zu sein. Von Eurer Mutter wissen wir, dass Ihr ein Mann von großer Tapferkeit und Tugend seid, Guillaume de Rein, und dass Ihr Euch nichts sehnlicher wünscht, als Eurem Glauben mit Eurer ganzen Macht und all Euren Fähigkeiten zu dienen.«

»Auch das ist wahr«, log Guillaume, diesmal ohne Zögern – während er sich gleichzeitig fragte, ob seine Mutter noch recht bei Verstand war. Sie kannte ihn schließlich gut genug, um zu wissen, dass er den Frömmeleien der Priester nichts abgewinnen konnte und dass er nicht zur Ehre Gottes an diesem Pilgerzug teilnahm, sondern einzig und allein, um den Auftrag zu erfüllen, den der König ihm erteilt hatte.

Schon als Knabe hatte er den Lehren des Epikur ungleich mehr abzugewinnen vermocht als jenen der Stoa, die Augustinus und andere Kirchenväter so wortreich für sich vereinnahmt hatten. Obschon er an der äußersten Grenze der Zivilisation aufgewachsen war, hatte seine Mutter dafür gesorgt, dass er nicht nur im Kriegshandwerk unterrichtet wurde, sondern auch Kenntnisse in lateinischer und griechischer Schrift und Sprache erhielt und in die Geistesgeschichte des Abendlandes eingeführt wurde. Seine Lehrer waren dabei ohne Ausnahme Mönche aus benachbarten Klöstern gewesen, die seinem Vater tributpflichtig waren – doch Guillaume hatte den Patres die Mühe, die sie in seine Ausbildung gesteckt hatten, schlecht gedankt. Seine pragmatische, auf Vorteil bedachte Gesinnung hatte in den kirchlichen Weisungen nur wenig, in der geschichtlichen Überlieferung dafür jedoch umso regere Inspiration gefunden. Irgendwann hatte er seinen Lehrern erklärt, dass sie ihm nichts mehr beibringen könnten, was er nicht schon wisse, und dass er lieber den Pfaden Augustus’ folgen wolle als jenen Augustins. Von diesem Tage an hatte er damit begonnen, sich seinen eigenen Glauben zurechtzuzimmern, in dem die heilige Dreifaltigkeit nur eine untergeordnete Rolle spielte und in dessen Zentrum vor allem einer stand: Guillaume de Rein.

Seine Mutter hatte ihn dabei stets bestärkt – ja, ihm geradezu eingeredet, dass er zu Höherem berufen und zu einem besonderen Schicksal ausersehen sei. Sein Vater hingegen hatte ihn stets wie einen Knecht behandelt, herablassend und ohne auch nur eine Spur von Anerkennung. In diesem Zwiespalt war Guillaume aufgewachsen, er hatte jeden seiner Schritte gleichermaßen beflügelt wie gehemmt. Doch dieser Tage nun schienen sich die Voraussagen seiner Mutter endlich zu erfüllen, und Guillaume war es gleichgültig, mit wem er dafür paktieren oder welche Eide er dafür schwören musste …

Der vermummte Ritter sprach erneut. »Viele begehren, in unsere Reihen aufgenommen zu werden, doch nur wenige sind dazu bereit. Um zu unserer Gemeinschaft zu gehören, bedarf es mehr, als die meisten zu geben bereit sind. Habt Ihr eine genaue Vorstellung von dem, was wir tun? Was unsere geheime Mission ist?«

»Nun, ich habe manches gehört, aber …«

»Die Bruderschaft verlangt Hingebung und Opferbereitschaft. Sie begünstigt und schützt die Ihren, aber ihr vorrangiges Ziel ist die Suche.«

»Wonach?«

»Vor allem nach Erfüllung, die jeder Einzelne von uns zu finden hofft. Jedoch auch nach jenen Stücken, die verlorengingen, als sich frevlerische Heidenhände der heiligen Stätten bemächtigten, und in denen sich mehr als in jedem anderen weltlichen Besitz die Gegenwart Gottes manifestiert: die heiligen Reliquien.«

»Die … die Reliquien«, wiederholte Guillaume. Er konnte es nicht glauben – seine Mutter hatte ihn zu einer Gruppe religiöser Eiferer geschickt!

»Die Mysterien des Glaubens«, drückte der Wortführer der Vermummten es anders aus.

»Ihr … Ihr sprecht von …«

»… von den materiellen Fundamenten, auf denen unser Glaube begründet liegt. Von jenem Kelch, den der Herr beim letzten Abendmahl reichte und nach dem schon so viele vor uns gesucht haben; von jenem Kreuz, an das er geschlagen und das für uns zur Erlösung wurde; und von jenem Speer, den der römische Hauptmann in seine Seite stieß.«

»Und Ihr glaubt, all diese Dinge wären tatsächlich zu finden?«, fragte Guillaume, der sowohl seine Verblüffung als auch seine Zweifel nicht länger verbergen konnte.

»Aus zuverlässiger Quelle wissen wir, dass sie existieren und sich noch immer im Heiligen Land befinden. Es ist unsere Aufgabe, sie den Heiden zu entreißen und der Christenheit zurückzugeben. Nicht zu unserem Ruhm, sondern nur zu dem des Herrn. Aber versucht nur für einen Augenblick, Euch vorzustellen, welcher Lohn denjenigen erwartet, der jene weltlichen Hinterlassenschaften findet und sie im Namen des Herrn wiederherstellt – und damit aller Welt beweist, dass unser Glaube der einzig wahre und das Himmelreich nahe ist.«

Guillaume stand wie vom Donner gerührt.

Auch wenn es weniger der unsterbliche Lohn war, der ihn reizte, als vielmehr jener der diesseitigen Welt, hatte der Vermummte fraglos recht. Wenn schon ein einziger päpstlicher Appell unter Edlen wie Gemeinen für solchen Aufruhr sorgte, um wie vieles mehr würde dann eine heilige Reliquie, ein handfester Beweis dafür, dass ihre Hoffnung nicht vergeblich war, den Glauben dieser armen Narren beflügeln? Wie Wachs würden sie in den Händen desjenigen sein, der ein solches Artefakt recht zu gebrauchen wusste. Sein Einfluss würde sich nicht nur auf die weltlichen Machthaber erstrecken, sondern auch auf jene der Kirche. Tore würden sich öffnen, die sonst verschlossen blieben, womöglich sogar im fernen Rom.

Die Möglichkeiten, die sich aus diesen Gedankenspielen ergaben, faszinierten Guillaume, und er begriff jäh, weshalb seine Mutter ihn an diesen Ort gebracht und ihren Einfluss geltend gemacht hatte, um ihn der Bruderschaft vorzustellen. Zum zweiten Mal innerhalb kürzester Zeit verschaffte sie ihm damit die Gelegenheit, seine Macht und seinen Einfluss sprunghaft zu erweitern, geradeso, als hätte sie all dies schon vor langer Zeit geplant. Dass sie dabei im Verborgenen gewirkt hatte und es Männern wie Renald de Rein oder Ranulf Flambard gestattete, sich weiterhin mit der Vorstellung zu betrügen, das Heft des Handelns selbst in den Händen zu halten, verstörte Guillaume, aber es rang ihm auch höchste Bewunderung ab.

Natürlich war ihm klar, dass dieses Bündnis nicht nur Vorteile brachte, dass die Bruderschaft auch Erwartungen an ihn haben würde, die sie durch sein Zutun erfüllt sehen wollte. Aber fraglos bot es ihm eine weitere Möglichkeit zu wachsen, und Guillaume wusste nun endlich, was er zu tun hatte, um diese Möglichkeit nicht ungenutzt verstreichen zu lassen.

»Eine heilige Aufgabe, fürwahr, und ich bin mehr als bereit dazu«, bestätigte er mit feierlicher Stimme.

»Seid Ihr auch bereit, dies zu beschwören und den feier­lichen Eid der Bruderschaft zu leisten?«

»Das bin ich«, versicherte er ohne zu zögern.

»So zieht Euer Schwert, Herr Ritter«, verlangte der Vermummte von Guillaume, der der Aufforderung bereitwillig nachkam. Er hielt die Waffe mit der Spitze nach unten und umfasste die Klinge ein Stück unterhalb der Parierstange, sodass sie an ein Kreuz erinnerte. »Wollt Ihr bei Eurem Glauben schwören, fortan Eurer ganzes Leben, all Eure Kraft und Euer Schwert in den Dienst der Suche zu stellen?«

»Ich schwöre«, erwiderte Guillaume.

»Wollt Ihr weiterhin schwören, über die Existenz dieser Bruderschaft und ihrer heiligen Aufgabe Stillschweigen zu bewahren und es auch bei Gefahr Eures Lebens nicht zu brechen?«

»Auch das schwöre ich.«

»Und wollt Ihr fürderhin geloben, Euren Waffenbrüdern die Treue zu halten, so wie Ihr Eurem Glauben und Gott selbst die Treue haltet?«

»Ich gelobe es.«

»So empfangt das Zeichen, das Euch zu einem der Unseren macht, Guillaume de Rein«, sagte der Wortführer und trat beiseite. Dadurch gab er den Blick auf einen schmiedeeisernen Korb frei, der zu Guillaumes Unbehagen mit glimmenden Kohlen gefüllt war. In der orangeroten Glut steckte ein Eisen.

Ungerührt schob der Vermummte sein Schwert in die Scheide zurück, griff nach dem Eisen und zog es heraus. Guillaumes Augen weiteten sich, als er das glühende Ende der etwa zwei Ellen langen Stange erblickte, das in Form eines Kreuzes gehalten war.

Ein Brandeisen!

Unwillkürlich machte er einen Schritt zurück, nur um festzustellen, dass zwei der übrigen Vermummten ihre Plätze verlassen hatten und nun hinter ihm standen. Ihren Augen, die zwischen Helmkante, Nasenschutz und Kettengeflecht hervorspähten, war nicht zu entnehmen, was sie fühlten. Aber sie waren ganz offenbar dazu da, ihn nötigenfalls an die Endgültigkeit des Schwures zu erinnern, den er soeben abgelegt hatte.

Guillaumes Atem beschleunigte sich, sein gehetzter Blick ging in Richtung des Anführers, der gemessenen Schrittes auf ihn zutrat, das Gluteisen in der Hand.

»Macht Euren rechten Arm frei, Herr Ritter.«

Guillaume merkte, wie ihm Schweiß auf die Stirn trat. Seine Augen zuckten in ihren Höhlen umher und suchten krampfhaft nach einem Ausweg, nach einer Möglichkeit, wie er sich diese Qual ersparen konnte – aber er fand keine. Was auch immer er sagen, was auch immer er unternehmen würde, würde nur seine Glaubwürdigkeit untergraben. Ob es ihm also gefiel oder nicht, er würde zu seiner Entscheidung stehen müssen, zumindest dieses eine Mal.

Obwohl er sich Mühe gab, sich seine Angst nicht anmerken zu lassen, bebten seine Hände, als er die rechte Hand ausstreckte und den mit einer gestickten Borte versehenen Ärmel der Tunika zurückschlug. Bleiche, nackte Haut kam darunter zum Vorschein, auf der kleine Schweißperlen standen und die in Erwartung des Schmerzes schon jetzt von roten Flecken übersät war.

Der Mann mit dem Eisen trat vor ihn. Sein prüfender Blick war so stechend, dass Guillaume das Gefühl hatte, er würde an seinem Hinterkopf wieder austreten.

»Von Bruder zu Bruder«, erklärte der Vermummte.

»Von Bruder zu Bruder«, wiederholte Guillaume, obwohl er dem anderen für das, was er ihm anzutun im Begriff war, lieber ins Gesicht gespuckt hätte.

Er vermied es, seinen Arm noch einmal anzusehen, und starrte stur geradeaus. Er spürte, wie die behandschuhte Rechte des Fremden seine Hand ergriff, wartete einen entsetzlichen, quälenden Augenblick lang – und dann kam der Schmerz, zusammen mit einem Zischen und dem ekelerregenden Gestank von verbrannter Haut.

Guillaume hätte seine Qual und die ohnmächtige Wut, die er empfand, am liebsten laut hinausgebrüllt. Stattdessen presste er Zähne und Lippen fest aufeinander, bis sein Mund zu einem dünnen, blutleeren Strich geworden war. Dass ihm Tränen in die Augen traten, konnte er allerdings nicht verhindern.

Die Sinne drohten ihm zu schwinden, so überwältigend war der Schmerz, zu seiner eigenen Enttäuschung jedoch blieb Guillaume bei Bewusstsein. Er zwang sich dazu, an sich herabzublicken, auf die noch schwelende Wunde, die der Vermummte ihm beigebracht hatte und die nun für immer auf seinem Unterarm prangen würde.

Das Symbol der Bruderschaft. Ein Kreuz, dessen vier gleich lange Arme sich nach außen verbreiterten.

»Signum quaerentium«, erklärte der Vermummte.

Guillaume nickte.

Das Zeichen der Suchenden.

Mit dem Rücken der linken Hand wischte er sich Tränen und Schweiß aus dem Gesicht. Sein Puls raste noch immer, und ihm war speiübel. Aber gleichzeitig empfand er auch Erleichterung – und Stolz. Das befriedigende Gefühl, etwas zu Ende gebracht zu haben, das er begonnen hatte.

»Nun denn«, sagte der Ritter, der das Wort geführt und ihm das Zeichen eingebrannt hatte. Er steckte das Eisen in den Korb zurück, dann gingen er und die anderen Vermummten dazu über, das Kettengeflecht von ihren Gesichtern zu lösen und die Maskerade zu beenden. Jetzt, da Guillaume einer der Ihren geworden war, bestand keine Notwendigkeit mehr, die Züge vor ihm zu verhüllen.

Unter dem Helm seines Peinigers kam ein ebenmäßiges Antlitz zum Vorschein, das leicht gebräunt war und dessen untere Hälfte von einem schwarzen, säuberlich gestutzten Kinnbart gesäumt wurde. Der schmale Mund lächelte schwach, die dunklen Augen, die das südländische Erbe verrieten, schauten Guillaume herausfordernd an.

»Eustace de Privas«, stellte er sich vor und bestätigte damit endgültig Guillaumes Vermutung, es mit Edlen aus dem Süden zu tun zu haben. Der Ritter mochte an die zehn Jahre älter sein als Guillaume, und obschon sich sein Lächeln verbreiterte und Freundschaft anzubieten schien, konnte Guillaume nicht anders, als einen Konkurrenten in ihm zu sehen.

Um Macht.

Um Einfluss.

Um Reichtum und Ruhm.

Dennoch legte sich auch über seine Züge ein Lächeln. »Ich danke Euch, Bruder Eustace, für die Gunst, die Ihr mir erwiesen habt – und zu den Schwüren, die ich bereits geleistet habe, füge ich noch einen weiteren hinzu und gelobe, dass ich Euch dies nie vergessen werde.«